Kapitel 2: Die Dame von Knightsbridge

Mortimer wartete darauf, dass Mr. Farley weitersprach, doch diesem war die versteckte Aufforderung wohl entgangen und er sagte nicht mehr.
„Wären Sie vielleicht so freundlich, mir mehr darüber zu erzählen, Ples?", half er ihm mit sanfter Stimme auf die Sprünge.
Mr. Farley erhob sich ohne ein weiteres Wort und Mortimer fürchtete bereits, ungewollt einen wunden Punkt getroffen und ihn so vergrault zu haben, doch er trat lediglich ans leicht fleckige Fenster, das nach der Strasse ging.
„Seh'n Se da den Hügel?", fragte er und zeigte auf einen Punkt in der Ferne.
Mortimer kniff die Augen zusammen. Ja, dort, weit hinter den Häusern auf der anderen Strassenseite erhob sich ein schmaler Hügel, von dichtem Walt fast vollständig bedeckt.
„Wenn Se genau hinseh'n, können Se 'ne alte Ruine seh'n. Is' aber schon schwer von hier aus", fuhr Mr. Farley fort.
Mortimer nickt bekräftigend. Tatsächlich sah er jedoch nicht das geringste Anzeichen eines Bauwerkes – Ruine oder nicht – auf dem Hügel.
„Jedenfalls war's mal 'ne Ritterburg. Und darin wohnt' auch 'n Ritter. Aber nich' so 'n Braver mit glänzender Rüstung wie in eur'en Märchenbüchern", wandte Mr. Farley sich nun an die beiden Jungen, die ihm gebannt zuhörten.
„War es ein Raubritter?", wollte Viktor eifrig wissen. „Von denen hab ich nämlich gelesen!", fügte er ganz stolz hinzu, in der offensichtlichen Meinung, nun ein Experte zu sein.
„War es?", echote James seinem grossen Bruder nacheifernd.
„Das weiss ich nich'", antwortete Mr. Farley lachend. „Aber ich glaub' 's war schon 'n 'guter' Ritter, bloss 'n schlechter Mensch. Nu guck nich' so, Junge, das geht!"
Viktor sah seinen Vater zweifelnd an, doch der nickte bestätigend.
„Natürlich geht das. Schliesslich ist die Welt ja nicht nur schwarz und weiss."
„Weisste, Junge, er war wohl einigermassen gerecht zu den Leuten hier. Hat se gut beschützt vor plündernden und brandschatzenden Bösewichtern und and'rem Gesocks. Aber zu seinen Hausdienern und seiner Frau soll er sehr hässlich gewesen sein. Hat wohl öfters seinen Gürtel zu spür'n bekommen, das arme Kind. 'S war aber 'n hübsches Frollein, heisst's. Französisch und immer ganz fein und gepudert."
„Wie hiess sie denn?", wollte James, der schon immer ein kurioses Interesse an verwunschenen Jungfrauen und Prinzessinnen hatte, mit glänzenden Augen wissen.
„Och...", machte Mr. Farley gequält. „War so 'n französischer Name, aber ich weiss ihn nich' mehr. Irgendwas mit 'H' glaub' ich." Er drehte sich um und rief nach der Bedienung zu, die am anderen Ende des Schankraums die Tische abwischte: „Hey, Sue! Weisste noch den Namen von der Lady, ob'n auf 'er Burg?"
„'Héloïse' war das, glaub' ich", rief sie zurück ohne sich nach ihm umzusehen. Es war offensichtlich, dass sie kaum Kenntnisse der französischen Sprache besass, denn sie sprach den Namen so falsch aus, dass sich die Nerven in Mortimers Backenzähnen schmerzhaft zusammenzogen.
„Jo, klingt richtig für mich", brummte Mr. Farley. „Also, sie hiess Héloïse. Und auf jeden Fall wurd's ihr irgendwann zu schlimm mit ihrem Mann. Manche sag'n auch, sie hätt' 'nen Liebhaber gehabt. 'N junger Bursche aus 'm Dorf, so einer mit 'nem hübschen Gesicht und ohne Geld in 'en Taschen. Aber ich glaub', das sin' nur die Leut', die aus der Geschichte mehr mach'n, als sie is'. Is' sonst nicht romantisch genug, eh?" Mr. Farley sah Zustimmung heischend in die Runde.
„Möglich, aber vermutlich werden wir es nie genau wissen", meinte Clementine.
„Da hab'n Se sicher recht, Ma'am. Wo war ich 'n jetzt mit 'er Geschichte...?"
„Der Lady wurde es zu schlimm mit ihrem Mann", rekapitulierte Sophie, die eigentlich kein allzu grosses Interesse an der Geschichte hatte, sondern genau wie Clementine lediglich bald wieder gehen wollte.
„Ah, richtig, danke, Miss. Also auf jeden Fall hat die Lady Héloïse beschlossen, dass se 's einfach nich' mehr mit ihr'm Ritter aushält und hat ihre Kutsche vorbereit'n lass'n. Vielleicht wollt' se heim zur Familie, vielleicht auch in 'n Kloster, wer weiss...
Fand ihr Ehemann natürlich nich' so gut. Hat alles versucht, damit se nich' fährt. Ihr das Blaue vom Himmel versproch'n. Aber sie wollt' nich' mehr, da wurd' er zornig. Hat aber auch nix gebracht, so entschloss'n war die Lady. Irgendwann hat er wohl auch geschrien, sie müsst' direkt zur Hölle fahr'n, wenn se's wagt, ihn zu verlass'n."
Mortimer lehnte sich zurück und lächelte. Ein Fremder hätte es wohl für spöttisch halten können, doch Clementine erkannte es als ein interessiertes, mit der Geschichte zufriedenes Lächeln.
„Und?", fragte er erwartungsvoll. „Fuhr Madame?"

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top