V. Kapitel- Rettung und Rätsel
Mittlerweile musste sicher der erste Tag in den Kerkern vergangen sein. Wie ein Bach rann die Zeit dahin, mal so schnell, dass sie einen mit sich riss und mal so langsam, dass man fast denken könnte, sie stünde still. Es war schrecklich hier, allein, gefangen. An einem Ort ohne Sonne, Mond oder Sterne, ein Ort ohne Menschen oder Tiere, ein trostloser Ort der Lyanna Stück für Stück die Hoffnung raubte. Seit sie hier eingesperrt worden war, hatte sich die schwere Tür, die sie von der restlichen Welt trennte, kein einziges Mal geöffnet. Keine Wache war gekommen, um nach dem Mädchen zu sehen, niemand hatte ihr erzählt, was mit ihr geschehen würde. Das einzige, was ihr gesagt worden war, war, dass sie dieses steinerne Gefängnis erst verlassen würde, wenn sie, statt in einer Kammer gefüllt mit Stroh, in einer Kammer aus Gold sitzen würde.
Nachdem Lyanna in dem seltsamen Raum unter ihrer Zelle die geheimnisvolle Stimme gehört hatte, war sie auf einem Haufen aus goldgelben Stroh aufgewacht, die Wunden an ihren Beinen geheilt. Als wäre alles bloß ein Traum gewesen. Doch das Mädchen war sich sicher, dass ihr Abstieg ins Ungewisse reine Realität war. Seit dem hatte sie viel nachgedacht. Über die fremden Worte, ihren Schwur... Über all die Dinge die sie sich mit bloßem Verstand nicht erklären konnte. Doch die Grübeleien hatten zu nichts geführt. Ihre Lage hatte sich nicht verändert, nein, es war nur noch eine weitere Frage zu dem Scherbenhaufen aus Ungewissheit und Unklarheit gestoßen, der sich ihr Leben nannte.
Lyanna schreckte auf, als sie plötzlich einen gedämpften Schrei vernahm. Reflexartig blickte sie zur Quelle des Geschehens, die augenscheinlich hinter der Tür lag. Ängstlich duckte sich das Mädchen hinter den Strohhaufen, als schließlich langsam und mit einem leisen Knarzen, das schwere Portal aufschwang. Dann war es einige Sekunden still. Nur Lyannas flacher Atem drang ungleichmäßig an ihr Ohr. Schweißperlen standen auf der angespannten Stirn des Mädchens, ihre Hände zitterten. Dann, ganz plötzlich, hörte sie Schritte. Und diese nährten sich ihrem Versteck. Wer auch immer dort war, könnte niemals ein Wächter sein.
Lyanna hielt panisch die Luft an, als ein schwerer Stiefel den Strohhaufen, welcher sie verdeckt hatte, zur Seite schob. Ängstlich blickte sie auf und sah in das ernste Gesicht eines jungen Mannes.
„Lyanna, richtig?", die Stimme ihres Gegenüber war dunkel und hohl. Interessiert musterte der Mann das Mädchen. Immer noch zitternd und nicht in der Lage zu antworten, nickte Lyanna. „Steh auf, Lyanna, wir haben nicht viel Zeit.", der Mann steckte ihr seine Hand entgegen und Lyanna nahm sie zögernd. Behutsam zog er sie auf die Füße. Immer noch wortlos sah sie ihren Gegenüber fragend an. Der Mann hatte dunkle, schulterlange Haare und die Züge eines Kriegers. Sein Gesicht wurde von Ruß bedeckt und sein Körper von einem nachtschwarzen Mantel geschützt.
Mit zitternder Stimme stellte Lyanna eine einzige Frage. „Wer bist du?"
Der Mann lächelte. „Das tut nichts zur Sache. Nenn mich einfach Schatten, wie all die anderen auch. Und jetzt komm, ich habe den Befehl, dich hier raus zu holen." Etwas unsanft zog Schatten die verdutzte Lyanna mit sich, fort aus dem dunklen Kerker, der lange genug ihr Gefängnis dargestellt hatte.
Als sie sich ein letztes Mal umsah, fiel ihr Blick auf das Stroh, hinter dem sie sich eben noch verborgen hatte. Zwischen den gelben Bündeln, blitzten einige einzelne goldene Halme hervor.
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