VI. Kapitel- Ein langer Weg und ein Ziel

Vor diesem Tag hatte Lyanna noch nie einen Toten gesehen. Niemand hatte sie auf die leeren Augenhöhlen, den steifen Kiefer und die verdrehten Gelenke vorbereitet, niemand hatte sie vor den verzerrten Zügen gewarnt, mit denen der Wachmann die Pforte des Todes passieren musste und in denen sich nur eines widerspiegelte: Die pure Angst. Dieser Mann war nicht tapfer im Kampf gefallen oder friedlich im Schlaf gestorben, nein, er wurde feige hinterrücks erschlagen. Von dem Mann, in dessen Händen Lyannas Leben lag.

Schatten hatte versucht, ihr die Augen zu verdecken, damit ihr der Anblick der Blutpfützen, die sich bereits um die Wunden des Mannes gebildet hatten, erspart blieb, doch Lyanna hatte seine Hand weggeschlagen. Sie wollte selbst sehen, welche Opfer ihre Freiheit kostete. Ein Leben gegen das eines anderen. Ein guter Deal?

Schweigend lief das Mädchen neben Schatten her, der ihr zu verstehen gab, wann sie sich im Dunkel eines Schattens oder im Schutz einer Ecke verbergen mussten. Und so gelangten sie zermürbend langsam durch die finsteren Gänge, vorbei an unzähligen Zellen und Kammern. Schatten schien diesen Ort zu kennen, so sicher wählte er an jeder Wegbiegung die Richtung. „Schatten?", flüsterte Lyanna schließlich, „Wieso möchtest du mich eigentlich befreien? Wieso nimmst du dieses Risiko für ein Mädchen auf dich, das du doch gar nicht kennst?" Schatten sah sie verwundert an. Nachdenklich kniff er seine Augen zusammen, die mit ihrem schmutzigem Gelb so sehr denen einer Katze ähnelten. Dann antwortete er, leise und langsam: „Das ist eine lange Geschichte, zu lang und zu traurig um sie dir zu erzählen. Es war ein Auftrag, den ich schon lange erwartete. Mehr brauchst du momentan nicht zu wissen." „Und noch ein Mysterium in dem Berg aus Rätseln. Kann nicht eine Person einfach die klare Wahrheit erzählen?!", frustriert ließ Lyanna die Arme sinken, mit denen sie zuvor noch ihre kastanienbraunen Haare von dem Staub und Dreck der Keller befreit hatte. Schatten grinste. Und dabei fiel Lyanna auf dass er, trotz der ernsten Art, kaum älter als sie selbst sein konnte. „Glaub mir, diese Frage habe ich mir schon all zu oft gestellt", waren die einzigen Worte des jungen Mannes, bevor er wieder schweigend auf den grauen Boden blickte.

Nach einigen Minuten blieb Schatten plötzlich stehen. Angespannt bedeutete er Lyanna mit einer Handbewegung, es ihm gleichzutun. Angestrengt musterte er den Gang vor ihnen. „Wir müssten gleich an einer Luke ankommen", flüsterte er, „die uns in einen der Wachtürme an der Schlossmauer führt. Ab da können uns jederzeit Wachen begegnen. Du bleibst einfach hinter mir und tust was ich dir sage, verstanden?" Lyanna nickte. Und tatsächlich. Nach wenigen Schritten erreichten sie eine schwere, eiserne Luke.

Goldenes Sonnenlicht flutete Lyanna entgegen, als Schatten diese gekonnt öffnete, und liebkostet ihre müden Glieder. Mit einem Lächeln auf dem Gesicht genoss das Mädchen in das wärmende Gold, das sie während ihrer Gefangenschaft nur zu sehr vermisst hatte.

Und zum ersten Mal seit sich ihr Leben schlagartig geändert hatte, fühlte sie sich frei. Nichts konnte sie mehr von ihrer Freiheit trennen, keine Tür, keine Wand.
Hätte sie in diesem Moment doch schon gewusst mit wie vielen Leichen und sie vielen Opfern der Weg zum dem, was sie so sehr erstrebte, noch gepflastert sein würde. Hätte die gewusst wie viel Leid und Kummer durch ihre Hand geschehen würden. Dann hätte sie gewusst, das der Schatten ihr Schutz vor dem Licht bieten würde und sie lieber gefangen als schuldig sein wollte.
Dann hätten die Worte, scharf wie ein Messer, tödlich wie ein Schwert, ihren Sinn verfehlt, dann wäre ihr Schicksal keine Qual und ihre Freiheit keine Lüge gewesen.
Doch all dies wusste sie nicht. Doch ich weiß es.

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