Kapitel 10: Auge in Auge
Nach einer Zeit, die den Jungen viel länger schien, als dass sie tatsächlich war, öffnete sich endlich die Türe der Kutsche, die ebenso wirklich schien wie die Pferde, die sie zogen und heraus trat eine Gestalt die umso unwirklicher schien. Ein eigentümlicher Geruch schlug den beiden entgegen - wie von Maiglöckchen und Honig und zugleich muffig wie ein Raum, der mit altem Teppich ausgeschlagen und lange nicht mehr gelüftet worden war.
Das erste, was Viktor auffiel, war, dass die Dame, die ausgestiegen war, von unglaublicher Blässe war. Es war nicht die noble Blässe, wie sie alle Damen stets pflegten, vielmehr schien alles an ihr verblasst zu sein, wie bei einem Gemälde, das zu lange an einem sonnigen Ort aufgehängt gewesen war. Und dennoch war ihre Erscheinung eigentümlich strahlend - wie auch von den Augen der Pferde ging von ihr ein gespenstisches, weiss-bläuliches Leuchten aus, unmerklich zunächst, doch immer intensiver, je länger man sie ansah.
Das Kleid, das sie trug, war weniger prächtig als James und Viktor es sich aufgrund der Bilder in ihren Märchenbüchern ausgemalt hatten. Lediglich das Mieder und eine schmale Bordüre an den Säumen des Überkleides und eine kleine Brosche zierten es. Das Unterkleid war wohl weiss oder cremefarben - genau hätte Viktor es nicht sagen können, wäre es auch um sein Leben gegangen - und besass ganz schlichte, weite Ärmel mit einem schmalen Spitzensaum, der über dem Rand des Mieders hervorlugte.
Auch sass keine goldene Krone oder ähnliches auf ihrem Haupt, sondern nur eine schlichte, schwarze Haube mit einem feinen Netz, das ihr dunkles Haar daran hinderte, auf ihre Schultern hinabzufallen.
Ihr Gesicht war fein geschnitten, mit hohen Wangenknochen und dunklen, klugen Augen. Ein milder, wohlwollender Ausdruck lag darauf, der James und Viktor daran zweifeln liess, dass sie irgendjemanden zur Hölle mitnähme.
Dennoch ermahnte sich Viktor im Stillen, sich nicht von einem freundlichen Gesicht täuschen zu lassen. Man konnte schliesslich nie wissen.
„Bonsoir les enfants", sagte die Dame schliesslich.
Viktor stotterte ein „Bonsoir Madame" zur Erwiderung, sich plötzlich auf seine dürftigen Französischkenntnisse besinnend. Er meinte, von seinem Vater gehört zu haben, dass es helfen konnte, höflich zu einem Geist zu sein. Der Versuch zumindest konnte nicht schaden.
„Wie kommt es wohl, dass zwei kleine Jungen bei Nacht alleine im Wald herumstromern, frag' ich mich." Ihr Englisch war tadellos, wenngleich es das melodische Sprachmuster des Französischen und einen leichten Akzent aufwies. Ein leichtes Lächeln umspielte ihre Lippen.
Viktor beschloss, dass es wohl klüger war, das Thema der Geisterkutsche nicht anzusprechen.
„Wir haben uns verirrt, Madame", sagte er deshalb.
„Weil wir die Geisterkutsche sehen wollten!", warf James ein, bevor Viktor fortfahren konnte.
Sein Bruder hätte ihn ohrfeigen können, doch das leise Lachen der Dame hielt ihn zurück.
„Meine Glückwünsche, ihr habt sie wohl gefunden."
„Dann sind Sie wirklich...?", fragte James verschüchtert.
„Héloïse de Pavilly", erwiderte die Dame und machte einen eleganten Knicks. „Und mit wem habe ich wohl das Vergnügen?"
Viktor schwellte die Brust. „Viktor Crawford, Madame", sagte er selbstbewusst. „Und das ist mein Bruder James."
Er stiess seinen Bruder an, damit er etwas sagte.
„Sehr erfreut", murmelte James in einem Ton, der erkennen liess, dass er wohl keineswegs erfreut war, die Bekanntschaft Lady Héloïses zu machen.
„Nun, Viktor und James Crawford, ihr seid wohl ganz besonders mutig, non?", sagte sie. „Wisst ihr denn nicht, was die Dörfler über mich erzählen?"
„Dass Sie Leute mit zur Hölle nehmen", hauchte Viktor, dem ganz unbehaglich zu Mute wurde. „Dann..." Er schluckte leer. „Dann stimmt das also?"
Erneut lachte Madame Héloïse.
„Non", sagte sie schlicht. „Die Dorfleute fürchten, was sie nicht kennen oder verstehen, das ist alles."
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