Kapitel 9: Am Eulenfelsen

Als der Blitz eingeschlagen hatte, hatten Viktor und James in blinder Panik die Flucht ergriffen und die Burgruine trotz kurzer Beine weit hinter sich gelassen.
Atemlos rannten sie durch den dunklen Wald ohne zu wissen, wohin eigentlich, bis James schliesslich in einem besonders steilen Teil des Hügels stolperte und seinen Weg nun purzelnd fortsetzte. Viktor hechtete seinem Bruder hinterher, was aber nur zur Folge hatte, dass auch er stürzte.

Er musste wohl einen Moment lang das Bewusstsein verloren haben. Als er wieder zu sich kam, regnete es noch immer, nasses Gras klebte unangenehm an seinen Wangen, aber das Donnergrollen schien ihm ferner zu sein.

Benommen setzte er sich auf, nur um sich im nächsten Moment erneut auf dem Boden wiederzufinden.
„Ich dachte, du bist tot!", schluchzte James, der sich regelrecht auf seinen Bruder gestürzt hatte.
„Blödsinn, ich doch nicht", erwiderte Viktor unwirsch und kramte nach seinem durchnässten Taschentuch, damit James sich die Nase putzen konnte. „Bist du verletzt?"
„Mein Bein tut weh" , sagte James.  "Und ich will nach Hause."
Viktor fluchte so wüst, das seiner Mutter die Haare zu Berge gestanden wären.
„Aber wenigstens ist mein Kopf noch dran!", meinte James.
Normalerweise war es Katie, die als ‚gute Nachricht' auf diesen offensichtlichen Umstand hinwies.
„Na Gott sei Dank dafür..." Viktor verdrehte die Augen, rappelte sich auf und half seinem Bruder auf die Beine.
„Wohin gehen wir jetzt?", fragte James in der Hoffnung, dass sein grosser Bruder den Heimweg kannte und ergriff dessen Hand, während er sich auf ihn stützte.
Es widerstrebte Viktor es zuzugeben, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wo sie sich befanden.
In der Senke, in der sie gelandet waren, standen kaum Bäume. Dafür erhob sich am gegenüberliegenden Rand der Lichtung ein gewaltiger Findling, der im nächtlichen Zwielicht bemerkenswerte Ähnlichkeit mit einer übergrossen Eule besass.
„Wir gehen da lang", sagte er schliesslich und versuchte, zuversichtlich zu klingen, während er in irgendeine Richtung zeigte.
Doch bevor Viktor auch nur einen Schritt in diese Richtung tun konnte, liess ihn ein leises Geräusch innehalten.
„Hey, Jimmy", wisperte er seinem Bruder zu. „Hörst du das?"
James lauschte. Hufgetrappel war zu hören. Leise zwar, aber deutlich durch den Regen vernehmbar. und es schien lauter zu werden, näher zu kommen. Er drückte Viktors Hand fester und drängte sich näher an ihn.
„Das ist bestimmt die Lady", jammerte er ängstlich. „Lass uns schnell gehen, bevor sie uns mitnimmt."
Ein Teil von Viktor war der Meinung, dass James durchaus Recht hatte und es klüger wäre, zu gehen oder zumindest in den Büschen Deckung zu suchen. Ein anderer - grösserer - Teil jedoch verspürte jene Faszination, die sonst so bezeichnend für seinen Vater war. So fand er es beispielsweise recht interessant, dass die Hufklänge ganz deutlich zu vernehmen waren, gerade so als trabten die Pferde auf einer gepflasterten Strasse, obwohl der durchweichte Waldboden das Geräusch hätte dämpfen müssen.
Vielleicht war auch gar nichts Geisterhaftes an dem Gefährt, das sich dort näherte. Vielleicht waren sie durch einen glücklichen Zufall in der Nähe einer Strasse gelandet und es war nur ein ganz normaler Wagen, von einer Brauerei beispielsweise, oder womöglich eine Postkutsche.
So blieb der Junge stehen wo er war und lauschte aufmerksam, ganz gleich wie verzweifelt sein Bruder an seiner Hand zerrte und versuche, ihn zum Gehen zu bewegen.
Doch Viktor wurde alsbald eines Besseren belehrt, denn schon brach die Kutsche durch das Unterholz und fuhr mühelos mitten durch den Eulenfelsen hindurch als wäre er nichts anderes als dünne Luft.
James drückte sich aufheulend an seines Bruders Brust, als das geisterhafte Gefährt auf sie zufuhr. Für einen Moment fürchtete Viktor, die Kutsche könnte sie einfach überrollen und er war sich nicht sicher, ob es ein gutes oder ein schlechtes Zeichen war, dass sie kurz vor den beiden zitternden Kindern anhielt.
Mit einem Mal schien es Viktor viel kälter zu werden, als wäre plötzlich der Winter hereingebrochen. Von den Nüstern der Pferde stiegen kleine Dampfwölkchen in die Nachtluft.
Für einen Moment starrten die Jungen einander umklammernd einfach nur die beiden Pferde - einen Fuchs und einen Falben - an, welche die Kutsche zogen. Auf den ersten Blick schienen sie ganz normal - wenn auch von einer seltsam wilden Aura umgeben -, ganz wirklich kamen sie Viktor vor.
Auf den zweiten Blick jedoch fielen ihm die seltsam fahlen Augen der Tiere auf; milchig weiss starrten sie ihm entgegen, als wären die Rösser ganz blind, doch auf wundersame Weise wusste er, dass dem nicht so war. Je länger er die Tiere ansah, desto feuriger schienen ihre Augen zu werden, bis ihm war, als leuchteten sie aus sich selbst heraus, als tauchten sie die Regentropfen in gespenstischen, weiss-bläulichen Glanz.

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