36 - Die Festung

Es begann mit den Schatten, die sich am Ufer verdichteten. Es setzte sich fort mit der Dunkelheit, die sich um die Gruppe sammelte, die sich von den leuchtenden Tieren zu sehr ablenken ließ, um das zu bemerken.

Es endete mit einem Angriff.

Das Erste, was Lenoa mitbekam, war ein Schlag auf den Kopf. Sie fuhr erschrocken auf, wollte sich umsehen. Die Leuchttiere erloschen alle auf einmal. Es war so dunkel um sie herum, dass sie selbst mit ihrer Nachtsicht auch Inzarn direkt neben ihr nicht erkennen konnte.

Einige Sekunden war es still. Viel zu still. Sie hörte nicht einmal den Atem der anderen. Ihr Kopf pochte und ihr war schwindelig. Dann durchschnitt ein Schrei die drückende Dunkelheit. Arsiena.

Als wäre das der Startschuss gewesen, kam Bewegung in die Dunkelheit. Lenoa wurde zu Boden gestoßen. Panisch suchte sie mit den Händen nach Inzarn, doch sie spürte nichts außer Erde und Gras.

Etwas griff nach ihrem Fuß, sie trat danach und spürte, dass sie etwas Metallisches traf. Sie wurde an ihrem Handgelenk nach oben gezogen und schrie erschrocken auf.

Jetzt stieß ihr Fuß gegen etwas Längliches, auf dem Boden liegendes. Inzarn. In der vollkommenen Dunkelheit und mit Kwir überall um sie herum, versuchte sie das Schwert aufzuheben.

Ein glühender, explosionsartiger Schmerz auf der linken Seite ihres Kopfes war das letzte, das sie spürte.

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Die Kwir rüsten sich. Sie sammeln sich. Sie machen sich für einen Angriff bereit.

Die Fürstin spürt es. Sie weiß es. Sie will den Kampf zu ihnen tragen. Die Zeit ihrer Herrschaft ist vorüber. Das Licht hat versagt. Es ist der letzte Kampf.

Sie stellt ein Heer zusammen. Die Fürstin wird mitkämpfen. Sie hat ihren Partner verloren, jetzt ihre Kinder. Nun verliert sie sich selbst.

Das Heer zieht in den Süden.

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Als Lenoa aufwachte, war es dunkel. Nicht pechschwarz, aber doch so, dass sie kaum erkennen konnte, wo sie war. Vorsichtig setzte sie sich auf. Ketten klirrten und ihr wurde bewusst, dass ihre Handgelenke mit schweren Metallketten an der Wand befestigt waren.

,,Du bist wach", sagte eine Stimme und Lenoa fuhr so erschrocken herum, dass ihr schwindelig wurde.

,,Paradur", murmelte sie und kniff die Augen zusammen, um den Zwerg in der Düsternis ausmachen zu können. Auch er war an die Wand gekettet. Seine Kleidung war an einigen Stellen blutig. ,,Was ist passiert?"

,,Die Kwir haben uns auf der Halbinsel angegriffen. Du warst bewusstlos, mich haben sie gefesselt und mitgenommen. Die anderen konnten fliehen, sind aber allesamt verletzt."

Lenoa schwankte und lehnte sich an die raue Steinwand hinter ihr. Das war es also. Sie würden keinen schnellen Tod in einer Schlacht erlangen, wie sie es sich erhofft hatte. Wie es bei Malion gewesen war. Sie waren gefangen und würden nicht mehr frei kommen.

,,Wo sind wir?" Sie ließ den Blick durch den Raum schweifen. Es gab weder ein Bett noch einen Tisch oder einen Stuhl. Die Wände waren grob gehauen und aus massivem Stein. In einer Ecke stand ein Eimer. Weit oben an der Wand war ein winziges Fenster mit dicken Eisenstäben. Draußen war es dunkel, doch Lenoa glaubte nicht, dass es Nacht war.

,,Dun Leor", sagte Paradur knapp und folgte ihrem Blick nach oben. ,,Es müsste gerade ungefähr Mittag sein, wenn ich mich nicht irre. Seit wir hier sind, war es kein einziges Mal hell."

Lenoa stöhnte leise. Dun Leor war der nördlichste Außenposten der Kwir und einer der am besten gerüstete. Viele Inaari wurden hier gefangen genommen und keine kehrte daraus zurück.

Unwillkürlich fuhr ihre Hand zu ihrer Hüfte, dort, wo normalerweise der Griff eines Schwertes zu finden war. Natürlich trug sie Inzarn nicht mehr.

Es dauerte ein paar Sekunden, bis ihr bewusst wurde, was das bedeutete. Wenn sie Inzarn nicht mehr hatte, war die Wahrscheinlichkeit hoch, dass der Schatten das Schwert hatte. Und wenn der Schatten das Schwert hatte, wusste Daotan ganz genau wer und was sie war und was ihre Gefangenschaft bedeutete.

Arlemia lag ihm zu Füßen.

Panik durchfuhr sie und sie begann zu zittern. Daotan würde sie nicht lange in einer Zelle in Dun Leor versauern lassen. Sie würde nach Ska'thur kommen und von ihm persönlich gefoltert und getötet werden. Ma'kani war verloren.

,,Keine Sorge, sie haben das Schwert nicht", sagte Paradur und zuckte mit den Schultern. 

Lenoa sah auf. ,,Wie bitte?"

,,Es lag noch im Gras, als sie mich an ihre Reittiere gebunden haben. Vermutlich haben die anderen es mitgenommen. Aber denen wird es nichts außer noch mehr Gefahr bringen, wenn man sie damit sieht", meinte der Zwerg.

Lenoa war dennoch erleichtert. Egal, wie hoffnungslos ihre Situation gerade war, es ließ sie sich doch ein wenig besser fühlen, dass die Kwir scheinbar nicht wussten, wer sie war. Ansonsten wäre sie sicherlich schon nach Ska'thur gebracht worden.

,,Hier. Ich habe dir etwas übrig gelassen." Paradur warf ihr ein Stück Brot zu und schob einen kleinen Krug mit Wasser näher zu ihr. Lenoa hatte weder Hunger noch Appetit, doch sie aß das nach nichts schmeckende Brot und trank das säuerliche Wasser.

Zum ersten Mal seit Malions Tod fühlte sie wieder etwas, das die tiefe Leere und Hoffnungslosigkeit in ihr übertönte. Angst. Sie hatten keine Waffen, sie lagen in Ketten und waren höchstwahrscheinlich von Kwir umgeben.

Bei früheren gefährlichen Situationen auf ihrer Reise, hatte sie zumindest immer etwas in der Hand gehabt. Sie konnte sich selbst verteidigen. Sie konnte fliehen. Sie konnte ihre nächsten Schritte planen.

Nun gab es nichts zu verteidigen, keinen Ort, an den sie fliehen konnte, keine nächsten Schritte, die man planen konnte.

Es war einfach vorbei.

Lenoa rollte sich auf dem Boden zusammen und schloss die Augen. Vielleicht konnte sie sterben, bevor die Kwir kamen. Bevor es zu spät war, ihren Bruder einzuholen.

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