24 - Der Wald
Die Spannungen innerhalb ihrer kleinen Gruppe waren beinahe greifbar. Paradur sprach weder mit Malion noch mit Lenoa und auch mit Arsiena ging er distanziert und steif um. Letztere versuchte unermüdlich, die Stimmung aufzuheitern und Streit zu schlichten. Malion und Lenoa blieben meist zu zweit.
Arian erholte sich. Sein Fieber kam nicht wieder und die Wunde entzündete sich nicht. Er war jetzt meistens wach und klagte nur über zu wenig Essen.
Keiner sprach es aus, aber jeder dachte es. Sie mussten weiterreisen. Ansonsten würden sie schlichtweg verhungern. Ihre Vorräte waren für eine viel kürzere Reise geplant gewesen, die sich schon durch ihre Abweisung vor Sartirn verlängert hatte. Jetzt mit fehlendem Führer hatten sie keine Ahnung, wie lange sie brauchen würden.
Ein paar Mal unternahmen Malion, Arsiena und Paradur kurze Streifzüge durch die Umgebung, auf der Suche nach Gebirgsbeutetieren. Doch noch immer war der ein oder andere Zwergentrupp auf der Suche nach ihnen und sie trauten sich nicht zu weit weg, falls Lenoa und Arian angegriffen wurden.
Lenoas Wunde heilte in beinahe unheimlichem Tempo. Nach fünf Tagen konnte sie wieder einigermaßen laufen, wenn auch nur kurze Strecken. Nach einer Woche beschlossen sie, wieder in Bewegung zu kommen.
Das war hauptsächlich Lenoa zu verdanken, das wusste sie. Sie war so rastlos und nervös, dass sie alle damit ansteckte. Stundenlang tigerte sie vor dem Höhlenausgang auf und ab und starrte die weißen Berggipfel an.
Zuerst konnten sie nur kleine Strecken auf einmal gehen. Arian war schnell erschöpft und brauchte viele Pausen, außerdem kamen sie nur langsam voran.
Sie hatten beschlossen, erstmal die höchste Gebirgskette anzusteuern, die Kelmor ihnen freundlicherweise gezeigt hatte. Von dort hatten sie die Hoffnung, einen guten Überblick über das Gebirge zu haben und zu sehen, wo ein Weg wieder hinausführte.
Es fiel Lenoa schwer, ihr Tempo zu drosseln. Der Wind in ihr drängte sie immer weiter, immer schneller. Bei jeder weiteren Pause, mit jedem weiteren Tag, wurde sie nervöser.
Die ersten Tage blieb der Himmel klar und blau und die Sonne schien ungehindert auf sie hinab. Nur der Wind, der über den Hang fuhr, sorgte dafür, dass es nicht heiß wurde. Zunächst reisten sie bergab, in eines der kleineren, bewaldeten Täler. Dort gelang es ihnen, den ein oder anderen Hasen zu schießen.
Sie erlaubten sich dort - trotz Lenoas Widerspruch - zwei Tage zu rasten. Arsiena fand Beeren, mit denen sie alle ihre Taschen füllten. Ein paar seltsame Vögel, die keiner außer Paradur schon einmal gesehen hatte, saßen in den Bäumen herum und klackerten laut mit den Schnäbeln, sobald man ihnen zu nahe kam.
In einer anderen Zeit, in einer anderen Situation, hätte Lenoa den Wald wunderschön gefunden.
Die Bäume standen nicht zu dicht, um jegliche Sonne auszuschließen. Es gab mehrere Lichtungen mit hohem Gras und bunten Blüten. Unter den Bäumen malte die Sonne helle Flecken auf das Unterholz. Viele Bäche sammelten sich hier zu einem Fluss, der nach Osten das Tal entlang floss. Das Wasser war eiskalt und sauber, der Flussgrund mit abgeschliffenen, oftmals farbigen Steinen bedeckt. Das Unterholz war dicht genug, um unzähligen, kleinen Tieren Heimat zu bieten. Die meisten erkannte Lenoa aus Medowa wieder, einige hatte sie noch nie gesehen. Sogar Paradur waren einige unbekannt. Nie war es ganz still, überall hörte man Vögel zwitschern, Wasser plätschern oder Tiere rascheln. Auch nachts waren Fledermäuse, Eulen und andere nachtaktive Geschöpfe unterwegs. Der Wind brachte die Blätter der Bäume zum Rascheln. Ein Teil des Waldes war von Bäumen mit tiefroten Blättern bewachsen, die ein ungewöhnlich knisterndes Geräusch im Wind machten. Es roch nach Harz und frischem Gras, nach Kiefernnadeln und Lavendel. Die Bäume mit den roten Blättern verströmten einen süßlichen Duft, der so angenehm war, dass sie ihr Nachtlager direkt daneben aufschlugen. Der Wind brachte Frische mit und erweckte den Eindruck von purem Frieden, den keine Waffe der Welt zerstören konnte.
Lenoa versuchte, diese zwei Tage zu genießen. Sie versuchte, die Eindrücke auf sich wirken zu lassen. Die Farben, den Geruch, die Geräusche. Das Leben.
Für einen Nachmittag gelang es ihr. Der Wald war unberührt von Koryn, keinen einzigen schwarzen Fleck entdeckte sie, kein einziges verdorrtes Blatt.
Lenoa stellte sich vor, wie es wäre, mit den Inaari'i hierher zu ziehen. In dieses kleine Paradies voller Leben, das so viel friedlicher war, als die Welt außerhalb. Sie konnten neue Städte bauen, neue Dörfer. Sie malte sich diese Zukunft aus. Kein Krieg, kein Tod, kein Schatten. Sondern Frieden. Sie konnten sich abschotten von allem anderen und ruhig weiterleben. Keine Gefahren, keine Kämpfe. Frieden. Mit den Zwergen, mit den Bewohnern des Waldes, untereinander. Lenoa würde sich nicht mehr mit ihrer Mutter streiten. Sie konnte die Umgebung, die wunderschöne Natur, mit Malion erkunden. Sie konnte lachen, fröhlich sein, das Leben genießen. Es war eine schöne Zukunft.
In der folgenden Nacht träumte sie von brennenden Städten, schreienden Inaari, sterbendem Licht. Der Schatten kam wie eine Welle über sie, riss ihren Damm aus Hoffnungen ein und hinterließ nichts, als ein von Dunkelheit überschwemmtes Trümmerfeld.
Am Morgen packte Lenoa ihr Gepäck zusammen und weckte die anderen noch vor Sonnenaufgang. Sie mussten weiter.
Alle vier wirkten sie träge, verschlafen, als hätten sie gedacht, hier jetzt einen dreiwöchigen, entspannten Erholungsurlaub machen zu können. Lenoa drängte sie weiter.
Plötzlich wirkte der Wald nicht mehr wie ein kleines Paradies. Jedes Geräusch ließ sie zusammenzucken, jede Bewegung am Rande ihres Gesichtsfeldes versetzte sie in Alarmbereitschaft. War das wirklich nur ein Vogel, der sich hinter dem Baumstamm verbarg, oder lauerte dort ein Kwir? War es das Rascheln eines friedlichen Tieres oder starrten sie die roten Augen eines Bekra sie aus den Schatten an? Der süßliche Geruch der roten Bäume kam ihr schwer und unnatürlich vor. Beinahe hätte sie sich davon übergeben müssen.
Lenoa führte die anderen so schnell es ging aus dem Wald. Ihre Sinne waren wie benebelt, sie fühlte sich krank. Erst, als sie die Bäume hinter sich ließen und über einen freien Hang marschierten, wurde es besser.
Es war der Geruch gewesen, das wusste sie jetzt. Er hatte sie alle eingelullt, in Sicherheit gewiegt. Lenoa wollte sich gar nicht vorstellen, was passiert wäre, hätten sie noch länger dort ausgeharrt.
Malion, Arsiena, Paradur und Arian wirkten, als wären sie aus einer Trance erwacht. Als hätten sie eben bemerkt, dass sie schlafwandelten und würden jetzt erst wieder zu Sinnen kommen
Es tat gut, den Wind im Gesicht zu spüren. Er vertrieb die letzten Spuren des süßlichen Dufts und fachte erneut das Feuer in Lenoa an. Arians Wunde hatte in den zwei Tagen einen guten Fortschritt gemacht - keiner wusste, ob auch das an diesen seltsamen, rotblättrigen Bäumen lag - und so konnten sie wieder längere Zeit am Stück laufen.
Von Lenoas Wunde am Oberschenkel sah man jetzt schon nichts mehr, außer einer roten, empfindlichen Linie, wie eine kürzlich vernähte Wunde.
Noch immer waren die anderen eher distanziert zu ihr. Sogar Arian, nachdem man ihm erzählt hatte, was passiert war, als er bewusstlos gewesen war. Doch Lenoa hatte kein Interesse daran, alle umzustimmen. Sie hatte anderes im Kopf.
Sie musste sich zwingen, etwas zu essen und zu schlafen. Jede Faser ihres Körpers zog sie weiter die scheinbar endlosen Berge hinauf. Sie aß am wenigsten von allen, hielt am öftesten und am längsten Wache, war morgens als erstes auf den Beinen und stimmte als letztes einer Pause zu.
Ihr Körper litt unter diesen Umständen, sie wusste das. Abends zitterten ihre Hände und ihre Beine, sie schlang immer die Decke um sich damit es niemand bemerkte. Morgens waren ihre Muskeln steif und schmerzten und jeden Tag fiel es ihr schwerer, sie wieder zu lockern. Trotzdem machte sie weiter. Bei jeder Pause war sie die Erste, die wieder aufstand und weiter drängte. Bei jeder Mahlzeit war sie die Letzte, die sich etwas nahm. Malion versuchte, sie davon abzuhalten, aber sie hörte nicht auf ihn. Sie könnte sich ja selbst nicht davon abhalten, auch wenn sie wollen würde.
Je schneller sie lief, desto weiter kam sie. Je weniger Pausen sie machte, desto mehr konnte sie laufen. Irgendwo in ihr, war die Hoffnung, damit etwas zu erreichen.
Hoffnung. Sie brannte in Lenoas Herz, in ihren Adern, in ihren Muskeln, heißer als jede Flamme. Hoffnung befeuerte sie, gab ihr die Energie, die sie brauchte.
Am zehnten Tag nach ihrem Aufbruch von den roten Bäumen, spürte sie die eisigen Klauen, die die Flammen in ihrem Griff erstickten.
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