Die Hoffnungslosigkeit
Irina war wieder in ihrem Zimmer angekommen und noch immer ganz beschwingt von dem wunderschönen Abend, den sie mit Valerie in diesem bezaubernden Restaurant verbracht hatte. Sie teilte Mike, dem heutigen Aufpasser auf ihrem Stockwerk mit, dass sie heute keine Freier mehr empfangen würde.
Auf jedem der sechs Stockwerke war durchgehend ein Mann auf Bereitschaft abgestellt, der aufpasste, dass nichts aus dem Ruder lief. Jede Hure hatte neben ihrem Bett einen Sicherheitsknopf, den sie drücken konnte, wenn ein Freier ungemütlich wurde. Dann ertönte draußen ein Signal und neben der Tür leuchtete eine kleine Lampe auf, sodass direkt ersichtlich wurde, dass im Zimmer etwas nicht stimmte und der diensthabende Wachmann eilte dann sofort zur Hilfe.
Irina öffnete ihr kleines Fenster, um ein wenig frische Abendluft in ihren kleinen Raum zu lassen und setzte sich mit der Tageszeitung bewaffnet auf die Fensterbank.
Schon seit Längerem hatte sie sich vorgenommen, sich außerhalb des Bordells ein kleines Zimmer anzumieten, in dem sie wohnen konnte. Die wenigsten Huren, die hier arbeiteten, hielten sich, so wie sie, die ganze Zeit über hier auf.
Ronny gestattete ihr zwar, dass sie hier richtig wohnen konnte, hatte ihr aber schon in ihren ersten Tagen geraten, sich etwas eigenes zu suchen und nur zum reinen Arbeiten herzukommen, um auch mal ein bisschen Abstand vom Gewerbe zu haben.
Irina wollte jedoch gerade in ihrer Anfangszeit so viel Geld wie möglich für ihre Familie ansparen und so wenig, wie es nur ging, für sich selbst ausgeben.
Es war auch okay für sie gewesen, sie hatte sich daran gewöhnt, dass das hier so etwas wie ein Zuhause für sie war, aber gerade heute, als sie im Restaurant gespürt hatte, dass es auch noch ein Leben außerhalb des Bordells gab, wurde der weitestgehend immer unterdrückte Drang, auch mal völlig für sich zu sein, ohne dass jeden Moment der nächste Freier zur Tür rein kommen konnte, immer größer.
Auf jedem Stockwerk gab es zwar Sicherheitspersonal, dem man Bescheid sagen konnte, wenn man mal eine Pause brauchte, aber trotzdem hatte man nie das Gefühl, sich völlig entspannen zu können. Die Wände waren nicht besonders dick und zudem ziemlich hellhörig, sodass man zwangsläufig auch während einer Auszeit den anderen Mädchen beim arbeiten zuhören musste.
Als Irina die Preise für die Zimmer und Wohnungen sah, schluckte sie schwer. Das war weitaus mehr, als sie bereit war, für eine Unterkunft auszugeben. Außerdem kamen auch nicht alle Wohnungen für sie in Frage. Bei größeren Immobilienmaklern konnte sie es von vornherein vergessen und auch die meisten privaten Vermieter verlangten heutzutage eine Schufa-Auskunft. Da Irina ja gar nicht in Deutschland gemeldet war, musste sie jemanden finden, der die Miete in Bar akzeptierte und keine Fragen stellte. Sie konnte sich nicht vorstellen, dass sie da so schnell Glück haben würde. Sie hatte ja noch nicht einmal, wie ursprünglich geplant, einen Putzjob oder ähnliches ohne Papiere bekommen, da sähe es mit einer Wohnung wohl noch schlechter aus.
Sie legte die Zeitung wieder auf die Seite und nahm sich vor, eben in der nächsten Ausgabe wieder nachzuschauen, ob was brauchbares dabei sein würde, auch wenn sie ihre Chancen als sehr gering einschätzte. Sie brauchte ja eigentlich nicht viel und hatte keinerlei Ansprüche. Hauptsache, es wäre nicht gerade die letzte Bruchbude, und sie hätte ein eigenes Bad für sich und kein Gemeinschaftsbad, wie sie es in ihrer Heimat schon einmal gehabt hatte.
Bevor Irina nach Deutschland aufbrach, hatte sie zuletzt in einem riesigen, sechzehnstöckigen Gebäude gelebt. Auf jedem Stockwerk hatten sich zwölf kleine Appartements befunden und jeweils sechs mussten sich ein Gemeinschaftsbad, mit zwei Toiletten und zwei Duschen, teilen.
Es gab natürlich keine Putzfrau, die für Sauberkeit sorgte und da in dem Haus eher jeder für sich lebte und es im allgemeinen sehr anonym war, machte sich auch keiner ihrer gesichtslosen Nachbarn die Mühe, das Bad zu reinigen. Schon alleine bei der Erinnerung an den Anblick und den Geruch der versifften Klos und verschimmelten Duschen bekam Irina Brechreiz. Letztendlich hatte sie es dort nur drei Monate ausgehalten und jede einzelne Stunde davon war mehr, als man einem Menschen zumuten konnte.
Aber es war damals nicht anders gegangen. Ihre Mutter hatte unbedingt gewollt, dass Irina sich nicht die ganze Zeit über um ihre kranken Eltern kümmerte. Sie wünschte sich für ihre Tochter, dass sie ein eigenes Leben hatte und sich nicht rund um die Uhr für ihre Familie verantwortlich fühlte. Irina hatte sich mit Händen und Füßen dagegen gewehrt, Geld für eine eigene Wohnung auszugeben. Sie hatte in ihrem Elternhaus in einem winzigen Speicher geschlafen und es war für sie einigermaßen okay gewesen. Da sie jedoch irgendwann nicht mehr gegen die flehenden Bitten ihrer Mutter ankam, hatte sie sich eben das billigste gesucht, was damals auf dem Markt zu haben war und gab auch weiterhin jedes bisschen Geld, das sie hatte, an ihre Familie weiter.
Auch, wenn ihre Eltern jeden Tag ein schlechtes Gewissen deshalb hatten, blieb ihnen am Ende nichts anderes übrig, als ihr Geld anzunehmen. Die medizinischen Behandlungen der Eltern fraßen zu viel Geld auf, sodass für Irinas Geschwister nicht genug übrig blieb, damit sie ein einigermaßen erträgliches Leben führen könnten.
Irina schüttelte den Kopf und versuchte, die Bilder ihrer vorherigen Unterkunft aus ihren Gedanken zu verbannen. Sie sah sich jetzt ihr kleines Zimmer im Bordell genau an und fand es jetzt ganz und gar nicht mehr schlecht. Es war sauber, es war relativ gemütlich und offen gesagt hatte sie noch nie zuvor irgendwo so komfortabel gelebt, wie hier.
Da machten ihr auch die Freier, die manchmal während einer Pause klopften, weil das Sicherheitspersonal kurz unachtsam war, nichts mehr aus. Was blieb ihr auch anderes übrig, bei diesen hoffnungslosen Aussichten?
Auch heute klopfte es wieder an ihrer Tür, obwohl sie ausdrücklich darum gebeten hatte, niemanden zu ihr durchzulassen. Sie stand von der Fensterbank auf und öffnete die Tür. Sie staunte nicht schlecht, als da tatsächlich dieser Benni vor ihr stand. Offenbar hatte er nicht damit gerechnet, dass sie so schnell an der Tür sein würde und zuckte erschrocken zusammen, während er sein Portemonnaie einsteckte. Irina warf einen kurzen Blick ans andere Ende des Flurs und sah, wie Mike sich ein grünes Scheinchen in die Hemdtasche steckte. Darum hatte Benni also zu ihr durchdringen können. Mike zog entschuldigend die Schultern hoch und Irina warf ihm einen giftigen Blick zu, der auch Benni nicht entging.
Bennis Herz schlug ihm bis zum Hals. Jetzt stand er vor ihr. Doch was sollte er jetzt bloß sagen? Soweit hatte er gar nicht gedacht. Irgendwie hatte er gehofft, dass sie heute keinen Dienst haben würde und er sie deshalb gar nicht antraf. Dann könnte er sich wenigstens sagen, dass er es versucht hatte und die Sache abhaken.
„Was willst du hier?", fragte Irina und musterte ihn skeptisch von oben bis unten.
„Ich... ähm... darf ich reinkommen?", fragte Benni unsicherer, als er hatte wirken wollen.
Irina machte sich im Türrahmen etwas breiter und zog gleichzeitig die Tür ein Stück mehr zu. „Ich arbeite gerade nicht. Komm von mir aus morgen wieder."
„Ich will gar nicht fick... also Sex. Geschlechtsverkehr. Will ich gerade gar nicht", antwortete Benni und biss sich in Gedanken für sein bescheuertes Gestammel in den Arsch.
„Das ist mir auch vorhin schon aufgefallen, dass du das nicht willst", erwiderte Irina verbittert.
Sie konnte sich absolut keinen Reim darauf machen. Vorhin hatte er im Restaurant versucht, jeden Blickkontakt zu vermeiden, obwohl er genau sah, dass sie seine Anwesenheit bemerkt hatte. Aber auf der anderen Seite war er anscheinend mit seiner Freundin dagewesen und es war klar, dass er nicht gewollt hatte, dass diese eine Verbindung zwischen Irina und Benni herstellen konnte.
Ihre Dienste waren vorher am Tag unter seinem hohen Niveau gewesen und er war so schnell abgehauen, dass er sich auf der Treppe fast überschlagen hatte. Was zur Hölle wollte er also jetzt noch von ihr?
„Ich wollte... also...", redete Benni weiter. Dann stoppte er und sah sie abwartend an. Irina blickte ihn einmal von oben bis unten an. Sie sah den Anzug, der wahrscheinlich so viel kostete, wie eine ganze Monatsmiete. Sie sah die Uhr, die stärker glitzerte, als so mancher Stern am Nachthimmel. Sie sah sein Gesicht und erinnerte sich an die arrogant hochgezogene Augenbraue, als er früher am Tag an der Bar gesessen und die Mädchen gemustert hatte, die dort saßen.
Dann erinnerte sie sich daran, wie er vom Bett aufgesprungen war, seine Hose hektisch hochgerissen hatte und ihr den Schein wie einem Stück Vieh auf den Boden warf. Irina beschloss, sich gar nicht erst anzuhören, was er sagen wollte und schlug dem verdutzen Benni die Tür vor der Nase zu.
Mike kam sofort durch den Flur geeilt und packte Benni am Ellbogen, um ihn Richtung Treppenhaus zu geleiten.
„Ey, ich hab dir zweihundert Euro gezahlt, dass du mich durchlässt. Schon vergessen?", jammerte er unter dem schmerzhaften Griff des Türstehers.
Mike lachte auf. „Na ich hatte dich doch durchjelassen, wat danach passiert, liegt nich in meiner Hand."
Unten angekommen strich Benni seinen Anzug glatt und machte sich hocherhobenen Hauptes wieder auf den Weg zu seinem Audi, den er direkt neben der Tür auf dem Behindertenparkplatz abgestellt hatte. Er wäre nicht er, wenn er es einfach hierbei belassen würde.
Das hier war noch lange nicht vorbei, dachte er, während er seinen Motor aufheulen ließ und zurück in seine persönliche kleine Hölle fuhr.
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