Die Erkenntnis
Valerie starrte diesen Typen dort ein paar Meter weiter interessiert an. „Aha, das ist also der Kerl, der dir die hundert Euro auf den Boden geschmissen hat und dann abgehauen ist?"
„Schau doch da nicht so hin", zischte Irina. „Ja, das ist er. Jetzt dreh dich um, bevor er sieht, wie du ihn anstarrst!"
Valerie widmete sich wieder ihrem Weißwein und grinste. „Ich finde das ja immer so süß, wenn man die Kerle außerhalb beobachtet. Wie er jetzt mit seiner Freundin am Tisch sitzt und so tut, als wäre nichts gewesen. Wahrscheinlich glaubt er, wenn er sie jetzt zu einem Essen einlädt und ein bisschen freundlich zu ihr ist, ist die Sache wieder gut. Und sie sitzt da und hat einfach keine Ahnung, warum sie heute hier ist."
Irina schaute unauffällig zu dem Tisch, wo Benni und seine Begleitung gerade von einem freudestrahlenden Kellner einen ziemlich teuer aussehenden Wein aufgetischt bekamen. Im Grunde unterschied die Frau an diesem Tisch sich nicht sonderlich von manchen Mädchen, die im Bordell arbeiteten. Ihr Haar hatte eine sehr unnatürliche Farbe, die Hälfte ihres Make-Ups wäre immer noch zu viel gewesen und ihr Körper steckte in einem Kleid, das trotz ihrer sehr schlanken Figur, eine Nummer zu klein zu sein schien.
Es war ziemlich offensichtlich, dass sie sich für Benni so in Schale geworfen hatte. Ebenfalls offensichtlich war die Tatsache, dass diesen das so gar nicht interessierte. Wenn sie ihn ansprach, schaute er lediglich kurz nach oben, nickte und widmete sich dann wieder seinem Smartphone, auf dem er unablässig beschäftigt herumtippte. Ab und zu verdrehte die Frau die Augen, aber Benni sah das natürlich nicht. Erst, als sie sich über den Tisch beugte und ihm das Telefon aus der Hand nahm, hatte sie seine Aufmerksamkeit.
Ab und an rang er sich ein mildes Lächeln ab, sah sich aber die meiste Zeit beim Gespräch mit ihr im Raum um. Dabei wanderten seine gelangweilten Augen überall hin, nur den Tisch von Irina und Valerie ließ er aus.
Benni hoffte, dass dieser Abend bald ein Ende nehmen würde. Musste diese Nutte ausgerechnet heute in das gleiche Restaurant gehen? Manchmal, so glaubte er, mochte ihn sein Leben einfach nicht und ging eine schmutzige Verbindung mit dem Schicksal ein, um ihn kräftig in den Arsch zu ficken. So kam er sich jedenfalls gerade vor.
Das Essen ließ auch ewig auf sich warten. Benni stellte sich vor, dass der Kellner nach Aufnahme der Bestellung hektisch in die Küche gerannt war, die Arme in die Luft gerissen, und verkündet hatte, dass tatsächlich jemand in dieser Spelunke „das Steak" bestellt hatte. Im Anschluss wurde dann bestimmt der Lehrling losgeschickt, um das Stück Fleisch erst noch zu kaufen und jetzt stand dieser irgendwo an der Kasse eines Supermarktes, während Benni in einem Sirup aus nicht enden wollender Zeit feststeckte.
Er beugte sich über den Tisch und eroberte sein Smartphone zurück, um zu sehen, dass Timi ihm geschrieben hatte. Dieser wollte wissen, ob die Sache mit den Blumen geklappt hätte. Benni schnaubte und legte sein Handy wieder zur Seite, ohne ihm zu antworten.
Je länger er da saß, umso unwohler fühlte er sich. Er hatte gehofft, nie wieder daran erinnert zu werden, dass er seinen Astralkörper fast auf einer Prostituierten abgelegt hatte. Stattdessen saß sie jetzt wenige Meter von ihm entfernt und er spürte, wie sie ihn immer wieder ansah. Auch die Bardame, die sie begleitete, starrte ihn immer wieder an.
Die beiden hatten über ihn geredet, da war er sich ganz sicher. Er stellte sich vor, wie sie über ihn lästerten. Für sie hatte es bestimmt so ausgesehen, als ob er keinen hochbekommen hätte und er deshalb abgehauen war. Darüber amüsierten sich die Damen nun garantiert köstlich.
Wahrscheinlich war es nur eine Frage der Zeit, bis Eva das mitbekommen würde. Sie hatte schon immer ein kleines Eifersuchtsproblem gehabt und sah auch dann Zeichen, wenn gar keine da waren. Manchmal reichte nur ein einziger Blick von einem Mädchen auf der Straße, dass sie ausflippte. Auch, wenn Mitarbeiterinnen in irgendwelchen Läden für ihren Geschmack zu freundlich zu ihm waren, sah Eva direkt einen Flirt darin.
Er selbst sah kein Problem dabei, zu Frauen freundlich zu sein. Er ließ sich vielleicht sogar mal auf so etwas wie einen kleinen Flirt ein, aber mehr auch nicht. Eva konnte in dieser Hinsicht schon ganz schön übertreiben.
Doch seitdem er durch Plan B ein bisschen bekannter geworden war, konnte er ihr seit neuestem in brenzligen Situationen einfach auftischen, dass das nur Fans seien, die ihn anschauten. Und er konnte ja nicht extrem unfreundlich zu seinen Fans sein. Das verstand Eva dann einigermaßen und das machte ihm das Leben mit ihr in vieler Hinsicht leichter. Vielleicht würde das ja hier im Notfall auch funktionieren, wenn er ihr diese beiden Mädchen einfach als Fans verkaufte, sollte dieses Gestarre nicht bald aufhören.
Benni hätte vor Erleichterung am liebsten laut aufgeschrien, als der Kellner endlich mit den Tellern in der Hand auf ihren Tisch zusteuerte. Er hatte vor, sein Essen so schnell wie möglich runter zu schlingen, um sich danach für eine Zigarette, die so lange dauern würde, bis Eva aufgegessen hatte, nach draußen zu verziehen.
Wenige Augenblicke später bekamen auch Valerie und Irina ihr bestelltes Essen. Irina konnte gar nicht so richtig glauben, was sie da auf dem Teller vor sich hatte. Es war das schönste Steak, das sie jemals gesehen hatte. Es sah nicht so trocken aus, wie das Fleisch, das sie sonst so aß. Es hatte die perfekte Dicke, war leicht gebräunt und hätte durchaus als Cover für ein Kochbuch herhalten können. Die Kartoffelspalten, die sie dazu bestellt hatte, lagen nicht einfach nur auf dem Teller. Sie waren sternförmig angeordnet worden und in der Mitte war eine Rose, geformt aus dünn geschnittener Salatgurke.
Als sie den ersten Bissen abschnitt und ihn auf der Zunge zergehen ließ, wäre sie fast ohnmächtig von diesem Geschmackserlebnis, das sich ihr da bot, geworden. Ihr war es jetzt egal, dass dieser Benni auch hier im Raum war und sie blendete ihn einfach aus. Dieses Erlebnis würde sie sich durch nichts und niemanden zerstören lassen.
Benni seufzte, als er seinen Teller vorgesetzt bekam. Eigentlich stand er darauf, wenn sein Essen, genauso wie alle anderen schönen Dinge, mit denen er sich täglich so umgab, hübsch hergerichtet wurde. Doch beim Anblick von diesem kläglichen Versuch hier fragte er sich, ob man ihn verarschen wollte. Das erinnerte ihn mehr an einen Kindergeburtstag, als an gehobene Küche. Als er ein Kind war, hatte seine Mutter sogar schönere Pausenbrote für ihn geschmiert. Er musste ein wenig lächeln, als er sich daran zurückerinnerte, wie seine Mutter ihm oft kleine Brothäppchen in Form von Star Wars Figuren ausgestochen hatte.
Seufzend nahm er sein Besteck in die Hand und schnitt sich den ersten Bissen ab.
„Was ziehst du denn für ein Gesicht?", fragte Eva, als sie sich über irgendein Nudelgericht mit Trüffeln hermachte.
„Nichts, alles gut. Bin nur froh, wenn wir hier wieder draußen sind."
Eva schluckte ihre erste Gabel und machte einen einigermaßen zufriedenen Gesichtsausdruck. „Naja, der Brüller ist es hier nicht, aber ich muss jetzt auch nicht in Tränen ausbrechen. Iss halt auf, dann gehen wir ja wieder."
Bennis Plan, sein Essen so schnell wie möglich zu bewältigen, scheiterte an der Konsistenz des Fleischs. Irgendwie schien seines etwas zu lange auf dem Grill gelegen zu haben und es war so zäh, dass er viel zu viel Zeit zum Kauen brauchte. Geschmacklich war es allerdings etwas besser, als er gedacht hatte, weswegen er sich aufgrund seines großen Hungers dann entschlossen hatte, es trotzdem ganz zu essen, bevor er sich später noch wo anders etwas holen musste.
Er kaute angestrengt und Eva textete ihn zu. Anhand des Tons ihrer Stimme erkannte er, dass sie gerade nur wieder irgendwelche Gerüchte aus der Uni erzählte. Darum nickte er ab und an und tat nur so, als ob er auch auf den Inhalt achten würde. Eva erzählte ihm immer von zig verschiedenen Typen und Weibern, die im wöchentlichen Wechsel immer mit irgendjemand anderem was hatten, weswegen X nicht mehr mit Y redete und Z darum Krach mit X anfing und so weiter. Selbst, wenn er ihr aktiv zuhörte, kam er bei diesen Geschichten nicht mit. Aber das musste er im Endeffekt auch nicht, weil Eva ihn sowieso nie nach seiner Meinung dazu fragte.
Da Irina so abgelenkt von ihrem Essen war, traute sich Benni ab und zu, zu ihr rüber zu sehen. Im Gegensatz zu ihm schien sie das richtig zu genießen. Er sah sofort, dass der Besuch hier etwas besonderes für sie war. Er fragte sich, warum das wohl so war.
Die Preise im Bordell waren jetzt nicht horrend hoch, aber auch bei weitem nicht billig. Bekamen die Mädchen wirklich so viel von Ronny abgezogen, dass sie sich sogar nicht einfach mal so einen Besuch im Restaurant leisten konnten?
Benni wusste allerdings auch, dass viele Prostituierte ihren Job nur mit dem Konsum von harten Drogen ertrugen. Bei diesen wurde das Geld, sobald sie es in den Händen hielten, meist direkt in den nächsten Schuss investiert und weniger in Essen.
Nur wollte die Vorstellung davon, dass auch Irina ihre Tage nur zugedröhnt überstand, nicht so recht zu der Person passen, die da voller Lebenslust ihr Steak verdrückte. Sie sah eigentlich viel zu frisch und viel zu gesund dafür aus.
Jetzt im Moment wirkte sie eher wie ein ganz normales Mädchen und man würde niemals darauf kommen, was für einen Job sie ausübte. Benni konnte sich nicht so recht erklären, woher es auf einmal kam, aber er hatte das Bedürfnis, mehr über die Beweggründe, die sie in diesen Job getrieben hatten, herauszufinden.
Sie sah gut aus und anhand der paar Worte, die sie gewechselt hatten, hatte er erkannt, dass sie nicht gerade so dumm war, dass sie nichts anderes machen könnte.
Zu diesem Interesse kam dann natürlich auch noch sein schlechtes Gewissen. Er hatte nicht nur ein schlechtes Gewissen Eva gegenüber, weil er im Bordell war. Er hatte jetzt auch ein schlechtes Gewissen diesem Mädchen gegenüber, das sich so ehrlich und offen über diesen Restaurantbesuch freute. Eine solche Freude hatte er bei Eva beispielsweise schon lange nicht mehr gesehen. Sie nahm mittlerweile alles für selbstverständlich und er konnte sie nur noch mit extrem teuren Dingen zum lächeln bringen. Dass ein Mensch sich über solche kleinen Dinge freuen konnte, kam ihm mit einem mal sehr erstrebenswert vor. Er fragte sich, ob er zufriedener mit seinem Leben wäre, wenn auch ihm die kleinen Dinge schon reichen würden.
Er war nicht unbedingt als sensibler Typ bekannt, aber er behandelte Frauen auch nicht vorsätzlich schlecht. Und bei diesem Mädchen hatte er das definitiv getan. Er hatte sie als reine Ware gesehen, die man stundenweise mieten konnte und weniger als einen Menschen, was ihm erst jetzt so richtig bewusst wurde. Und dieser Gedanke störte ihn nun gewaltig.
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