Das Feststecken

Berlin, im Dezember 2012


„Sie kotzt mich so an", meckerte Benni vor sich hin und drückte seine erst halb aufgerauchte Zigarette in den bereits überquellenden Aschenbecher vor sich. Er saß auf seiner weißen Ledercouch, die Ellbogen auf den Knien aufgestützt, und erwartete einen sinnvollen Ratschlag von seinem Gegenüber, welcher ihm nur seine halbe Aufmerksamkeit schenkte.
Timi seufzte tief und löste sich nur äußerst widerwillig von seiner Freundin Sophie, um sich ein wenig vorbeugen zu können.
Die beiden waren noch immer genauso verknallt wie am ersten Tag ihrer sich in rasantem Tempo entwickelnden Beziehung und machten derzeit eine Art Liebesurlaub in Berlin, weil Sophie erst einmal zuvor hier gewesen war und sich das irgendwie gewünscht hatte, wenn Benni sich da richtig erinnerte. Timi und Sophie hatten ihm in der letzten Stunde zwar genauestens berichtet, was für kitschige Sachen sie in den letzten Tagen schon durchgezogen hatten, aber er hatte nur mit einem halben Ohr hingehört, sodass er jetzt nicht eine Sache davon korrekt wiedergeben könnte.
Dieser ganze Romantikkram war einfach nichts für ihn, das merkte er immer wieder. Und gerade war es nicht nur so, dass er sich das nur anhören musste. Er konnte den Kitsch sogar riechen, was an dem Rosenparfüm lag, das Sophie aufgelegt hatte und die beiden Turteltauben umhüllte.
Timi fuhr sich durch die Haare, dann stützte er sich ebenfalls mit seinen Ellbogen auf den Knien ab. Er holte Luft, um etwas zu sagen, schloss den Mund dann jedoch wieder und grinste Benni schief an.

„Ja, schon klar. Ich weiß, was du mir sagen willst", meinte Benni und fuhr sich ebenfalls durch seine kurzen Haare. „Ich soll sie abschießen und vor die Tür setzen. Das weiß ich doch auch, Mann. Aber wie soll ich das machen? Jedes Mal, wenn sie dann vor mir steht, krieg ich es nicht über die Lippen."
„Liebst du sie?", fragte Timi.
So eine einfache Frage, doch die Antwort darauf war alles andere als das. Liebte er sie? Hatte er sie überhaupt je geliebt?
„Keine Ahnung. Wahrscheinlich schon, oder?"
„Frag das nicht mich. Das musst du doch wissen."
„Ich weiß es aber nicht. Sie nervt mich total und ich rege mich über so vieles auf, was sie tut oder sagt. Aber wenn ich mir vorstelle, dass sie ganz weg ist, find ich das auch nicht so richtig gut. Ich hab ihr mal gesagt, dass sie sich ändern soll. Dass sie nicht so unverschämt sein soll und sich mal öfter bei mir bedanken könnte. Eine Zeit lang hat das auch relativ gut funktioniert, aber eben nur eine Zeit lang. Jetzt hatte sie einen totalen Zickenanfall, weil ich ihr Glühwein auf den Mantel gekippt hab. Den Fleck hat man überhaupt nicht gesehen. Das Teil war sowieso rot. Okay, ein bisschen vielleicht, aber nur, wenn man ganz genau hinsieht. Die Reinigung hätte es auf jeden Fall rausbekommen. Ich wollte den scheiß Mantel ja sogar noch dort hinbringen. Aber als ich ihn aus dem Schlafzimmer holen wollte, lag er zerschnitten auf dem Bett. Oder zerrissen. Keine Ahnung, was sie mit dem Ding gemacht hat. Auf jeden Fall war er halt kaputt."

Als Timi das so hörte, fragte er sich, was bloß mit Benni passiert war. Dass er sich mal so von einer Frau beherrschen lassen würde, hätte er im Leben nicht gedacht. Benni und Eva waren jetzt schon eine ganze Weile zusammen und er fragte sich, ob das wohl von Anfang an schon so gewesen war. Wenn ja, so verstand er nicht, wieso Benni das so lange mit sich machen ließ.
Wenn Lukas in einer solchen Situation wäre, dann könnte er das eher nachvollziehen. Lukas war einfach zu lieb für diese Welt, wollte niemanden verletzen und steckte darum zu oft für andere zurück. Benni war zwar auch herzlicher, als er sich oft gab, aber trotzdem war er so gar nicht der Typ dafür, um sich so dermaßen von einer Frau zum Affen machen zu lassen.
Timi überlegte hin und her, was er Benni jetzt nur raten sollte. Er seufzte und blieb stumm.
Alles, was er Benni zu diesem Thema sagen könnte, hatte er ihm bereits gesagt. Aber der schien eben einfach nicht hören zu wollen.
Er lehnte sich wieder zurück und Sophie legte sofort beide Arme um ihn, was er mit einem leisen, wohligen Brummen quittierte.

„Ja, schon klar ihr Turteltäubchen. Von mir aus könnt ihr jetzt auch wieder abzischen", sagte Benni zerknirscht. Er wusste ja selbst, dass Timi ihm schon sämtliche Ratschläge gegeben hatte, die man einem anderen Menschen in dieser Lage geben konnte.
Wenn er den befolgen würde, der am meisten Sinn machte, müsste er Eva rausschmeißen. Aber irgendwas in ihm sträubte sich noch zu sehr dagegen. Ob es wirklich Liebe war, oder ob er einfach nur aus Bequemlichkeit diese unangenehme Sache auf die lange Bank schob, vermochte er nicht zu sagen.
Tatsache war aber, dass er hoffte, bald mal zu einer Lösung zu kommen. Entweder, er musste Eva verlassen, oder er musste sie so akzeptieren, wie sie nun mal war. Dass er sie wohl nicht erfolgreich würde ändern können, hatte er mittlerweile begriffen.
Er wünschte sich, dass das einfach jemand anderes für ihn entscheiden könnte, sodass er einfach nur mit dem Ergebnis leben müsste. Irgendwie würde er sich bestimmt damit arrangieren können, egal, wie dann für ihn entschieden wurde. Der Gedanke daran, dass das natürlich nicht eintreffen würde, überforderte ihn. Er wollte nicht für die Entscheidung verantwortlich sein, ob die Beziehung mit Eva eine Zukunft hatte, oder nicht. Seit Monaten drehte er sich im Kreis und kam einfach nicht da raus, egal wie er es drehte und wendete.

„Was machst du heute noch?", fragte Timi, als sie an der Wohnungstür standen.
„Keine Ahnung, ich hab nichts geplant. Vielleicht bleib ich auch einfach mal hier und genieß die Ruhe. Eva ist irgendwo hingefahren und meinte, sie käme erst heute Abend wieder zurück."
„Okay. Mann, ich will dir ja nicht reinreden, aber überleg dir echt mal, wie es weitergehen soll", sagte Timi eindringlich. Als ob er das nicht sowieso schon die ganze Zeit über tun würde.
„Jaja. Was macht ihr jetzt noch?"
Benni sah Timi und Sophie dabei zu, wie sie sich verliebt angrinsten. Total kitschig. Sie hatte ihren Arm um seine Taille geschlungen, sein Arm lag fest über ihrer Schulter. Ätzend war das. Timi drückte Sophie einen Kuss auf die Wange, und ihr Grinsen wurde noch etwas breiter. Blöde Pärchenkacke. Benni griff nach der Tür und schlug sie den beiden vor der Nase zu.

„Was war das denn?", hörte er Sophie gedämpft durch die Tür fragen.
„Ach, mach dir nichts draus. Der ist einfach nur total frustriert, weil es bei Eva und ihm nicht so perfekt und wunderschön ist, wie bei uns", flüsterte Timi leise, aber dennoch laut genug, dass Benni jedes seiner Worte verstehen konnte.
Er seufzte und machte sich wieder auf den Weg zurück ins Wohnzimmer. Dort ließ er sich auf die Couch fallen und zündete sich eine neue Zigarette an. Er sah dem Rauch zu, wie er seinen Mund verließ und sich in der Luft verteilte, bis er nicht mehr zu sehen war. Riechen konnte man ihn trotzdem noch.
War seine Beziehung mit Eva so? Löste sie sich ebenfalls langsam in Luft auf und hinterließ irgendwann nur noch einen unterschwelligen Geruch, der ihn daran erinnern würde, dass es sie mal gegeben hatte?

Benni legte sich auf den Rücken und hörte der massiven Standuhr beim Ticken zu.
Zum Arbeiten hatte er keine Lust. Es war kurz vor Weihnachten und die anderen Jungs waren jetzt auch schon anderweitig beschäftigt. Timi zog mit seiner Angebeteten durch Berlin, Lukas hatte sich bereits auf den Weg zu seinen Eltern nach Neuenwalde gemacht, und was Stefan in Braunschweig trieb, wusste der Geier.
Apropos Weihnachten...
Benni zückte sein Smartphone und ging seine Bestellungen durch. Irgendwie hatte er die ganze Zeit über schon das Gefühl gehabt, jemanden beim Kauf der Geschenke übergangen zu haben. Für seine Mutter hatte er teuren Schmuck bestellt, sein Vater bekam eine neue Uhr. Für die Cousinen gab es Gutscheine, da er keinen Plan hatte, was solch junge Weiber heutzutage so brauchten. Seine Großeltern bekamen einen Gutschein für ein Wellnesswochenende und auch für Irina hatte er nach längerem Überlegen eine Geige bestellt.

Er legte sein Handy weg und lachte laut auf. Da hatte er doch tatsächlich Eva vergessen. Die Frau, die er zu lieben glaubte und die ihn Tag für Tag, mal positiv und viel öfter negativ, beschäftigte. Das sagte doch eigentlich schon alles, oder nicht?

Doch es half alles nichts und er nahm wieder sein Handy in die Hand, um auch ihr ein Geschenk auszusuchen. Er musste es einfach tun. Was blieb ihm auch anderes übrig? Kurz vor Weihnachten, dem Fest der Liebe, würde er sie bestimmt nicht verlassen.
Die Weihnachtszeit kitzelte schon seit jeher seine kitschige und harmoniebedürftige Seite heraus. Die geliebten Feiertage würde er sich nicht von einer Trennung kaputtmachen lassen. Er hatte keine Ahnung, wie Eva im Falle eines Rauswurfs reagieren würde. Vielleicht würde sie ihn Tag und Nacht terrorisieren. Sie wusste auch, wo seine Eltern wohnten, bei denen er jedes Jahr Weihnachten verbrachte. Auch vor ihnen würde sie eventuell nicht Halt machen und der Familienfrieden wäre dahin.
Nein, vor Weihnachten kam definitiv keine Trennung in Frage.
Er machte sich nicht besonders viel Mühe, sondern bestellte einfach irgendeinen Mantel, der Hauptsache teuer war. Irgendwas würde sie bestimmt wieder daran auszusetzen haben.
Es war egal, welchen er nehmen würde. Entweder wäre der Stoff zu kratzig oder zu weich, die Farbe zu hell oder zu dunkel, er wäre zu jugendlich oder zu altbacken. Es war einfach egal. Er konnte es sowieso nicht richtig machen.

Benni rollte sich auf der Couch herum. Er legte sich mal auf den Rücken, mal auf den Bauch, mal auf jede Seite. Das Ticken der Uhr machte ihn verrückt. Die Zeit lief immer weiter, während er hier lag und feststeckte. Im Kopf ging er nochmal den Streit mit Eva durch. Wie sie sich aufgeregt hatte. Wie kindisch sie sich aufgeführt hatte. Und das alles nur, wegen eines blöden kleinen Glühweinflecks. Einem Fleck von dem Glühwein, den er mit Eva getrunken hatte. Und später auch mit Irina. Mit Irina hatte ihm das viel mehr Spaß gemacht, als mit Eva.
Bei ihr hatte er alles richtig gemacht. Zwar nur, weil er es zuvor extrem falsch gemacht hatte, aber dennoch hatte es ein gutes Ende genommen. Mit ihr hatte er reden können, ohne Angst haben zu müssen, bei einem falschen Wort einen Kopf kürzer zu sein. Sie hatte sich für das interessiert, was er gesagt hatte und wollte nicht bloß egoistisch über sich selbst reden, wie das bei Eva so oft der Fall war. Sie war ihm dankbar für sein Geschenk gewesen und hatte seine kleine Geste zu schätzen gewusst.

Da er keine Ahnung hatte, was er sonst mit seiner Zeit anstellen sollte, und Eva sowieso bis in den Abend hinein weg sein würde, ging Benni in den Flur und zog sich an. Er setzte sich eine Mütze auf und steckte auch eine Sonnenbrille ein, damit man ihn in der Nähe des Bordells nicht erkennen würde.

Es war arschkalt draußen. Die Straßen waren verschneit und es war spiegelglatt, sodass er viel langsamer fahren musste, als er es gewohnt war. Seit Wochen schneite es schon und er fragte sich, wann das endlich mal aufhören würde.
„Guck dich an, was aus dir geworden ist", murmelte er seinem Abbild im Rückspiegel zu. „Jetzt fährst du ins Bordell, um mit einer Ollen zu quatschen, die du eigentlich gar nicht kennst. Weil dir deine Tussi daheim nicht gescheit zuhört..."

Nach einer ewig langen Fahrt kam Benni am Bordell an. Er parkte diesmal nicht auf dem Behindertenparkplatz, sondern auf einem normalen. Zwar musste er dadurch viel weiter durch den hohen Schnee stapfen, aber das war immer noch besser, als an einem Puff abgeschleppt zu werden. Man konnte nie wissen, wer wen kannte, und inwieweit aufkommende Gerüchte dann ihre Kreise zogen.

Er kam sich schon etwas seltsam vor, wie er jetzt völlig vermummt die Lounge betrat und dem Türsteher zunickte. Er warf einen Blick über die Sitzecken. Viel los war hier heute nicht. Lediglich zwei andere Männer, die gleich von vier Damen bezirzt wurden, saßen dort. Irina konnte er nicht entdecken.

„Hey. Ist Irina da?", murmelte er der Bardame zu. Diese beugte sich so weit zu ihm über den auf Hochglanz polierten Tresen, dass ihre üppige Oberweite sich beinahe selbstständig machte.
„Was? Red mal lauter, Junge!", rief sie ihm mit hartem russischen Akzent zu.
„Ob Irina da ist", wiederholte er etwas lauter.
„Die Blonde oder die Rothaarige? Eine Brünette gibt's auch. Welche meinst du?"
Benni schluckte und überlegte. Welche Haarfarbe hatte sie nochmal gehabt?
„Was los Junge? Zunge verschluckt, oder was?"
Benni wischte sich den Schweiß von der Stirn. Warum musste die Kuh jetzt so hier herumschreien, bis auch der letzte der wenigen Menschen hier drin seine Anwesenheit zur Kenntnis genommen hatte?
„Die Irina aus Rumänien", zischte er und hoffte, dass jetzt nicht noch weitere Nachfragen kommen würden und die Olle endlich mal raffte, welche Irina er suchte.
Im Augenwinkel bemerkte Benni, dass ein Mann durchs Treppenhaus gekommen war und das Bordell eilig durch die Bar verließ.
„Hatte nen Kunden und müsste jetzt frei sein. In ihrem Zimmer. Kannst hochgehen", meinte Valerie und nahm sich ein Weinglas, um es zu polieren.

Ohne ein weiteres Wort ging Benni zum Treppenhaus und machte sich auf den Weg nach oben zu Irinas Zimmer. Auf ihrem Flur angekommen, versuchte er, das Gestöhne, welches durch Türen und Wände drang, zu ignorieren. Zaghaft klopfte er an ihre Tür. Als sich nichts tat, klopfte er noch ein zweites Mal. Er hörte Geräusche im Zimmer, also musste sie da sein.
„Moment", rief sie durch die Tür. „Ich mach gleich auf."
Wahrscheinlich rechnete sie mit einem Kunden und bereitete sich schon mal auf das nächste Elend vor. Benni klopfte noch einmal, so viel Geduld hatte er dann doch nicht.

Als ihm die Tür endlich geöffnet wurde, blickte Irina ihn sehr überrascht an. Benni sah direkt, dass hier etwas nicht stimmte.
„Wie siehst du denn aus?", fragte er sichtlich geschockt und drückte sich durch den Türspalt.



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