38 - Der Sturm

Es donnerte und blitzte im Sekundentakt, gleichzeitig fing es an zu regnen. Lenoa zog ihren Umhang fester um sich, gerade, als ein erneuter Blitz die Dunkelheit erhellte. Der Wind kam von Norden und blies inzwischen so stark, dass sie Mühe hatte, sich auf den Beinen zu halten. Die Regentropfen waren eiskalt und durchnässten sie innerhalb kürzester Zeit bis auf die Knochen.

In der kurzen Helligkeit, die der Blitz hervorrief, sah Lenoa auf ihre Hände. Grauen machte sich in ihr breit. Der Regen war nicht einfach nur Regen. Das Wasser war schwarz. Wie dunkle Tinte lief es an ihren Fingern hinab und tropfte auf die matschige Erde.

Daotan gewann Arlemia für sich.

,,Wir müssen weiter von den Kwir weg", sagte Paradur und zog Lenoa an einer Hand wieder auf die Beine. Er schien nichts bemerkt zu haben und so wies sie ihn auch nicht darauf hin. Die Umgebung war dunkel genug, es sah ohnehin alles pechschwarz aus.

Sie liefen weiter nach Osten, weg von Dun Leor und der darauf tobenden Schlacht. Die Inaari'i würden nun im Nachteil sein. Der Regen ließ das Feuer schrumpfen, die Schatten sich ausbreiten. Die Kwir waren um einiges stärker, wenn es dunkel war.

Bald würden es nicht nur die kämpfenden Inaari sein, die von der Hand des Schattens starben.

Es dauerte lange, bis sie etwas anderes sahen, als die Felder um sie herum, ab und an erleuchtet von einem Blitz. Die Erde verwandelte sich im strömenden Regen in ein Schlammfeld. Einmal schlug ein Blitz nicht weit von den beiden in einen Baum ein, der zu brennen begann, wie eine Fackel. Der Wind trieb ihnen die Flammen entgegen, doch der Boden war zu nass, um als Brennmaterial zu dienen. Die Regentropfen wurden ihnen wie winzige Messerstiche ins Gesicht getrieben und fühlten sich weniger wie Regen, als wie Hagelkörner an. Lenoa zog ihren Umhang so weit nach oben, dass er geringfügigen Schutz für ihr Gesicht bot. Der nasse Stoff war schwer und dunkel vom schwarzen Wasser.

Lenoa war klar gewesen, dass sie irgendwann auf den Gordam stoßen würden und doch war sie erschrocken, als sich der reißende Fluss vor ihnen auftat. Das Wasser floss schnell und war genauso dunkel wie der Rest des Landes.

,,Wir müssen zur Weißen Furt kommen'', rief Paradur über ein erneutes Donnergrollen hinweg. Lenoa nickte nur und sparte sich den Atem einer Antwort.

Im Licht eines erneuten Blitzes sah sie flussabwärts, wo sie in einiger Entfernung gerade noch so die Brücke ausmachen konnte. ,,In diese Richtung'', sagte sie laut, wurde jedoch fast vom Lärm des Sturmes übertönt.

Gemeinsam mit Paradur stapfte sie flussabwärts. Der Wind schob sie in stolpernden Schritten nach vorn. Die Weiße Furt war so breit, dass zehn Pferde hätten nebeneinander darüber reiten können. An den Rändern floss das schwarze Wasser über den weißen Stein und bildete große Pfützen am Ufer.

Lenoa sank mit einem Fuß in den weichen Schlamm am Wasserrand. Mit einem schmatzenden Geräusch zog sie ihren Knöchel wieder heraus und verlor beinahe das Gleichgewicht. Paradur bewahrte sie vor einem Sturz, indem er ihren Unterarm packte und sie so auf den Beinen hielt.

,,Danke", murmelte Lenoa flüchtig und gemeinsam überquerten sie den dunklen Fluss. Auf der anderen Seite veränderte sich nicht viel, doch sie fühlte sich trotzdem besser mit dem breiten Fluss zwischen ihnen und den Kwir. ,,Wir müssen weiter Richtung Norden. Nach Süden und nach Osten kommen wir nur in den Makuyam, im Norden sind die Kernakan. Dort haben wir vielleicht ein wenig Schutz vor dem Sturm", sagte sie laut, um die Geräusche des Sturms und des Flusses zu übertönen.

Paradur schüttelte den Kopf. ,,Ihr Inaari'i habt seltsame Bezeichnungen für Orte", rief er. ,,Aber falls du mit Makuyam den Sumpf der lebenden Toten meinst und mit Kernakan die Hügel südlich von Medowa, dann ja, sollten wir weiter nach Norden gehen."

,,Genau die meine ich", entgegnete Lenoa und drehte sich nach links. Der Wind blies ihnen nun entgegen, so stark, dass sie nur kleine Schritte machen konnten und sich weit nach vorne beugen mussten, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren. Schon bald keuchte Lenoa vor Anstrengung.

Nach einer Weile - es war nicht zu sagen, wie lange sie schon so voran stolperten - war ihre Umgebung nicht mehr so flach und eben wie zuvor, sondern führte sie in sanften Wellen auf und ab. Lenoa und Paradur hielten sich nordöstlich, um sich weiter vom Fluss zu entfernen, der zweifellos irgendwann über die Ufer treten würde.

Es war schwer festzustellen, ob sie überhaupt noch in die richtige Richtung liefen. Ohne Sonne waren die Himmelsrichtungen nicht einfach zu erkennen, doch sie gingen stetig weiter in die Hügel hinein.

In den tiefer gelegenen Tälern war der Wind nicht so schlimm und die Regentropfen schmerzten nicht auf der Haut, doch auf den Hügelkuppen dafür umso stärker. Nach einigen Auf- und Abstiegen, hielten sie sich in den Senken und Mulden.

,,Ich glaube, dort vorn ist eine Höhle, oder zumindest ein Überhang", rief Lenoa und deutete schräg vor sich. 

,,Dann sollten wir dorthin", entgegnete Paradur und drehte sich in die angedeutete Richtung.

Als sie näher kamen, sah Lenoa, dass es eine recht flache Felsplatte war, die waagrecht in einem Hügel lag und von den Wurzeln eines Baumes stabilisiert wurde. Die Erde war an den Seiten heruntergerutscht und bildete so einen Überhang, der durch den Stein darüber und die Erde an den Seiten Schutz vor Wind und Regen bot.

Es war inzwischen noch dunkler geworden und selbst mit Lenoas Nachtsicht waren sie schon nahe gekommen, als sie bemerkte, dass sich unter dem Stein etwas bewegte. Doch auch, als sie bis auf wenige Meter herantrat, eines der gestohlenen Messer in der Hand, konnte sie die Gestalten nicht erkennen.

Ein Blitz durchzuckte die Dunkelheit, ein weiterer folgte beinahe gleichzeitig, begleitet von ohrenbetäubendem Donner. In der kurzen Helligkeit erkannte Lenoa die auf sie gerichtete Pfeilspitze und die gespannte Bogensehne.

,,Keinen Schritt näher", sagte eine dünne Stimme, nachdem der Donner verklungen war. ,,Oder ihr seid tot, bevor ihr eine Hand an eure Waffen legen könnt."

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