Das Wiedersehen
Ansprechen oder ignorieren?
Das war die Frage, die sich Benni stellte, als er ein paar Servierten von dem Pizzastand geholt hatte, in dessen unmittelbarer Nähe Irina stand.
Eva würde jedenfalls erst einmal ein paar Minuten wegbleiben, das war sicher. Es war ihr teuerster Mantel, auf den sie stets gut aufpasste. Also würde sie so lange daran herum schrubben, bis absolut nichts mehr von dem verschütteten Glühwein zu sehen oder zu riechen sein würde.
Das, was Irina ihm vor einigen Wochen erzählt hatte, beschäftigte Benni zwar nicht mehr so stark wie unmittelbar nach ihrem Gespräch, aber dennoch hatte er sie nicht komplett vergessen können. Wann immer er an einem Bordell vorbei gefahren war, kam sie ihm in den Sinn und er fragte sich sofort, was hinter den Mauern des Hauses, in dem sie arbeitete, gerade vor sich ging.
Nachdem sie ihm so viel über sich erzählt und sich ihm gegenüber so weit geöffnet hatte, kam ihm der Gedanke, sie nun einfach zu ignorieren ziemlich falsch vor.
Aber über was sollte er mit ihr reden? Eigentlich hatten sie ja nichts gemeinsam und Benni wusste auch nicht so recht, was dabei herauskommen sollte, wenn er sie nun ansprach.
Trotzdem interessierte es ihn, wie es ihr in der letzten Zeit so ergangen war. Vielleicht könnte er sie einfach mal kurz und knapp fragen, wie es ihr gerade ging und sich anschließend schnell wieder verabschieden.
Vielleicht hatte sie ihn ja auch schon hier auf dem Weihnachtsmarkt entdeckt.
Benni versuchte sich vorzustellen, wie er sich da an ihrer Stelle fühlen würde. Wahrscheinlich wäre es ihm unangenehm, einfach ignoriert zu werden.
Er überlegte noch kurz, dann lief er tatsächlich zu Irina und tippte sie an der Schulter an. Da sie sich nicht erschrak oder irgendwie verwundert zeigte, schloss er daraus, dass sie ihn wohl tatsächlich schon vor Längerem bemerkt haben musste.
„Hallo", sagte sie und lächelte ihn ein wenig unsicher an.
„Hi", gab er zurück.
Es entstand eine kurze Pause, gefüllt mit peinlichem Schweigen, die glücklicherweise durch das nächste Lied des Gospelchors auf der kleinen, hübsch beleuchteten Holzbühne unterbrochen wurde.
„Du bist ziemlich weit weg von deinem... also... wo du... wohnst", sagte Benni nach einer Weile und zupfte an seinem Mantel herum, während er Irina musterte.
Der Mantel, den sie trug, war für seinen Geschmack etwas zu dünn für die eisigen Temperaturen.
„Ich habe ehrlich gesagt keine Ahnung, wo ich hier genau bin. Ich bin einfach gelaufen", antwortete sie. Ihre Stimme zitterte dabei ein wenig, also musste ihr tatsächlich sehr kalt sein.
„Du bist in Charlottenburg. Ich wohne hier ganz in der Nähe."
Irina grinste ein bisschen. Natürlich wohnte er in diesem Teil Berlins. Als sie vorhin den Kurfürstendamm entlang geschlendert war, hatte sie beim Anblick der ganzen Luxusboutiquen ganz automatisch an Benni denken müssen und sich gefragt, ob er hier manchmal Geschenke für seine Freundin kaufen ging, oder auf der Suche nach seiner zwanzigsten Rolex lässig durch diese Läden flanierte.
„Die Frau die vorhin bei dir stand... ist das deine Freundin?"
Benni schaute ein wenig herum, ob Eva schon wieder in der Nähe war. „Ja, genau. Das ist meine Freundin."
„Sie passt zu dir", sagte Irina und ging einen Schritt zur Seite, um ein wenig mehr unter dem Heizpilz an ihrem Tisch zu stehen.
„Warum?", fragte Benni und rückte ihr nach.
„Na wie sie angezogen ist und so. Alles an ihr sieht teuer aus."
Benni seufzte. „Ja, kann sein. Aber weißt du, seit ich mit dir geredet habe... oh."
Eva schien mit ihrer Mantelrettungsaktion fertig zu sein und schaute sich ein paar Meter weiter suchend nach Benni um.
„Bist du noch länger hier?", fragte er und rieb seine Hände aneinander, um ein wenig Wärme zu erzeugen.
„Ich denke schon. Bin noch nicht so lange hier und habe nichts weiter vor. Warum?"
Benni ging einen Schritt zurück, sodass der Pizzastand ihn vor Evas Blicken verbarg. „Wenns dir nichts ausmacht, würde ich später gern nochmal wiederkommen und mit dir reden."
„Okay", antwortete Irina sichtlich überrascht. „Warum nicht."
„Gut. Bleib einfach hier in der Nähe. Ich find dich schon wieder", meinte er und grinste ein bisschen, bevor er sich den Weg zu Eva bahnte.
Es dauerte knapp zwei Stunden, bis Benni tatsächlich wieder zu ihr zurück kam und eigentlich hatte sie auch nicht wirklich damit gerechnet, dass er es wirklich tun würde. Doch auch, wenn sie zwischendurch die Vermutung hatte, völlig umsonst hier zu stehen, hatte Irina das Warten rein gar nichts ausgemacht. Ein älterer Herr hatte ihr noch zwei weitere Glühwein spendiert und sich ganz nett mit ihr unterhalten.
Zunächst hatte Irina sich dabei ein wenig unwohl gefühlt, da sie sich alles mögliche über seine Absichten ausmalte, aber im Laufe des Gesprächs hatte sich herausgestellt, dass es sich bei dem Mann um einen Vertreter handelte, der sich geschäftlich in Berlin aufhielt.
Die Weihnachtszeit machte ihm zu schaffen, er hatte sich im Hotel einsam gefühlt und wollte einfach nur mit jemandem reden. Völlig ohne Hintergedanken.
Als Benni nun wieder an ihren Stehtisch trat, war der Herr schon längst wieder verschwunden.
„Sorry, hat eine Weile gedauert."
„Und wo bist du jetzt offiziell?", fragte Irina grinsend. Sie war den Alkohol nicht gewohnt und hatte bereits einen leichten Schwips.
„In einer Besprechung."
Irina grinste noch ein wenig breiter. „So, so."
Benni grinste jetzt ebenfalls. „Naja, wir besprechen ja auch etwas."
Dann drehte er sich um, ging zu dem Glühweinstand in der Nähe und kam mit zwei Tassen zurück.
„So langsam werde ich ganz schön... wie sagt man? Angeschwuppst?"
„Ich glaube, du meinst beschwipst", sagte Benni und schob ihr eine der beiden dampfenden Tassen hin.
„Genau!", lachte Irina und nahm einen kleinen Schluck. Da die Feuerzangenbowle noch viel zu heiß war, verzog sie das Gesicht und stellte die Tasse schnell wieder ab.
Durch den Alkohol fragte sich Irina gar nicht großartig, was Benni nun von ihr wollte. Sie war einfach nur froh, ein bekanntes Gesicht zu sehen, nachdem sie diesen größtenteils ganz schönen Tag alleine verbracht hatte.
„Ich hatte total Angst vor dir, als ich dich das erste Mal gesehen habe", meinte sie. „Aber das muss man ja gar nicht."
„Nein", sagte Benni und grinste. „Warum hattest du Angst vor mir?"
„Na warum wohl? Weil du so hart und gefährlich ausgesehen hast. Weil du den Eindruck gemacht hast, dass du so einer bist, der sich alles leisten kann, der irgendwie Macht hat und weiß, wie er das ausnutzen kann."
Benni nahm einen Schluck aus seiner Tasse und lachte. „Vielleicht sehe ich ja so aus. Aber nur, wenn ich so aussehen will."
„Und wie ist Benni wirklich?"
„Das verrate ich dir doch nicht einfach so. Aber es ist viel Schauspielerei, so viel kann ich verraten. Ich war ja zusammen mit Plan B im Pu... im Bordell und wenn ich mit den Jungs unterwegs bin, bin ich sowieso ein bisschen anders drauf."
„Zeig mir mal Musik von euch. Hast du was dabei?", fragte Irina, nachdem sie ebenfalls einen Schluck von ihrem durch die klirrende Kälte ziemlich schnell abgekühlten Getränk genommen hatte.
„Ich bin mir nicht sicher, ob du das hören willst", sagte Benni, zog aber trotzdem sein Handy aus der Manteltasche und kramte in der anderen nach den Kopfhörern.
Nach rund vier Minuten zog sich Irina den Ohrstöpsel wieder raus und hielt ihn Benni hin.
„Und?", fragte er vorsichtig.
„Schon ziemlich...hart. Wie hieß das Lied?"
„Endstation."
„Also... die Melodie ist schon echt gut. Aber der Text..."
„Ja, kann ich mir denken", sagte Benni und grinste ein bisschen.
„Der, der die erste Strophe rappt..."
„Timi."
„Timi. Der hört sich irgendwie so süß an. Ich kann gar nicht glauben, was für Wörter aus seinem Mund kommen", meinte Irina und musste nun auch ein bisschen grinsen.
Es hatte sie schon geschockt, was die Jungs da von sich gaben und sie verstand nicht viel von Rap. Aber sie verstand mittlerweile ein kleines bisschen was von Benni und hatte den Eindruck, dass er nicht wirklich so war, wie er sich da gab.
„Gut, also einen Fan werde ich aus dir wohl nicht machen können. Was hörst du für Musik?", fragte Benni weiter.
„Etwas, das ganz weit weg ist von dem, was du machst."
„Schlager? Helene Fischer?"
„Nein", sagte Irina schmunzelnd. „Klassik. Ich hatte früher sogar mal eine Geige und konnte die auch recht gut spielen."
„Oh, das hätte ich jetzt nicht erwartet", meinte Benni überrascht.
„Außerdem liebe ich Peter Maffay. Mit seinen Liedern habe ich mir ganz viel Deutsch beigebracht. Wusstest du, dass er sozusagen ein rumänischer Flüchtling ist und eine Stiftung hat, die in Rumänien ein paar Einrichtungen betreibt? Er wird deswegen, zumindest in meinem Dorf, sehr geschätzt."
„Ich hab so etwas mal ganz am Rande gehört", sagte Benni. „Klassik und Maffay sind wirklich sehr weit von dem entfernt, was ich so mache. Du solltest aber auf jeden Fall wieder anfangen, Geige zu spielen."
„Irgendwann mal, vielleicht."
Irina und Benni hörten sich noch eine ganze Weile das Konzert des Chors an und Benni holte zwischendurch immer wieder neue Getränke, bis er selbst auch schon ordentlich einen sitzen hatte.
„Was machen wir jetzt?", fragte er Irina leicht lallend.
„Ich weiß nicht", antwortete sie und musste bei Bennis Anblick ein wenig lachen. Er schwankte ein bisschen und erinnerte sie dabei an eine Boje, die bei leichten Wellen auf dem Meer herum wackelt.
„Du bist eine Boje, Benni."
Vielleicht war er das ja sogar tatsächlich. Mitten auf dem stürmischen Ozean, auf dem sie bislang alleine herumgetrieben war, war diese rettende Boje namens Benni plötzlich aufgetaucht.
„Alles klar", erwiderte Benni und zog Irina mit sich. „Ich weiß, was wir jetzt machen."
Beide waren nicht mehr ganz sicher auf den Beinen und auch der Schnee, der immer höher wurde, machte das Vorankommen nicht gerade einfacher. Erst nach einer halben Ewigkeit fanden sie sich vor einer schicken Boutique mitten auf dem Kurfürstendamm wieder.
„Was wird das jetzt?", fragte Irina und bekam einen halben Herzinfarkt, als sie das dezent angebrachte Preisschild im Schaufenster betrachtete.
„Ich kann nicht mehr mit angucken, wie du hier herum zitterst. Ich kauf dir jetzt einen gescheiten Mantel. Und bevor du mir widersprechen kannst... das, was ich in den letzten Wochen von dir gelernt habe, ist unbezahlbar", erklärte er mit entschlossenem Blick und erhobenem Zeigefinger.
„Das wäre was?"
„Das erzähle ich dir, wenn ich nüchtern genug bin, um die richtigen Worte dafür zu finden", sagte Benni lachend und zog sie mit sich in den Laden rein.
Er kannte Irina zwar nicht wirklich, aber trotzdem fühlte es sich gerade nicht so an, als ob er eine Fremde vor sich hätte. Zudem gab es ihm ein gutes Gefühl, ihr hiermit wirklich eine Freude machen zu können, die sie auch garantiert zu schätzen wusste.
Vielleicht kam dieses Gefühl der Verbundenheit auch einfach nur vom Alkohol. Dieses Phänomen kannte Benni nur allzu gut aus den unzähligen Nächten, in denen er feiern ging. Unter Alkohol- oder Drogeneinfluss erschienen ihm manchmal völlig Fremde auf der Toilette eines Clubs wie lang vermisste Brüder, ohne die er fortan nicht mehr leben konnte.
„Du bist irre, Benni", murmelte Irina in den Stapel Mäntel vor ihrem Gesicht hinein. Benni drückte ihr währenddessen immer mehr davon in die Arme.
„Du hast kalt, also kriegst du einen Mantel. Beschwer dich nicht", sagte er und schob sie in Richtung Umkleidekabinen. Dort angekommen, nahm er ihr den Stapel ab und legte ihn auf ein weiches, plüschiges Sofa.
Irina war völlig geplättet davon, wie es in diesem Laden hier aussah. Es gab riesengroße, mit Samtvorhängen bestückte Umkleidekabinen und einen Teppich, der sich sogar mit Schuhen himmlisch weich unter ihren Füßen anfühlte. In der Luft hing ein leichter Hauch von Parfum. Sogar die Steckdose in der Wand sah teuer aus.
Und von den Klamotten, die es hier gab, brauchte man gar nicht erst anzufangen.
„Ich beschwer mich ja gar nicht", sagte sie und zog sich ganz vorsichtig und sehr langsam den ersten Mantel an, um nichts daran kaputt zu machen. Benni stürzte derweil ein Glas Champagner runter, von dem eine Mitarbeiterin des Ladens direkt eine ganze Flasche vor ihn auf den Glastisch gestellt hatte, als sie die Uhr an seinem Handgelenk bemerkte.
Während Irina sich durch die vielen schicken Mäntel probierte, äußerte sie mehrmals, dass sie das doch wohl nicht annehmen könne, doch Benni ließ in dieser Angelegenheit nicht mit sich reden. Darum gab sie irgendwann den Protest auf und entspannte sich tatsächlich ein bisschen, was auch an dem Champagner, von dem mittlerweile die zweite Flasche geöffnet wurde, lag.
Eine Stunde später torkelten Benni und Irina wieder zusammen durch die Straßen. Der alte Mantel war in die nächste Mülltonne gewandert und Irina war nun stolze Besitzerin eines dunkelblauen, im Marinestil gehaltenen Mantels, der mit goldenen Knöpfen verziert war. Bei der Anzahl der Scheine, die Benni an der Kasse gelassen hatte, war es gut möglich, dass es sich hierbei nicht nur um ein Goldimitat handelte.
„Benni, kennst du den Film Pretty Woman?", fragte Irina lachend und betrachtete sich beim Vorbeigehen in einem Schaufenster.
„Ich geb es nicht gerne zu, aber ja", antwortete er ihr grinsend, bevor sie erneut den Glühweinstand von vorhin ansteuerten.
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