Das Mitleid
Irina setzte sich gegenüber von Benni, der auf einem Stuhl saß, auf die Bettkante und sah diesen noch immer etwas verwundert an.
„Okay, dann reden wir. Warum willst du etwas über mich wissen? Normalerweise wollen die, die nur zum Reden herkommen, eher über sich selbst reden, weil sie niemanden sonst haben, der ihnen zuhört. Aber du wirkst nicht gerade so, als ob du niemanden hättest", sagte sie nach einer längeren Zeit.
Er seufzte tief. „Sagen wir mal so, ich hab gerade nicht die beste Zeit und... ach, keine Ahnung."
Benni wirkte auf Irina ja schon etwas verzweifelt. Vielleicht war sein Bedürfnis, etwas über sie erfahren zu wollen, ja doch nur ein Vorwand, um über sich selbst reden zu können. Vielleicht war es ihm unangenehm, das so direkt zu sagen.
Irina bekam tagtäglich so einige Sorgen und Geheimnisse von Männern zu hören. Sie bezahlten sie und wussten, dass das, was hinter dieser Tür geschah, auch hinter dieser Tür bleiben würde. Draußen, wenn sie mit Verwandten oder Freunden redeten, bestand immer die Gefahr, dass sich doch mal jemand verplapperte und andere Menschen im direkten Umfeld Dinge erfuhren, die sie besser nicht erfahren sollten.
Hier allerdings konnten die Männer anonym sein. Irina wusste, dass nur die wenigsten sich mit ihrem echten Namen bei ihr vorstellten, falls sie ihr überhaupt einen nannten. Das Risiko, dass eine Prostituierte etwas mit Leuten zu tun hatte, die die Männer kannten, war äußerst gering und so war es gar nicht mal so unüblich, dass die Mädchen auch mal als Kummerkasten benutzt wurden.
Im gleichen Umfang bestand hier auch für Irina kein Grund, weswegen sie nicht mit Benni reden sollte. Er kannte niemanden, der sie kannte. Denn jeder, der ihr wichtig war, befand sich momentan nicht einmal im gleichen Land, wie sie. Und auch, wenn sie die Situation nun mehr als seltsam fand, war sie froh, dass sich jemand - aus welchen Gründen auch immer - für sie und nicht nur für ihren Körper interessierte.
„Also, was willst du wissen?", fragte sie darum.
Benni war sichtlich nervös und er tat ihr sogar fast ein bisschen leid. Wenn seine Band keine Mädchen für den Auftritt gebraucht hätte, hätte er sich wohl nie im Leben hierher verirrt. Und jetzt fühlte er sich nur durch eine einzige unüberlegte Handlung, nämlich sie wie Dreck zu behandeln, dazu verpflichtet, das irgendwie wieder gut zu machen. Das vermutete Irina jedenfalls, da ihr kein anderer vernünftiger Grund für sein plötzliches Interesse an ihr einfallen wollte.
Anhand seiner sehr unbeholfenen Entschuldigung schloss Irina, dass er wohl nicht oft in solche Situationen kam, in denen er sich so fühlte, wie er es nun tat.
„Wie bist du an diesen Job gekommen? Warum machst du das? Warum arbeitest du nicht irgendwo anders?", fragte Benni nun.
„Ich mache diesen Job, weil ich keine andere Wahl habe. Nicht etwa, weil es mir Spaß macht, mit so vielen Männern zu schlafen. Vielleicht gibt es Frauen, die das geil finden, aber so eine habe ich hier bisher noch nicht gesehen", antwortete Irina und beobachtete Benni, der steif wie ein Stock auf dem Stuhl saß und nicht so recht wusste, wie er sitzen sollte.
„Das habe ich mir schon gedacht. Also... eigentlich hab ich mir noch nie so wirklich Gedanken über das hier gemacht. Eine Nutte war halt für mich einfach eine Nutte. Nichts weiter. Aber... als ich dich in dem Restaurant gesehen habe... in ganz normalen Klamotten... wie du da mit dieser Barfrau gesessen hast, da ist mir erst der Gedanke gekommen, dass du auch ein Mensch bist, wie jeder andere."
Irina musste jetzt tatsächlich kurz auflachen. „Klar bin ich ein Mensch. Was sollte ich denn sonst sein? Ein Alien?"
„Nein! Ach, ähm...", stammelte Benni.
„Schon gut, ich denke ich weiß, wie du es meinst", sagte Irina. „Ich bin noch nicht lange in Deutschland. Erst seit ein paar Monaten. Ich komme aus Rumänien, mein Heimatort liegt an der Grenze zu Moldawien. Die Gegend ist so ziemlich die ärmste, die es in Europa gibt."
„Ein paar Monate erst?", fragte Benni erstaunt. „Dafür sprichst du aber sehr gut deutsch. Okay, dein Akzent ist sehr hart, aber ansonsten ist das nahezu fehlerfrei. Das überrascht mich jetzt wirklich."
„Das liegt daran, dass vor mir schon andere Leute aus meinem Ort nach Deutschland gegangen sind, um hier ein besseres Leben zu führen. Nur sehr wenige haben es geschafft, die meisten nicht. Ich habe mich eben an dieser kleinen Hoffnung festgeklammert, dass ich das eines Tages vielleicht auch machen könnte und darum in jeder freien Minute, die ich hatte, deutsch gelernt. Eine Freundin von mir ist dann vor einiger Zeit nach Deutschland gegangen und hatte Glück. Sie kam in eine relativ reiche Familie rein, die nicht viele Fragen stellten und macht dort bis heute deren Haushalt. Oh Gott, sie hat mich angerufen und gesagt, es wäre alles so einfach gewesen und dass das Geld hier quasi auf der Straße liegt. Leider hatte ich nicht so viel Glück wie sie."
Benni hörte sich ihre Erzählung gespannt an und in ihm wuchs gleichermaßen ein großes Mitleid. Er hatte noch nie mit solch armen Menschen Kontakt gehabt. Er selbst war in eine sehr reiche Familie hineingeboren worden und musste niemals hungern. Geldsorgen kannte er nur aus dem Fernsehen.
„Und du bist ganz alleine hergekommen?"
„Ja."
„Vermisst du deine Familie?"
„Natürlich vermisse ich sie. Aber der Job hier, auch wenn es das niederträchtigste ist, was ich je getan habe, bringt uns mehr Geld ein, als es mir in meiner Heimat jemals möglich gewesen wäre", sagte Irina und schaute auf den Boden.
„Das heißt, dass du deiner Familie dein Geld schickst?"
„Genau. So viel, wie möglich. Mein Vater ist Alkoholiker und schon viel zu kaputt, um zu arbeiten. Meine Mutter ist auch schwer krank und kann nichts mehr machen. Meine Geschwister sind noch zu klein, um Geld zu verdienen. Seitdem ich das hier mache, geht es ihnen wenigstens besser."
Benni war etwas sprachlos darüber, dass Irina dies alles so völlig selbstlos tat. Er hatte sich ja vorher schon einmal gefragt, ob sie sich nur prostituierte, um Geld für Drogen zu haben. Dass sie das alles nur aus Liebe zu ihrer Familie tat, überraschte ihn und tat ihm gleichzeitig im Herzen weh.
Er liebte seine Familie sehr.
Aber würde er, wenn er an Irinas Stelle stehen würde, auch so weit gehen? Könnte er so viel auf sich nehmen und sich selbst opfern, so wie sie es Tag für Tag tat?
Diese Fragen konnte er sich nicht wirklich beantworten, da sein Leben so weit weg von dem war, welches sie führen musste.
„Das ist... echt krass", sagte Benni leise.
„Ich habe mir auch etwas anderes vorgestellt", sagte Irina lächelnd und Benni bewunderte sie über alle Maße dafür, dass sie trotz alldem noch die Kraft hatte, ein Lächeln aufzubringen.
„Es hat nicht geklappt, so eine Stelle zu finden, wie sie meine Freundin bekommen hat. Ich habe keine Ahnung, wie sie das geschafft hat. Zuerst habe ich in Geschäften nachgefragt, ob die Aushilfen brauchen. Auch in Bars, Hotels und Restaurants. Ich bin aber nicht in Deutschland gemeldet und illegal hier. Sobald die Frage nach einer Sozialversicherungsnummer oder anderen Papieren kam, habe ich mich verabschiedet. Auch die Leute, die private Anzeigen für Babysitter oder Putzfrauen aufgeben, wollten das alle offiziell anmelden. Ich hätte bestimmt irgendwann jemanden gefunden, der mich auch so genommen hätte, wenn ich noch länger gesucht hätte. Aber die paar Euro, die ich bei meiner Ankunft dabei hatte, waren schnell weg und haben gerade einmal für vier Nächte in einem Hostel gereicht. Dann stand ich auf der Straße, hatte keinen Schlafplatz und nichts zum Essen. Ich brauchte Geld und ich konnte ja schlecht auf irgendein Amt oder so gehen. Die hätten mich ja sofort wieder zurückgeschickt oder gleich verhaftet."
„Und dann bist du auf die Idee gekommen, im Bordell nachzufragen?"
„Genau. Ich hätte ja selbst im Leben nie daran gedacht, dass ich das mal machen würde. Ich bin dann irgendwann am frühen Abend ziellos durch diese Straße hier gelaufen und habe das Haus gefunden. Stundenlang habe ich gegenüber auf der Mauer gesessen und mit mir gekämpft. Und dann hat Ronny mich wohl von drinnen gesehen und ist zu mir raus gekommen. Er war der erste Mensch in Deutschland, der meinen Namen wissen wollte. Du kannst dir gar nicht vorstellen, wie sich das für mich angefühlt hat. Nach all den Tagen, in denen ich nur Ablehnung und Desinteresse entgegen gebracht bekam. Natürlich hatte er sofort sein Geschäft im Sinn, als er mich gesehen hat. Er hat mich dann erstmal mit rein genommen, damit ich mich aufwärmen konnte. Es ging damals gerade auf den Winter zu und wurde abends immer kälter. Ziemlich schnell ist er dann auch zur Sache gekommen, hat mir die anderen Mädchen vorgestellt und die Zimmer gezeigt. Ich war total skeptisch und kurz davor, einfach wieder raus zu rennen. Doch dann hat er mir erzählt, was ich hier verdienen kann..."
„Das ist... verdammt traurig", sagte Benni leise, fast flüsternd.
„Es klingt vielleicht unglaublich... aber der Mensch gewöhnt sich an alles. Okay, vielleicht habe ich mich nicht an den Job selbst gewöhnt. Aber ich habe mich daran gewöhnt, ihn zu ertragen. Ich bin noch nicht lange hier, habe aber schon einige Mädchen daran zerbrechen sehen. Die Mädchen, die gar niemanden haben... die von einem Tag in den anderen leben und das nur auf Droge ertragen können. Dann hörst du nachts die Sirenen, schaust aus deinem Zimmer raus und siehst, wie die Leiche deiner Zimmernachbarin, die sich gerade den goldenen Schuss gesetzt hat, an dir vorbei getragen wird."
Benni merkte jetzt tatsächlich eine Träne in seinem Augenwinkel und blinzelte sie schnell weg. „Wie erträgst du das alles? Das ist doch grausam... Wie alt bist du?"
Irina schaute Benni in die Augen, die ein bisschen feucht glitzerten. Fing er jetzt gleich an zu weinen, oder sah das nur in diesem Licht so aus? Irgendwie freute sie das sogar. Er schien sich tatsächlich für ihre Geschichte zu interessieren und sie nahm ihn sogar etwas mit. Sie war sich nun sicher, dass er keinerlei schlechte Absichten hatte, wenn er mit ihr redete und ihr Herz wurde ein wenig leichter, jetzt wo sie in Deutschland zum ersten Mal so richtig mit jemandem über sich selbst reden konnte.
Benni fühlte sich derweil ziemlich erbärmlich. Dieses Mädchen hatte schon so viel einstecken müssen und dann kam er daher und behandelte sie noch zusätzlich so, als wäre sie Müll und nichts weiter.
Er konnte sich nicht im geringsten vorstellen, wie es sich anfühlte, so ein Leben führen zu müssen. Die Probleme, die das Mädchen hier hatte, waren echte Probleme. Seine eigenen kamen ihm im Vergleich nahezu lächerlich vor.
Was hatte er schon für Probleme? Er regte sich auf, wenn die Werkstatt drei statt zwei Tage für die Reparatur seines Wagens brauchte. Wenn der Techniker nicht gleich kam und er mal ein paar Tage kein Internet Zuhause hatte, war das für ihn ein Weltuntergang. Er war zutiefst verzweifelt, weil er eine Freundin hatte, mit der es nicht lief und er nicht wusste, was er mit ihr machen sollte.
Irina wäre wahrscheinlich froh, wenn das ihre einzigen Probleme wären.
„Ich bin neunzehn. Klar gibt es Tage, an denen ich denke, ich halte das alles nicht mehr aus. Manchmal bin ich fertig ohne Ende, ekel mich vor mir selbst und kann nicht in den Spiegel schauen. Aber dann denke ich wieder daran, für was oder besser gesagt für wen ich das alles mache, und das bringt mich dann irgendwie durch den Tag", sagte sie und Benni fiel fast die Kinnlade bis auf den Boden.
„Neunzehn? Oh mein Gott... und wie lange willst du das noch machen?"
„Darüber habe ich mir noch keine Gedanken gemacht. Ich habe nicht wirklich einen Plan für die Zukunft. Zwar habe ich schon darüber nachgedacht, ob ich mich nochmal nach einem anderen Job umschauen soll, aber ohne Ausbildung oder Papiere verdiene ich dann bei Weitem nicht so viel, wie hier bei Ronny. Ich denke, ich werde wohl neben dem, was ich jeden Monat nach Hause schicke, noch ein bisschen was für mich ansparen. Das dauert natürlich noch eine Weile, weil ich es einfach nicht übers Herz bringe, viel davon zurück zu halten. Aber vielleicht kann ich dann mit ein bisschen Kapital in der Heimat was aufbauen. Keine Ahnung was das sein könnte, das liegt ja auch noch in ferner Zukunft."
Benni nickte mitfühlend und schwieg. Was sollte er auch dazu sagen? Es gab wahrscheinlich keine Worte, die das alles weniger schlimm machten.
Er konnte nicht sagen, dass er sie verstand. Er hatte nichts von dem durchmachen müssen, was sie durchgemacht hatte.
Er konnte auch nicht sagen, dass er wusste, wie sie sich fühlte. Sogar ihm war klar, dass sie das wahrscheinlich als Beleidigung auffassen würde. Woher sollte auch einer wie er wissen, wie sich ein solches Schicksal anfühlte? Er konnte vielleicht versuchen, sich das vorzustellen, doch wirklich nachempfinden würde er das niemals können.
„Benni war dein Name, oder?", fragte sie und sah ihn schon wieder mit diesem Lächeln an, bei dem er sich fragte, warum es nicht schon vor Jahren gestorben war.
„Ja."
„Warum hast du gerade eine nicht so gute Zeit, Benni?"
„Ach, da ist nichts."
Er könnte ihr vielleicht von seinen Problemen erzählen, doch was würde sie dann von ihm halten, wenn er ihr berichtete, wie sehr ihn seine Luxusproblemchen beschäftigten, die er jetzt selbst als so unglaublich lächerlich empfand?
Irina musterte ihn skeptisch. „Vorhin hat sich das aber anders angehört."
Benni stand auf und griff nach seiner Jacke. Viel zu viele Emotionen, von denen er nicht wusste, wohin damit, wüteten gerade durch seinen Körper. Die Art und Weise, wie unfair das Leben sein konnte, raubte ihm schier den Atem. So sehr, dass er es nicht eine Sekunde länger in diesem Raum aushalten konnte.
Als er sich seine Jacke angezogen hatte, schaute er auf seine Rolex, die in einem nahezu peinlichen Ausmaß durch das Zimmer glitzerte. „Meine Stunde ist um...", murmelte er hektisch, rang sich aber ein Lächeln ab. „Du bist... äh... wirklich ein starkes Mädchen und ich bewundere dich für all das, was du tust. Wirklich."
Irina stand ebenfalls auf und ging zur Tür, um diese für Benni zu öffnen. Er fragte sich, ob dieser Typ von vorhin draußen wartete, bis er selbst fertig bei Irina war. Er atmete erleichtert auf, als er sah, dass der Flur leer war. Zumindest für heute hatte sie sich den also gespart.
„Dann machs mal gut, Benni", sagte Irina.
„Machs besser", meinte er, schenkte ihr im Gehen noch ein Lächeln und trat sich selbst für diesen Spruch in den Arsch.
Natürlich würde sie es besser machen, wenn sie doch nur wüsste, wie.
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