Kapitel 11: Die Toten reiten schnell

„Warum fahren Sie denn dann hier herum, Frau Héloïse?", wollte James, nun etwas mutiger wissen.
Einen Moment lang sah Héloïse gen Himmel als müsste sie ihre Antwort erst bedenken.
„Ich weiss es nicht, mon petit", sagte sie schliesslich. „Was ihr hier von mir seht, ist bloss eine Erinnerung, eine Reminiszenz derer, die ich einst war. Sie ist ungenau und schwach. Und dennoch weigert sich, was von mir übrig ist, aus dieser Welt zu schwinden."
Viktor zog nachdenklich die Augenbrauen zusammen und schürzte die Lippen.
„Sind Sie ordentlich begraben worden, Madame?", fragte er nach einem Moment des Abwägens.
„Pardonez-moi?" Madame Héloïses Blick war verblüfft und etwas pikiert, so dass Viktor fürchtete, sie erachte seine Frage als unhöflich oder gar beleidigend.
„Bitte entschuldigen Sie, sollte ich Ihnen mit der Frage zu nahe getreten sein", bemühte er sich daher rasch zu sagen um sie wieder etwas zu beschwichtigen. „Es ist nur... Sehen Sie, mein Vater hat mir einmal erzählt, dass ruhelose Geister oft nicht ordentlich begraben worden sind und Frieden finden können, wenn man das nachholt. Und er meinte auch, dass Sie so zu sagen einfach aus den Chroniken verschwunden wären, ohne dass ein Sterbedatum oder ein Begräbnis erwähnt wurde, da dachte ich eben..."
Madame Héloïses angespannte Schultern sanken ein kleines Stück, doch der gekränkte Ausdruck auf ihrem Gesicht verschwand nicht.
„Verscharrt hat man mich, wie ein verendetes Tier", sagte sie leise, ihr Blick ging nach dem Eulenfelsen.
„Dann können wir Ihnen vielleicht sogar helfen, Frieden zu finden!" Viktors Gesicht schien für einen Moment im Dunkeln zu strahlen.
„Glaubst du wirklich, Vicky?" Zweifelnd sah James zu seinem Bruder auf.
„Naja... Sicher ist natürlich nichts, aber einen Versuch ist es wert."
James dachte einen Moment nach.
„Vater wäre sicher sehr stolz auf uns", meinte er dann zuversichtlich.
„Ja, wir könnten richtige Helden werden! Also was meinen Sie, Madame?"
Madame Héloïse sah noch immer auf den Findling.
„Frieden...", antwortete sie versonnen. „Das ist eine sehr schöne Vorstellung."
„Dann wollen wir es doch versuchen", meinte Viktor drängend, denn von der Kälte, die in der Senke herrschte, wurden ihm Nase und Finger schon ganz taub. „Wenn sie uns nur den Weg zurück nach Willowgarth Hall weisen könnten."
Die Geisterdame sah den Jungen irritiert an. „Willowgarth Hall? Von so einem Ort hörte ich nie."
James begann erneut zu weinen. „Dann kommen wir nie, nie wieder zurück heim zu Mutter und Vater und Sophie und Katie!", schluchzte er elend.
„Ah, non, mon cher, weine nicht." Madame Héloïse wirkte ernstlich betroffen von James' Ausbruch. „Wir finden den Weg bestimmt. Es ist lange her, dass ich im Dorf war. Vielleicht hiess Willowgarth Hall damals noch nicht so oder war noch nicht gebaut."
„Es ist eine alte Mühle, ein bisschen ausserhalb der Stadt", versuchte Viktor, das Cottage etwas genauer zu beschreiben. „Aber wenn wir nur zurück nach Knightsbridge kommen, finden wir den Rest des Weges sicherlich."
„Ich erinnere mich an eine Mühle", sagte Héloïse jedoch zu seiner Erleichterung. „Ihr seid weit vom Weg abgekommen." Eilig schritt sie auf dem Eulenfelsen entgegen und wies auf den Boden. „Hier", sagte sie. „Genau hier liegen meine Gebeine. Rasch, markiert die Stelle, sodass ihr die wieder findet."
Umgehend tat Viktor, wie ihm geheissen und schichtete sorgsam drei Steine über der Stelle auf.
Madame Héloïse nickte befriedigt.
„Und nun steigt ein", sagte sie und wies einladend zur offenen Kutschentür.
Viktor zögerte. Eigentlich hatte er gehofft, die Gefahr, doch noch zur Hölle gefahren zu werden, aushebeln zu können, indem er darum bat, dass Madame Héloïse ihnen lediglich den Weg wies.
„Keine Angst", sagte sie sanft. „Ich fahre wirklich niemanden zur Hölle. Ihr aber solltet schnell aus diesem scheusslichen Wetter. Und auch meine Präsenz tut euch nicht gut. Ich sehe, wie sie euch frieren und zittern lässt, auch wenn ich keine Kälte fühle. Wenn ihr aber zu Fuss geht, wärt ihr bis zum Morgengrauen unterwegs und könntet sehr, sehr krank werden. Daher wäre es das Klügste, mit mir zu fahren, auch wenn es bedeutet, dass ihr euch meiner Kälte noch etwas länger aussetzen müsst. Dafür werdet ihr in Windeseile daheim im Warmen sein, das verspreche ich euch. Les mortes chevauchent vite. Also kommt, mes enfants."
Viktor musste zugeben, dass sie nicht Unrecht hatte. Zudem musste James sich mit seinem verletzten Bein noch immer auf ihn stützen. So wären sie noch länger unterwegs. Und um ganz ehrlich zu sein sehnte er sich mittlerweile nach seinem Bett.
„Was meinst du, Jimmy? Wollen wir ihr vertrauen?", raunte er seinem Bruder zu.
In Gedanken ebenfalls schon sicher in sein warmes, weiches Bett eingekuschelt, nickte James nur.
„Also schön", sagte Viktor etwas lauter, wenn gleich noch immer zögerlich und stieg ein.
Auch in der Kutsche war es bitterkalt, doch wenigstens trocken und die Sitze waren weich mit dunklem Damast gepolstert.
Dicht aneinander gekuschelt übermannte die Jungen doch alsbald der Schlaf, als die Kutsche sich sanft schaukelnd wie eine fürstliche Wiege in Bewegung setzte.

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