Kapitel 13: Was lange währt...

Der Morgen dämmerte bereits, als die Männer Willowgarth Hall erreichten.
Der Regen hatte stark nachgelassen - es nieselte nur noch leicht - und aus den Wiesen stieg ein feiner Dunst, der die Konturen der Welt verwischte wie bei einem Aquarell. Zweifellos würde es ein strahlender Tag werden.
Trotz der durchwachten Nacht erwarteten die Frauen ihre Männer mit einem üppigen Frühstück.
Der Esstisch bog sich unter Bergen von Toast, Marmelade, Tellern mit Spiegeleiern und Rührei, gebratenem Schinken, Speck und Würstchen, Bratkartoffeln, den aufgeschnittenen Resten des Hammelbratens, den es zum Abendessen gegeben hatte, heisser Suppe, Kompott, Porridge, heisser und kalter Milch, Tee, Kaffee und noch vielem mehr, so dass Mortimer sicher war, Katie und die Dorfweiber hätten die Speisekammer gänzlich geleert.

Nachdem James und Viktor sich am Nachmittag, als alle ausgeschlafen waren, eine ordentliche Schelte mit je einer kräftigen Ohrfeige über sich hatten ergehen lassen, berichteten sie ihrem Vater ausführlich von ihrer Begegnung mit Madame Héloïse und dem Versprechen, das sie ihr gegeben hatten.
Neugierig geworden, wie viel Wahres denn an der Geschichte seiner Söhne dran sei, liess es sich Mortimer nicht nehmen, Mr. Farley zum Abendessen einzuladen und ihm danach bei einem Glas Cognac in aller Ausführlichkeit von der angeblichen Lage der sterblichen Überreste Héloïses zu erzählen.

Zum grossen Erstaunen von Mr. Farley und Thomas Warren, dem Lehrling des örtlichen Totengräbers, bestand Mortimer am nächsten Nachmittag darauf, dass seine Söhne ihnen beim Ausheben der Grube an der von Viktor bezeichneten Stelle zur Hand gingen.
„Es scheint mir eine äusserst milde Strafe dafür zu sein, dass sie Knightsbridge in solch eine Aufregung versetzt haben", erklärte er. „Ganz besonders, wenn sich herausstellen sollte, dass ihre Geschichte mit Lady Héloïses Geisterkutsche geschwindelt war."
Eine ganze Weile gruben sie still, bis Mr. Warrens Spaten schliesslich auf etwas stiess, das Mortimer zunächst für einen trockenen Ast gehalten hätte. Bei näherem Hinsehen entpuppte es sich jedoch als eine Rippe, porös geworden und braun verfärbt von der langen Zeit in der Erde.
Nach und nach legten sie mehr und mehr Knochen frei bis schliesslich ein ganzes Skelett vor ihnen in der Grube lag.
„Meiner Treu", machte Mr. Farley und entzündete seine Pfeife, während er sich auf seinen Spaten stützt. „Da is se ja tatsächlich."
„Ich sagte doch, wir schwindeln nicht!", rief Viktor fast etwas beleidigt.
Mr. Warren - eben jener Bursche mit dem lächerlich krausen roten Haar, der die Lampe der Jungen in der Burgruine gefunden hatte - setzte sich fassungslos an den Rand der Grube und nahm einen tiefen Zug aus dem Flachmann, der in seiner Hemdtasche steckte.
„Das hätt' ich nich' gedacht...", murmelte er.
„Als Geist war sie viel, viel hübscher...", fand James.
„Nun, ich denk', von hier an komm'n Mr. Warren und ich gut allein zurecht, nich', Tommy, mein Junge?" Lachend schlug Mr. Farley dem Burschen gegen die Schulter, so dass dieser beinahe in die Grube fiel. „Geht ja scho' bald wieder zurück in die Stadt für Sie, nich' wahr?"
„In der Tat, morgen Mittag fahren wir los.", bestätigte Mortimer.
„Na seh'n Se? Also geh'n Se ruhig, geniess'n Se Ihr'n letzt'n Nachmittag hier und grüss'n Se mir die Frau Gemahlin. Gute Reise wünsch' ich Ihnen, sollt'n wir uns nimmer seh'n."
„Und Madame Héloïse?", fragte Viktor um die Einhaltung seines Versprechens besorgt.
„Ich werd' scho' für 'n ordentliches Begräbnis sorgen, da hab ma' kein' Kummer, Junge", sagte Mr. Farley lachend. „Wer weiss, vielleicht hör'n die Spukgeschicht'n dann ja auch ma' auf."
Mortimer rang Mr. Farley noch das Versprechen ab, ihn zu informieren, sollten sich die Spukphänomene fortsetzen, bevor er mit den Jungen nach Willowgarth Hall zurückkehrte.

Mortimer sah fast ein wenig wehmütig auf Knightsbridge zurück, das am Horizont verschwand, während die Kutsche die Familie zum nächsten Bahnhof fuhr.
Clementine gegenüber vermied er das Thema der Geisterkutsche, wohl wissend, dass ihr Bedarf an Geistererscheinungen und Spukgeschichten mehr als gedeckt war. Insgeheim jedoch, war er in gewisser Weise stolz darauf, wie Viktor die Begegnung mit der geisterhaften Dame gehandhabt hatte.
Und zweifellos hätte sein ältester Sohn bei den nächtlichen Zusammenkünften, welche die Schüler des Abingdon-Internats zuweilen unerlaubt abzuhalten pflegten, nun eine ganz besonders gute Geistergeschichte zu erzählen.

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