Kapitel 1: Ankunft in Knightsbridge
Knightsbridge erwies sich als das kleine Örtchen auf dem Lande, als das Mortimer es sich ausgemalt hatte. Entlang der Dorfstrasse gab es nur das nötigste an Geschäften, überall sah man bezaubernde kleine Cottages und das einzige Teehaus des Städtchens hatte seine Pforten - sehr zu Mortimers Freude und Clementines Ärger - auch für Damen geöffnet.
"Morty, bitte, lass uns erst auspacken. Ich kann doch so nicht in ein Teehaus", meinte Clementine, die sich in ihrem weiss-blau gestreiften Reisekleid etwas fehl am Platze vorkam.
"Unsinn, Liebes, du siehst wie immer ganz wunderbar aus und ich bin sicher, dass du auch im Reisekleid einen guten ersten Eindruck hinterlassen wirst. Immerhin sind wie auf dem Land; hier sind die Leute sicherlich nicht ganz so streif, wie die Damen in deiner Teerunde zuhause. Es wird niemandem auffallen, dass du das falsche Kleid trägst."
Clementine überlegte einen Moment lang, ihn darauf hinzuweisen, dass er die feine Grenze zwischen Nonchalance und Unverschämtheit längst überschritten hatte, verwarf den Gedanken jedoch seufzend wieder. Vermutlich war Mortimer sich dessen bereits vollauf bewusst.
„Also dann los. Eine gute Tasse Tee ist längst überflüssig", bestimmte Mortimer mit einem Blick auf seine kleine silberne Taschenuhr und wandte sich dem kleinen Teehaus zu, während Clementine Miss Binnington bat, in der Zwischenzeit mit dem Hausmädchen Lotti, der deutschen Dogge der Familie, nach Willowgarth Hall, dem Cottage, das Mortimer gemietet hatte, zu fahren und schon einmal mit dem Auspacken anzufangen.
Von Innen glich das Teehaus mehr einem Pub und der Assamtee, den die Wirtin - eine korpulente Frau mit roten Backen und leuchtenden Augen - ihnen servierte, stellte sich als dünne Brühe ohne nennenswerten Geschmack heraus, die Mortimer in seiner Eigenschaft als Kenner und Liebhaber geradezu beleidigte. Immerhin aber fand er, dass die Scones und die Zitronencremetörtchen, die er zum Tee bestellt hatte, ganz wunderbar schmeckten.
Als ein Einheimischer, der anstatt eines Tees einen grossen Krug Ale bevorzugte, Mortimer mit unverschämter Direktheit ansprach, war Clementine, der nach wie vor daran gelegen war, rasch in Willowgarth Hall einzuziehen und sich des Reisekleides zu entledigen, klar, dass es wohl nicht allzu schnell dazu kommen würde.
„Sie sin' wohl auf'er Durchreise, was?", sagte der Fremde in lautem Ton und lachte dröhnend.
„Eigentlich", begann Mortimer, der scheinbar nur darauf gewartet hatte, einen der Einwohner Knightbridges in ein Gespräch verwickeln zu können. „planen wir, für ein paar Wochen in ihrem hübschen, kleinen Örtchen zu bleiben."
„Na sowas!", machte der Mann verblüfft. „Hätt' ich nich' gedacht. Solch feine Leut', die gibt's hier sonst nich'."
Mortimer lachte.
„Ach, das ist in Ordnung. Wäre uns an feiner Gesellschaft gelegen, wären wir in der Stadt geblieben."
Sophie rollte entnervt mit den Augen und hielt den bissigen Hinweis, dass sie genau das hatte tun wollen, jedoch vornehm zurück.
„Na, wenn das so is', können Se mir gern Bescheid sagen, wenn se was brauch'n. Ich heiss' Farley, Pleasant Farley", sagte der Fremde und machte ein Gesicht, als empfände er seinen Vornamen ganz und gar nicht als erfreulich. „Sag'n Se ruhig 'Ples'; mach'n hier alle."
„Sehr erfreut. Mortimer Crawford – Morty für Freunde", erwiderte Mortimer und gab dem Einheimischen die Hand. Zu sagen, dass er Mr. Farley als Freund empfand, wäre zwar vermessen gewesen, aber angesichts der offensichtlichen Gutmütigkeit des Einheimischen beschloss er, auf Förmlichkeiten zu verzichten.
„Meine Frau Clementine", fuhr er mit der Vorstellung fort und Mr. Farley tippte sich an den Schirm seiner Mütze, während er ein unbeholfenes „Ma'am" murmelte, „und meine Kinder Sophie, Viktor und James."
„Nette Racker ham' Se da."
„In der Tat. Aber sagen Sie", kam Mortimer mit unverschämter Direktheit auf sein Lieblingsthema zu sprechen. „Hier in der Gegend gibt es doch sicher eine Menge Sagen und Legenden?"
„Aye, das will ich meinen", sagte Mr. Farley. „Sind Se so'n Heimatforscher oder warum int'ressier'n Sie sich dafür?"
Mortimer lachte. „Nein, normalerweise verkaufe ich Tee und Gewürze. Mythen und Sagen sind viel mehr ein persönliches Interesse, ein Zeitvertreib. Gibt es vielleicht eine, die besonders stark mit der Umgebung hier verbunden ist?"
„Aye, die gibt's."
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