10
Seit bereits der dritten Klasse ist Arina unsterblich in Jonathan Carter verliebt. Daniel weiß das, weil die beiden Geschwister früher oft Höhlen in ihren Zimmern gebaut haben und sich flüsternd Geheimnisse erzählt haben. Arina hatte damals sogar gemeint, dass sich sie und Jon schon geküsst hätten. Nur einmal und auf einer Geburtstagsfeier bei einem lächerlichen Spiel, aber sie hatten sich geküsst. Auf den Mund.
Damals hatte Daniel gekichert und seine Schwester gefragt, wie das denn so sei, einen Jungen zu küssen.
Arina hatte lauthals gelacht und fast ihre Eltern aufgeweckt. Als Daniel dann nachfragte, was denn so lustig sei, meinte Arina zu ihm, dass er das nicht wissen müsse. Er müsse nur wissen, wie es sich anfühle, ein Mädchen zu küssen.
Daniel hatte gefragt wieso und Arina hatte ihm erklärt, dass Mann und Frau einander lieben sollten.
Daniel hatte traurig nach unten geschaut, kurz geweint und sich von Arina trösten lassen.
Diese Szene hatte Arina total vergessen. Bis heute. Da fällt es ihr mitten in der Nacht wieder ein. Wie ein Flashback und sie würde sich gerne selbst schlagen, was sie dann auch tut. Nur leicht auf die Wange mit ihrer Handfläche, aber das soll auch nur symbolisch sein. Wie hatte sie damals ihren Bruder nur so einen Mist erklären können?
Ja, vielleicht lag das daran, dass es nun einmal das Häufigste war und dass sie damals noch neun war und nicht gewusst hatte, dass es auch anders geht und dass das nicht schlimm ist.
Immer wieder hat Arina in der folgenden Woche darauf Angst, sie sei der Grund für Daniels Verhalten. Sie habe ihn so gemacht, wie er jetzt ist.
Luther erzählt sie alles, aber dieser beruhigt sie dann und meint, sie könne nichts dafür. Das sei ein Gespräch unter Kindern gewesen und sie könne sich nicht dafür verantwortlich machen.
Als sie dann Jon auf dem Spielfeld trainieren sieht, zuckt sie kurz schmerzlich zusammen, weil er sie wieder daran erinnert.
Am nächsten Freitag hat Luther keine Zeit, um bei Arina zu sein, weil er für das nächste Spiel Extratraining hat. Deswegen verbringen Arina und Daniel den Nachmittag am Küchentisch, essen eine Kleinigkeit und dann liest Daniel irgendein Buch, während Arina auf ihrem Laptop tippt und im Internet surft.
Als sich Daniel räuspert, springt Arina fast vor Freude auf. Will er etwa etwas sagen?
„Wieso bist du eigentlich mit Luther zusammen, wenn du so sehr für Jonathan schwärmst?“, platzt es aus Daniels Mund heraus.
Arina grinst. Ihr Plan fängt langsam an zu funktionieren. „Wir sind nicht zusammen.“
„Ach nein? Aber dann verbringt ihr aber übermäßig viel Zeit miteinander...“, beobachtet Daniel und klappt sein Buch zu.
Er durchbohrt Arina fast mit seinen Blicken, aber seine Schwester kann diese Emotionen auf seinem Gesicht nicht richtig einschätzen.
Sie tippt etwas bevor sie antwortet. „Wir sind gute Freunde und ihm gefällt es hier.“
„Als ob“, nuschelt Daniel und schüttelt den Kopf. Er greift wieder zu seinem Buch.
„Wieso willst du das überhaupt wissen? Stört er dich?“
„Ja.“
„Und wieso? Er macht doch nichts.“
„Doch, er... er... nervt.“ Daniel sieht sie verzweifelt an und hat eine Träne in seinem Auge, die langsam seine Wange herunter rollt, als er seine Wimpern kurz zu schlägt.
Am liebsten wäre ihm Arina um den Hals gefallen, aber das darf sie nicht. Dann würde Daniel ausweichen oder weg rennen.
„Wieso nervt er dich, Daniel?“, erkundigt sie sich ruhig und schiebt den Laptop zur Seite.
Daniel stößt mit seinem Kopf auf den Tisch und schluchzt. „Er soll einfach verschwinden und dich in Ruhe lassen. Er soll wieder zurück nach England“, schnieft er und seine Schultern heben und senken sich, als er in seine Ärmel schluchzt.
Arina legt behutsam eine Hand auf Daniels rechte Schultern und streicht sanft darüber. Sie merkt, wie angespannt er ist und dass sie ihn jetzt wirklich umarmen kann.
„Schätzchen. Kleiner, komm mal her“, meint sie leise, steht auf und umarmt Daniel seitwärts, als sie auf dem Stuhl neben ihm Platz nimmt.
Er weint einfach weiter und schmiegt sich langsam an seine Schwester.
„Alles ist gut. Es ist doch nicht schlimm.“
„Nicht schlimm? Es ist schlimmer als du denkst! Du weiß nicht...“ Er hickst und holt tief Luft. „Du weißt nicht, wie sehr ich das alles hasse. Ich... er ist immer da und ich sehe ihn und dann... dann... Das ist nicht fair! Einfach nicht fair!“ Wieder weint er stärker und quetscht sich an Arina.
Diese streicht ihm beruhigend durch die blonden Locken, die ihren sehr gleichen.
Sie weiß nicht, was sie jetzt sagen soll. Dass Daniel das nicht so ernst sehen soll? Das ihn alle immer noch lieb haben? Dass Luther ihn mag? Was soll sie tun?
Deswegen sagt sie einfach nichts und lässt Daniel seine Tränen fließen lassen, bis er sich beruhigt.
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„Daniel? Kommst du mal?“, ruft Arina von ihrem Zimmer aus.
Daniel beißt sich auf die Unterlippe und grummelt. Er will aber jetzt nicht zu Arina und Luther ins Zimmer kommen. Er weiß, dass er sich dann blamiert und er will es vermeiden.
„Daniel? Bitte. Wir brauchen deine Hilfe“, jammert Arina.
Seufzend steht Daniel auf und macht sich auf den Weg in ihr Zimmer. Dort findet er wie gewohnt auch Luther vor und wird knallrot.
Die beiden sitzen an Arinas Schreibtisch vor ihrem Laptop.
„Wir müssen ein Referat machen, aber ich hab wieder vergessen wie PowerPoint funktioniert. Du kannst das doch so gut, da dachte ich mir, du könntest uns helfen“, erklärt Daniels Schwester lächelnd.
Schüchtern stampft er zum Tisch und beugt sich neben Arina zum Laptop. Er klickt einige schweigende Minuten auf der Maus herum und fängt an, ein bisschen was zu erklären.
Er weiß, dass es nur ein lächerlicher Vorwand war, aber er beugt sich dem Willen seiner Schwester, obwohl er noch nicht so recht weiß, was sie bezwecken will.
Irgendwann ist er fertig den beiden PowerPoint zu erklären und will wieder gehen, da hält Arina ihn am Arm fest. „Bleib doch eine Weile hier bei uns, ja?“, bettelt sie und blinzelnd schnell mit den Augenlidern.
Daniel seufzt und fragt sich jetzt ernsthaft, was sie erreichen will.
Will sie, dass es aufhört? Will sie, dass Luther es merkt? Will sie, dass er lockerer in seiner Gegenwart wird?
Also zuckt er mit den Schultern und setzt sich einsam aufs Bett.
Nach einer Weile, die Luther und Arina redend, schreibend und klickend verbringen, liegt Daniel unter der Decke und schläft fast. Er kuschelt sich an das einzige Kuscheltier, was Arina noch hat und dreht sich oft im Bett umher, weil er die ideale Position finden will.
„Fertig!“, tönt es freudig von Arina und sie wirft die Arme in die Luft.
Daniel bleibt einfach liegen und wartet was passiert. Soll er jetzt gehen?
Doch Arina und Luther stehen kurz im Raum, schieben dann eine DVD in den Player und setzen sich auf die leere Matratze vor Arinas Bett. Der Film fängt an und leise liegt Daniel da und schaut den Film mit. Er blickt auf Luthers Hinterkopf und bekommt rote Wangen, weil Luther wirklich hübsch ist und dann muss er fast weinen, weil er weiß, dass das alles idiotisch ist. Also vergräbt er sein Gesicht wieder in den Kissen und döst langsam weg.
Als er die Augen wieder öffnet, ist Arina weg. Nur Luther sitzt noch da, während eine der letzten Szenen des Films laufen.
„Wo ist Arina?“, fragt Daniel krächzend und setzt sich im Bett auf.
Luther dreht sich zu ihn um und lächelt. „Die ist nur kurz im Bad und kommt gleich wieder.“
Daniel nickt und bleibt auf dem Bett sitzen.
„Gut geschlafen?“
„Nein... Ja, doch irgendwie“, gibt er nuschelnd zu und versucht Luthers Blicken auszuweichen.
„Du bist niedlich, wenn du schläfst“, meint Luther fast flüsternd und lässt seinen Blick nicht von Daniel.
Daniel wird knallrot und zieht sich die Decke über den Kopf. „Du hast doch den Film gesehen.“
„Ja, aber dich habe ich auch gesehen“, lacht Luther leise. „Dir muss das nicht peinlich sein, das war ein Kompliment.“
Jetzt kann Daniel die Decke erst recht nicht aus seinem Blickfeld nehmen, weil jetzt nämlich wirklich eine Träne seine Wange runter rollt.
Luther ist so schön, weiß er das überhaupt? Und weiß er, was er Daniel für Hoffnungen mit diesem Kompliment macht? Das ist unfair!
„Daniel? Ist alles in Ordnung bei dir?“, fragt Luther und plötzlich merkt Daniel neben sich ein Gewicht und geht davon aus, dass Luther nun neben ihm sitzt.
Sachte versucht Luther Daniel von der Decke zu befreien und einen Blick auf sein Gesicht zu erhaschen, aber Daniel wehrt sich dagegen.
Bis er es irgendwann aufgibt, sich aber weg dreht, damit Luther diesen jämmerlichen Ausdruck auf seinem Gesicht nicht sehen muss.
Er spürt eine Hand an seinem Kinn und dann dreht Luther Daniels Gesicht zu sich. „Du weinst ja.“
Daniel versucht seine Hand wegzunehmen, doch Luther lässt das nicht zu.
Und irgendwie will Daniel das auch nicht, also, dass er die Hand wegnimmt, weil das eigentlich sehr schön ist und das bringt noch eine Träne zum Kullern und Daniel schämt sich einfach nur noch endlos dafür.
„Wieso weinst du? Was ist passiert? Habe ich was Falsches gesagt?“, flüstert Luther fragend und runzelt die Stirn.
„Halt dich...“ Daniel schluchzt kurz. „Halt dich lieber von mir fern.“ Er schluckt und schließt die Augen.
„Wieso sollte ich das denn?“
„Weil ich dich mag“, gesteht Daniel, als ob es etwas Schlimmes und Verachtenswertes wäre.
„Und was ist daran so schlimm?“
„Du verstehst das nicht. Das ist nicht nur mögen... das ist mehr. Bitte lass mich los.“ Wieder schluckt er und versucht sich erneut zu befreien.
Luther schüttelt den Kopf. „Was findest du daran so schlimm, mich zu mögen?“
„Bitte lass mich los, Luther.“
Luther löst seinen Griff und sieht Daniel traurig dabei zu, wie er aus dem Bett stolpert und aus der Tür in den Flur verschwindet.
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