35 - Die Halbinsel

Es dauerte lange, bis Lenoa wieder ans Festland zurückkehrte. Die anderen suchten sie und riefen aufgeregt, als sie, unterstützt von den Wassermenschen, wieder über das Wasser zu ihnen kam.

Es war einer der dunkelsten Tage bisher. Schon seit den Bergen gab es immer wieder Tage, an denen unnatürlich graue Wolken den Himmel bedeckten, doch nun schien es, als würden sich die Schatten ausdehnen. Als verschluckten sie langsam aber sicher das Licht und damit das Leben. Die Sonne war nicht auszumachen hinter beinahe schwarzen, tief hängenden Wolken.

Mit wenigen Sätzen setzte sie Arsiena, Paradur, Arian und Kelmor ins Bild. Danach war es eine lange Zeit einfach still.

Sie hatten nie weitergeplant. Es war unwahrscheinlich genug gewesen, dass sie den See unbeschadet erreichten. Und unbeschadet waren sie nun ja auch nicht mehr. Nie war ihnen in den Sinn gekommen, dass es gar nicht zwingend die Insel Thelyn sein musste. Sie waren nur immer davon ausgegangen, weil es die einzige bekannte Insel in Arlemia war.

Lenoa sprach es nicht aus, aber sie dachte es und war sich beinahe sicher, dass die anderen denselben Gedanken hatten.

Was, wenn die Insel, die sie in ihrer Vision gesehen hatte, nicht in Arlemia war?

Dann hatten sie beinahe keine Chance, sie zu finden. Niemand kannte sich außerhalb der Grenzen aus. Nördlich von Medowa befand sich Niemandsland. Wüste, unfruchtbarer Boden. Östlich davon erstreckte sich in einiger Entfernung ein ewiger Wald, dessen Bewohner meist der Inhalt der Geschichten über Schreckenswesen für kleine Inaari waren. Lenoa hatte keine Ahnung, was sich hinter den anderen Grenzen Arlemias befand.

,,Was ist mit der Halbinsel?'', fragte Kelmor nachdenklich. Etwas weiter südlich am Ufer entlang würden sie zu einer Halbinsel im See gelangen, die, soweit Lenoa wusste, recht unspektakulär war. Doch sie hatte ja auch nie wirklich gesehen, dass das Ziel ihrer Reise eine Insel war. Sie hatte es einfach gewusst.

,,Ein Versuch ist es wert, oder nicht?", meinte Arian. Wieder sprach keiner es aus, aber alle dachten es. Sie hatten keine andere Wahl. Wenn sie die Halbinsel nicht auch noch absuchten, gab es keine andere Möglichkeit mehr, als umzukehren. Und wer wusste schon, wie viele der Städte in den Reichen der Menschen und der Inaari'i noch standen.

Während die anderen ihre Sachen packten, beobachtete Lenoa sie mit ein wenig Abstand. Arian half Arsiena dabei, ihre Decke wieder so eng zusammenzurollen, dass sie nicht zu viel Platz wegnahm. Paradur reichte Kelmor seinen Wasserschlauch, der etwas davon trank und ihn dann an Arian weiterreichte.

Es war eine Einheit. Die Gruppe war durch die Reise zusammengeschweißt worden. Auch Kelmor begann, seinen Platz zu finden. Lenoa hatte sich davon distanziert. Sie war anders.

Es hatte schon in den Bergen begonnen, als sie Arian mit seiner Verletzung geholfen hatte. Ab da hatte sie sich immer mehr abgesondert. Sie aß nicht mit den anderen, sie schlief nicht mit den anderen und sie hielt stets allein Wache.

Malion war ihr Anker gewesen. Er hatte sie aufrecht gehalten, dafür gesorgt, dass sie sich nicht zu weit entfernte. Nun trieb sie in unbekannte, gefährliche Gefilde, in denen sie kein anderer mehr erreichen konnte.

Ihr Körper war ihr egal. Sie war abgemagert, hatte mehrere Schrammen und kleinere Blutergüsse. Ihr Geist war gebrochen. Wäre da nicht Balyna in ihrem Inneren gewesen, hätte sie schon längst aufgegeben. Die ganze Welt war dunkel genug, um den Eindruck zu übermitteln, Daotan habe längst gewonnen. Doch dieser Wind in ihr bewies das Gegenteil.

Langsam gingen sie weiter. Weiter Richtung Süden. Weiter Richtung Dunkelheit. Keiner unterhielt sich. Lenoa schätzte es inzwischen auf späten Vormittag, doch die Sonne war nicht zu sehen und die Umgebung blieb unverändert düster.

Sie fragte sich, ob die Sonne jemals wieder scheinen würde.

Nach Lenoas Zeitgefühl kamen sie am Nachmittag an der Halbinsel an. Die Landbrücke war breit genug, dass sie alle mit einer Armlänge Abstand nebeneinander laufen konnten. Weiter in den See hinein wurde es noch breiter.

Lenoa wusste, sobald sie einen Fuß auf das trockene, harte Gras setzte, dass auch diese Suche vergeblich war. Trotzdem sagte sie nichts, bis jeder von ihnen die Halbinsel einmal umrundet hatte. Kein Kiesufer.

Es waren keine Worte nötig. Ihnen allen war die Bedeutung dieser Niederlage bewusst. Ihre Reise endete hier. Sie hatten versagt. Daotan hatte freie Bahn. Nichts hinderte ihn mehr daran, Arlemia der Dunkelheit zu übergeben.

Sie setzten sich in einen Kreis auf die Halbinsel. Es wurde noch dunkler als den ganzen Tag über. Lenoa legte sich auf den Rücken und starrte in die düsteren Wolken, die beinahe zu pulsieren schienen. Sie hatte Inzarn neben sich in die Erde gesteckt, die edle Klinge mit Erde besudelt.

Über ihr hingen einige Äste eines Strauches mit kleinen, länglichen Blättern. Lustlos streckte sie eine Hand nach oben und strich die Kanten entlang. Die Blätter erzitterten leicht. Nach einigen Sekunden schienen sie sich zu bewegen und Lenoa betrachtete sie genauer.

Es waren keine Blätter. Das Tier streckte die Flügel aus und erhob sich in die Luft, gleichzeitig begann es zu leuchten. Noch mehr Blätter veränderten ihre Form und begannen zu fliegen, alle mit gelb glimmender Unterseite.

Es war ironisch, dass gerade hier, am trostlosen Ende aller Hoffnungen, etwas so schönes zustande kam. Die Tiere flatterten in Kreisen um die Sträucher, ließen immer mehr Artgenossen ebenfalls ihre Tarnung aufheben. Das Leuchten wurde heller, je länger es dauerte.

Lenoa war, genauso wie ihre Mitreisenden, gebannt von dem Schauspiel, das sich ihnen darbot. Das gelbe Licht spiegelte sich in der Klinge Inzarns wider, mischte sich mit dem bläulichen Glimmen des Schwertes.

Die Umgebung wurde noch dunkler. Das Wasser um die Halbinsel herum war pechschwarz. Die Wolken verdichteten sich weiter. Doch der Umkreis von Lenoa und den anderen wurde weiterhin erhellt.

Und so kam es, dass keiner von ihnen bemerkte, wie der Schatten kam.

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