6 - Der Aufbruch
In den nächsten Stunden passierte so viel, dass Lenoa im Nachhinein wohl nicht mehr alles hätte aufzählen können.
Der Bote der Menschen war mit einem Tezandir gekommen, einem inyanzaähnlichen Wesen mit sechs schlanken, langen Beinen, das schneller und zielstrebiger war als die Inyanza. Der ursprüngliche Plan war, dass der ganze Trupp auf Tezandir nach Sernafon ritt, allerdings hatte das Feuer die Ställe dieser Wesen in Gla'zal zerstört, und nicht wenige Tiere waren verletzt oder verschreckt und überall in der Stadt verteilt. Deswegen wurde der Bote mit zwei Schützen und einigen Vorräten auf den verbliebenen drei Tezandir vorgeschickt.
Lenoa verbrachte die meiste Zeit damit, sich von den sehr wenigen Freunden, die sie hatte, zu verabschieden - sie verriet keinem wohin oder warum sie ging, denn ihr wurde eingebläut, niemand Außenstehendem ihr Geheimnis anzuvertrauen, ihr Reisegepäck zu packen - es war nicht viel, was sie mitnahm, sie würden Wert auf Geschwindigkeit und somit leichtes Gepäck legen - und mit Malion zu diskutieren. Ihr Bruder bestand darauf mitkommen zu dürfen, was aber sowohl für Lenoa als auch Alynda nicht in Frage kam. Schließlich gab sich Malion geschlagen und verschwand schlecht gelaunt irgendwo in der Stadt.
Es wurde eine Eskorte für Lenoa zusammengestellt und ein Reiseplan entworfen. Sie würden auf den Inyanza durch halb Medowa reisen bis Kla'zan, der Hauptstadt der Merakyr. Anschließend würden sie zwar versuchen, mit den Inyanza weiterzukommen, jedoch war es unwahrscheinlich, mit einer so großen Gruppe durch das unwegsame Gelände am Fuße des Gebirges Bersalin oder durch den dichten Wald Hendiryn zu kommen. Wahrscheinlicher war, dass sie zu Fuß weiterreisen würden. Falls sie das Menschenreich unbeschadet erreichen würden, könnten sie weiterplanen.
Lenoa wusste nicht, was sie von der ganzen Situation halten sollte. Sie war wie in einer Art Trance, in der es ihr nicht wirklich bewusst war, was das alles bedeutete. Es brauchte lange, bis sie realisierte, dass sie wirklich abreisen würde. Sie saß inzwischen auf ihrem schneeweißen Inyanza Artholan, die Satteltaschen gefüllt mit Proviant.
Seit sie wusste, dass sie Ma'kani war, war ihr klar, dass sich ihr der Käfig der Stadt endlich öffnen würde. Doch bis jetzt war davor immer noch die Hürde der Ratlosigkeit und ihre Mutter gewesen. Beides war jetzt verschwunden, und plötzlich stand ihre Abreise kurz bevor.
Alynda trat durch das geschäftige Treiben um sie herum auf sie zu.
,,Lenoa'', sagte sie und legte eine Hand auf den Hals des Reittieres, auf dem Lenoa saß. ,,Sei vorsichtig. Hör auf die Älteren, sie haben mehr Erfahrung als du. Geh keine unnötigen Risiken ein'', wies die Fürstin sie an und sah ihrer Tochter fest in die Augen.
Lenoa wusste nicht, was sie gegenüber dem Gedanken, ihre Mutter zu verlassen, empfand. Einerseits hatte sie nie eine enge Bindung zu Alynda gehabt, und hätten sie sich unter anderen Umständen als solch enge Verwandtschaft kennengelernt, so hätte Lenoa die Fürstin kaum gemocht. Andererseits war es aber auch ihre Mutter, die, trotz aller Streitigkeiten zwischen ihnen und ihrer Eigenheiten, immer nur das Beste für sie gewollt hatte.
Ohne etwas zu sagen, neigte Lenoa leicht den Kopf und zurrte die Satteltaschen noch einmal fester, um dem Blick ihrer Mutter zu entgehen. ,,Versprich mir, vorsichtig zu sein'', forderte Alynda.
Einige Sekunden zögerte Lenoa und nickte dann. ,,Ich werde es versuchen'', murmelte sie.
,,Viel Glück'', sagte Alynda noch mit fester Stimme, bevor sie weiter ging zu den beiden Schützen, die sie auch nach Sernafon noch begleiten würden.
Maduk trat an Lenoas Seite. ,,Es tut mir leid, dass ich nicht selbst mitkommen kann. Ich würde es, wenn mich nicht die Verpflichtungen gegenüber des Korpses zurückhalten würden. Arsiena und Cyvas sind aber zwei unserer besten Schützinnen. Bis Sernafon sind die anderen ja auch noch dabei'', erklärte er sachlich, lächelte Lenoa dann aber an. ,,Viel Glück. Du schaffst das'', sagte er mit so viel Zuversicht in der Stimme, dass Lenoa endlich aufhörte, gegen die Hochstimmung in ihr anzukämpfen.
Maduk würde sie ein wenig vermissen, Malion mehr, aber sie würde wiederkommen. Nachdem sie Arlemia gerettet hatte. Die leise Brise in ihrer Brust, die sie in ihrem Kopf nun Balyna zu nennen pflegte, schwoll zu einem stolzen Wind an, der sie dazu antreiben wollte, die Fersen in die Flanken ihres Inyanza zu schlagen und loszupreschen. Trotzdem blieb sie reglos sitzen und nickte Maduk nur zu. ,,Danke. Auf Wiedersehen, Maduk'', sagte sie.
Von der Anführerin ihrer Truppe von ungefähr zwanzig Inaari kam das Startkommando und die ersten Inyanza setzten sich in Bewegung. Maduk gab Artholan einen Klaps auf das mit weißem Fell bedeckte Hinterteil, gleichzeitig beugte Lenoa sich im Sattel vor und schnalzte mit der Zunge. Das Inyanza trabte los, wollte sich bei den anderen Pferden einreihen, doch Lenoa hatte anderes im Sinn.
Sie trieb ihn weiter an, sie zogen an den anderen vorbei, aus der Stadt hinaus und über die Wiese vor der Mauer. Der Wind fuhr ihr ins Gesicht, rauschte ihr in den Ohren, vermischt mit den gedämpften Geräuschen der Hufe auf harter Erde. Die Rufe hinter ihr, die sie aufforderten zu warten, waren unwichtig. Wichtig war nur die Freiheit. Ihr Haar wehte im Wind, sie beugte sich tief über den Hals des Tieres und lachte.
Viel zu lange hatte sie das nicht mehr mit Artholan machen können, und sie spürte unwillkürlich, wie viel Freude das Inyanza an diesem Galopp hatte. In einer fließenden Bewegung setzten sie über einen kleinen Bach. Erst dahinter brachte sie das Tier dazu, langsamer zu werden. Artholan bremste langsam ab und peitschte mit dem pfeilförmigen Schweif.
Trotz des Abschieds von beinahe jedem, den sie kannte, hatte Lenoa so gute Laune wie selten in letzter Zeit.
Einige Sekunden später holte der Rest des Trupps auf und Lenoa ignorierte die verärgerten Worte. Sie warf einen letzten Blick über die Schulter auf die Stadt hinter ihr, dann drehte sie sich um und trabte den anderen hinterher.
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Lenoa ritt als Vorletzte, nur Arsiena bildete nach ihr noch das Schlusslicht. Gerade ritten sie in einem gemächlichen Schritt, um die Inyanza nicht zu verausgaben, auch wenn sie sich sicher war, dass Artholan noch Stunden weiter traben, wenn nicht galoppieren könnte. Sie hatte die Augen geschlossen und ließ sich die nachmittägliche Sonne ins Gesicht scheinen.
,,Du reitest gut'', ertönte eine Stimme neben ihr und sie öffnete die Augen, während sie den Kopf drehte. Arsiena hatte aufgeholt und ritt nun auf ihrem stämmigen Inyanza mit rostrotem Fell neben Lenoa. ,,Danke'', sagte die Jüngere lächelnd und neigte den Kopf. Sie wusste, dass Arsiena unter den Bogenschützen weit angesehen war, und dies somit ein hohes Lob war. ,,Mein Vater hat mich auf Artholan gesetzt, sobald ich laufen konnte'', ergänzte sie und tätschelte den Hals des Inyanza, der wie als Zustimmung einmal den für seine Spezies typischen, brummenden Laut von sich gab.
Arsiena lachte und nickte. ,,Ich weiß. Er hat sich bei mir immer beschwert, wenn du mal wieder gefallen bist'', sagte sie lächelnd. ,,Dich und Artholan verbindet etwas, hab ich recht?''
Lenoa nickte ebenfalls und lächelte leicht. ,,Ich kenne ihn schon seit ich denken kann. Und bis jetzt hat er mich noch nie im Stich gelassen. Er ist zwar ab und zu etwas stur, aber eigentlich eine treue Seele. Wenn mich nicht alles täuscht, versteht er jedes Wort das ich sage.''
Kaum hatte sie zu Ende gesprochen, stieß Artholan seine Tatze kräftig in eine schlammige Pfütze und spritzte einige Matschtropfen auf Lenoas Reisekleidung. Das schneeweiße Fell färbte sich am entsprechenden Bein dunkelbraun.
,,Ich schätze das war ein Ja'', meinte Arsiena lachend. ,,Yaranliq weiß auch immer genau wenn ich von ihr spreche.'' Sie fuhr mit den Fingern einmal über das glänzende Fell ihrer Inyanza und Lenoa lächelte, als sie die Zuneigung sowohl auf der Seite der Inaari, als auch auf der des Tieres bemerkte.
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Sie unterhielten sich weiter, bis die Sonne langsam hinter dem Horizont versank und die Dämmerung einsetzte. Lenoa und Arsiena hielten mit den anderen an, in einer Senke gut geschützt vor dem kühlen Wind, der Lenoa jedoch gar nicht störte. Zumindest vermutete sie das, denn sie fühlte sich trotzdem so, als würde sie frieren, auch wenn sie sich beinahe sicher war, dass das nicht am Wind lag. Dazu kam ein unwohles Gefühl der Schuld, von dem sie nicht wusste, was es zu bedeuten hatte.
Der Trupp hatte darauf verzichtet, in einem der Dörfer auf ihrem Weg zu übernachten, um keine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Zwar waren sie - oder besser gesagt, die meisten von ihnen - auf einer Hilfsmission für die Menschen, jedoch waren die Inaari'i ein eitles Volk und viele würden es nicht gutheißen, wären sie in dem Wissen, dass Ihresgleichen einem anderen Volk halfen.
Möglichst unauffällig verließ Lenoa den Platz, an dem sie sich mit Arsiena ihr notdürftiges Nachtlager aufgebaut hatte, und ging zu den Inyanza, die sich in einem Teil der Senke eng zusammen drängten. Artholan war leicht auszumachen, denn nur wenige der Tiere hatten ein solch makelloses, weißes Fell.
Doch Lenoa steuerte nicht auf ihn zu, sondern auf seinen Sattel und die daran hängenden Taschen, die in der Nähe davon lagen. Sorgfältig achtete sie darauf, allen anderen Inaari den Rücken zuzukehren, als sie von ganz unten in der größten Tasche, eingewickelt in einige Stoffstreifen, Inzarn hervorholte. Sobald sie mit den Fingerspitzen über das kühle Metall strich, fühlte sie sich besser.
Gerade, als sie das Schwert wieder verstaut hatte und am Verschluss der Satteltasche herumnestelte, sah sie es. Ein Schatten, der dunkler war als die, die von der untergehenden Sonne erzeugt wurden. Es waren nicht mehr als drei oder vier Grashalme, die pechschwarz gefärbt und tot waren.
Lenoa zögerte. Das letzte Mal, als sie Koryn durch ihre Gabe zerstört hatte, war das neue Leben aus ihrer eigenen Energie gewachsen. Dies war der Hauptgrund, warum sowohl Alynda als auch Nazilda ihr vor der Abreise eingebläut hatten, das zu unterlassen. Sie würde all ihre Energie für die Reise brauchen. Es war ihr aber auch verboten worden, weil die Älteste befürchtete, dass die Kwir, oder noch schlimmer, Daotan, es spüren und lokalisieren könnten, wenn ihre Marke zerstört wurde.
Und die Geheimhaltung von Ma'kanis Erscheinen war der einzige Trumpf, den sie hatten. Die Kwir drangen immer weiter nach Arlemia vor, ihre Truppen wuchsen stetig an. Die Zwerge waren größtenteils übergelaufen. Einen direkten Krieg zwischen Licht und Schatten würden sie kaum mehr gewinnen können.
Andererseits waren dies hier auch nur drei Grashalme. Für einen mächtigen Herrscher wie Daotan ein Nichts, für Lenoa ein weiteres Zeichen ihrer kommenden Zerstörung. Sie hatte das Gefühl, dass ihre Gabe stärker wurde, je länger sie sie mit sich trug. Wenn sie diese drei Grashalme nicht befreite vom Zeichen des Todes, würde sie diesen kleinen Flecken Erde in sich spüren, bis sie weit genug entfernt war. In etwa so, als hätte sie etwas Schlechtes gegessen.
Bevor sie sich nochmal umentscheiden konnte, streckte sie die Hand aus und berührte die Grashalme. Beinahe war ihr das Gefühl so vertraut, wie das Gesicht ihres Bruders, oder das Gefühl der Bogensehne zwischen ihren Fingern.
Als der leichte Windstoß vorbei war, wuchsen hellgrüne, saftige, lebende Grashalme dort, wo Sekunden zuvor noch der Schatten seine Finger im Spiel gehabt hatte. Beinahe war das Gras zu grün, zu gesund für die windgepeitschte, sonnengetrocknete Ebene, auf der sie sich befanden, aber Lenoa fühlte sich trotzdem so, als hätte sie etwas Gutes getan.
Mit einem besseren Gefühl ging sie zurück zu Arsiena, die sie zu ihrem Bedauern bereits schlafend vorfand. Auch viele andere Inaari legten sich unter ihre Reisedecken. Im Kreis um die Senke herum konnte Lenoa die Schemen von sechs Wachen erkennen, die zwischen Ginsterbüschen kauerten und mit den nahezu nachtsichtigen Augen der Inaari die Umgebung nach Angreifern absuchten.
Lenoa war klar, dass solch hohe Sicherheitsvorkehrungen hauptsächlich an ihr lagen. Zwar bezweifelte sie, dass jemand aus diesem Trupp außer ihr selbst, Arsiena und Cyvas, der zweiten Inaari die sie auf ihrer Reise begleiten würde, wusste, dass sie Ma'kani war. Aber auch, wenn sie das nicht wäre, war sie trotzdem die Tochter der Fürstin und ihre Sicherheit hatte oberste Priorität unter den Schützen des Korpses.
Leise seufzend legte Lenoa sich ebenfalls unter ihre Wolldecke und schloss die Augen. Sie wusste, dass sie all ihre Kräfte morgen für die nächste Etappe ihrer Reise brauchen würde. Doch das Lager war erfüllt von Geräuschen, die sie nicht einfach so ausblenden konnte.
Nahe der Stelle, an der sie lag, konnte sie hören, wie sich zwei Schützen unterhielten. ,,Was meinst du, warum ist das Mädchen dabei?'', fragte eine gedämpfte, tiefe Stimme. ,,Du meinst die Tochter der Fürstin? Linea oder wie sie heißt? Keine Ahnung'', erwiderte eine höhere, aber ebenfalls männliche Stimme.
,,Lenoa heißt sie. Irgendwas muss passiert sein, sonst würde die Fürstin sie niemals gehen lassen. Seit ihr Partner gestorben ist, hat sie auf ihre Kinder aufgepasst, wie ein Vogel auf seine Küken'', erwiderte der erste Schütze. ,,Also, wenn du mich fragst, ich bin froh, dass ich geschickt wurde um den Menschen zu helfen. Wenigstens habe ich dann etwas zu tun, und muss nicht nächtelange Wachschichten vor den Gemächern der Fürstenfamilie schieben'', sagte der Zweite.
Lenoa fröstelte und wickelte die Decke enger um sie. Dass die beiden Schützen nicht begeistert von ihr waren, war ihr relativ egal. Wenn sie mit Kritik an ihr selbst nicht auskommen könnte, hätte sie kaum 28 Jahre mit Alynda ausgehalten. Dass sie fror, lag definitiv nicht daran. Aber egal, wie sehr sie sich zusammenrollte und die Decke um sie schlang, das Gefühl der Kälte wurde sie nicht los.
,,Ach, ich finde die Schichten gar nicht so schlimm. Wenigstens kommt da immer jemand vorbei. Ein paar von den Zofen sehen nicht schlecht aus ...'' Die Schützen verfielen in Schwärmereien für ein paar der Zofen und Kammerdienerinnen, und Lenoas Aufmerksamkeit driftete ab.
Sie grübelte darüber nach, wie sie es jemals schaffen würden, die Krone wieder zu reparieren. Mal davon abgesehen, dass sie keine Ahnung hatte, wie sie das anstellen sollte, wussten sie ja nicht einmal sicher, wo sie hin musste.
Wenn sie vom Reich der Menschen zum Linarw wollten, dem See, in dem sich die Insel befand, die ihr Ziel war, mussten sie entweder durch oder um das Gebirge Ankyrila herum. Der Umweg außenherum würde zu lange dauern und dem Schatten zu viel Zeit geben, sich in Arlemia auszubreiten. Der direkte Weg durch das einzige Durchgangstal würde den Zwergen verraten, was sie vor hatten, und die standen beinahe alle auf Daotans Seite.
Lenoa hatte aber keine Wahl. Sie musste die Krone wiederherstellen, oder sie konnten sich gleich alle Daotan ausliefern. Mit einem tiefen Seufzer drehte sie sich einmal um und glitt langsam in einen unruhigen Schlaf.
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