23 - Das Misstrauen
Lenoa wusste genau, wann der rechte Zeitpunkt gekommen war, um aufzuhören. Sie nahm die Hand von Arians Körper und verschloss den Energiezufluss des Windes.
Nun erst nahm sie wieder etwas anderes wahr. Das Gewitter war noch stärker geworden, der Wind wehte sie fast um und sie zitterte am ganzen Körper. Balyna in ihrem Körper wirbelte herum. Als sie die Augen öffnete, stürzten Malion, Arsiena und Paradur zu ihr und Arian.
Mit der Hilfe der drei schaffte Lenoa es zurück in die Höhle und Arian wurde wieder im hinteren Teil auf den Decken abgelegt. Sie setzte sich ungelenk neben ihn und legte eine Hand prüfend auf seine Stirn.
,,Sein Fieber ist weg. Haltet ihn warm. Ich kann seine Wunde nicht heilen, ich kann ihm lediglich mehr Energie geben, damit er es selbst tut", sagte sie in schnellen, hastigen Worten. Paradur begann sofort, Arian abzutrocknen und wieder in die Decken zu hüllen.
Lenoa war erschöpft. Obwohl sie Arian nicht mit ihrer eigenen Energie geholfen hatte, war es doch anstrengend für sie. Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich an die raue Steinwand hinter ihr.
Eigentlich wollte sie nicht schlafen, sondern warten, ob es Neuigkeiten bei Arian gab, doch die Müdigkeit war stärker. Trotz ihrer unbequemen Position fiel sie in einen tiefen Schlaf.
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Als sie wieder aufwachte, war das Gewitter vorübergezogen. Lediglich der Wind heulte laut wie eh und je über den Hang. Draußen dämmerte es, die Sonne warf ihre letzten rötlichen Strahlen durch die Berge.
Lenoa lag wieder unter ihrer Decke, jemand musste sie hierher getragen haben. Ihre Erschöpfung war verflogen, sie fühlte sich regelrecht gut. Auch die Schmerzen in ihrem Bein schienen zu schlafen.
Leise Stimmen waren hinter ihr zu hören, dort, wo der Höhleneingang sich befand. Sie versuchte zu verstehen, was gesagt wurde, doch der Wind war zu laut und die Stimmen zu leise. Einuge Male glaubte sie jedoch, ihren Namen zu hören.
Vorsichtig drehte sie sich um und öffnete die Augen. Das erregte die Aufmerksamkeit von Paradur, der sich direkt neben dem Eingang mit Malion und Arsiena unterhalten hatte.
Der Zwerg kam zu ihr herüber und bedachte sie mit einem prüfenden Blick. ,,Wie geht es dir?", fragte er. Seine Stimme klang sonderbar, fand Lenoa. Vorsichtig, als würde er sie nicht kennen.
,,Wie geht es Arian?", fragte Lenoa anstatt einer Antwort und sah sich nach dem Menschen um. Er lag noch immer dort, wo sie ihn zuletzt gesehen hatte, auf dem Rücken ganz hinten in der Höhle, die Augen geschlossen.
,,Besser. Er hat kein Fieber mehr und die Wunde hat sich nicht entzündet, obwohl ich mir da schon fast sicher war." Wieder dieser fremde Ton, distanziert, viel zu sachlich für die guten Neuigkeiten.
,,Was ist los?", fragte sie deswegen und richtete sich etwas auf. Möglichst, ohne ihr Bein zu bewegen, lehnte sie sich an die Wand hinter ihr.
,,Nichts", sagte Paradur, aber Lenoa glaubte ihm kein bisschen. Trotzdem nickte sie langsam und der Zwerg verschwand wieder zu Arsiena und Malion.
Lenoa griff nach ihrer Provianttasche und suchte sich eine kleine Mahlzeit zusammen. Ein Trinkschlauch lag aufgefüllt neben ihr, sie trank ihn zur Hälfte leer.
Nach einer Weile kam Malion zu ihr. Doch auch er wirkte anders und Lenoa ertappte ihn dabei, wie er sie mit nachdenklichen Blicken musterte, wenn er glaubte, dass sie es gerade nicht bemerkte.
,,Malion, jetzt sag mir, warum ihr euch alle so seltsam verhaltet", forderte Lenoa nachdem sie den Dritten dieser Blicke bemerkt hatte.
,,Wir verhalten uns nicht seltsam", stritt ihr Bruder es sofort ab, sah ihr dabei aber nicht in die Augen und zupfte nervös an ihrer Decke herum.
Lenoa verdrehte die Augen und hielt seine Hand fest, damit er aufhörte. ,,Sag schon. Ihr seid anders."
,,Du bist es doch, die anders ist", platzte Malion heraus und entzog seine Hand ihrem Griff. ,,Wir sind uns alle einig."
,,Ich und anders? Jetzt plötzlich oder was?", fragte Lenoa und schüttelte den Kopf. ,,Ich habe mich nicht verändert."
,,Doch. Hast du. Seit wir von Gla'zal abgereist sind schon", gab Malion zögerlich zu. ,,Du redest und benimmst dich anders. Du hast Arian das Leben gerettet und keiner von uns weiß, wie. Arsiena sagt, beim Kampf gegen die Zwerge hast du keinen einzigen Pfeil verschossen. Ich kenne dich besser als die beiden, deswegen bemerke ich mehr. Du triffst Entscheidungen, die du früher nie gewagt hättest. Du sprichst erwachsener. Du ... erteilst Anweisungen."
,,Malion, das ist Unsinn", widersprach Lenoa, wusste aber gleichzeitig, dass er recht hatte. Sie veränderte sich, seit sie Ma'kani war. Seit sie wusste, dass sie Ma'kani war. Sie spürte es selbst. Ihre Sinne verschärften sich, sie konnte Dinge, bei denen sie vorher nicht auf die Idee gekommen wäre, sie könne soetwas bewerkstelligen. Leben retten, zum Beispiel.
Ihr Bruder schwieg und Lenoa seufzte. ,,Ich bin immer noch dieselbe. Natürlich verändere ich mich. Du veränderst dich auch. Wir sind nicht mehr in Gla'zal, im Schoß unserer Mutter. Die Hälfte der Dinge verstehe ich genauso wenig wie du oder die anderen."
,,Da ist noch etwas", murmelte Malion und begann wieder an einem Zipfel der Decke herum zu zupfen. ,,Deine Wunde. Paradur sagt, normalerweise bräuchte die mindestens ein paar Wochen, bis du dein Bein überhaupt wieder bewegen kannst. Aber bei dir sieht die Wunde alt aus, als wäre sie schon halb verheilt. Obwohl sie kaum zwei Tage alt ist."
Lenoa schlug die Decke beiseite und warf einen Blick auf ihren Oberschenkel, der allerdings von einem Verband verborgen war. ,,Ich weiß", sagte sie nach einigen Sekunden. ,,In Kla'zan hatte ich eine Gehirnerschütterung und eine gebrochene Rippe und bin trotzdem nach zwei Tagen weitergeritten. Ich schätze, das ist so, wenn man Ma'kani ist."
Malion schwieg einen Moment und lächelte sie dann an. ,,Du veränderst dich. Aber nicht ins Schlechte. Werde bitte nur nicht so besserwisserisch wie Alynda."
Lenoa musste ebenfalls lächeln und nickte. ,,Versprochen. Ich stecke all meine Kräfte in die Rettung von Arlemia."
Ihr Bruder hielt grinsend einen ausgestreckten Daumen in die Luft. ,,Klingt nach einem guten Plan." Dann wurde er allerdings wieder ernst und die Grübchen in seinen Wangen verschwanden. ,,Kommst du mit? Wir wollten besprechen, wie es jetzt weitergeht."
Lenoa nickte zögerlich und ließ sich von ihm aufhelfen. Auf Malions Schultern gestützt, humpelte sie zum Höhlenausgang und setzte sich auf ihre Decke, ihr Bruder neben sich.
Paradur und Arsiena gaben sich sichtlich Mühe, sich nichts anmerken zu lassen, doch keinem der beiden gelang es. Sie gingen mit Lenoa um, als wäre sie eine Fremde, Paradur noch mehr als Arsiena.
Sie waren sich nicht einig. Malion wollte so schnell wie möglich weiter, über die Berge, so schnell, wie es ohne Führer gehen würde. Arsiena wollte umkehren und es nochmal mit Sartirn versuchen, im Notfall dann außen um das Gebirge herum gehen. Paradur wollte hierbleiben, bis Arian und Lenoa wieder ganz gesund waren und dann weiterplanen.
Lenoa hielt sich aus der hitzigen Diskussion heraus und malte abwesend irgendwelche Muster in die grobe Erde, die hier am Eingang der Höhle den Boden bedeckte. Erst, als sich plötzlich alle Blicke auf sie richteten, sah sie auf. ,,Hm?"
,,Was du denkst", wiederholte Arsiena ihre Frage. ,,Du hast bis jetzt noch gar nichts gesagt." Sie musterte Lenoa mit dem gleichen, nachdenklichen Blick wie auch Malion zuvor.
,,Wir warten, bis Arian und ich reisefertig sind und gehen dann weiter über die Berge. Bis unsere Wunden ganz verheilt sind, dauert es zu lange und den Umweg um das Gebirge herum können wir uns nicht leisten", sagte sie schlicht.
,,Warum sollten wir gerade auf dich hören?", fragte Paradur spitz und musterte Lenoa mit mehr Feindseligkeit im Blick, als ihr lieb war.
,,Sie ist Ma'kani. Sie hat das letzte Wort", verteidigte Malion seine Schwester und funkelte Paradur an. Er war schlecht auf den Zwerg zu sprechen, schon seit Kelmors Verrat.
,,Sagt wer? Es ist unverantwortlich, Arian mit seiner Verletzung weite Strecken laufen zu lassen, bevor er genesen ist", fauchte Paradur sofort wütend.
,,Wir können uns davon nicht aufhalten lassen! Früher oder später werden wir hier von deinen verräterischen Artgenossen entdeckt und dann ist es egal, ob Arian verletzt ist oder nicht, dann sind wir alle tot!", entgegnete Malion aggressiv.
,,Wag es nicht, die Zwerge so zu beleidigen!", zischte Paradur und seine Hand zuckte kurz, als wäre er kurz davor gewesen, nach etwas zu greifen.
,,Ich beleidige, wen ich will, wie ich will. Und ihr habt es doch verdient. Ohne Kelmor, deinen verräterischen Freund, wären alle unverletzt und wir schon viel weiter gekommen!"
Es passierte so schnell, dass kein anderer reagieren konnte. Paradurs Hand fuhr zu seiner Axt und zog sie, gleichzeitig zog Malion seinen Bogen hervor und legte einen Pfeil an.
Nach keinen zwei Sekunden, war die glänzende Schneide der Großaxt auf Malions Brust gerichtet und ein Pfeil zielte genau zwischen Paradurs Augen. Aus dieser Entfernung würde der Pfeil sein Ziel und seine Wirkung nicht verfehlen und die Axt bräuchte nicht viel Schwung, um Haut und Muskeln zu durchdringen.
Der Größenunterschied der Konkurrenten war kaum von Bedeutung. Beide waren bereit zu töten, sollte der jeweils andere auch nur den geringsten Anlass dazu geben.
,,Es reicht!", fauchte Lenoa mit so viel Autorität in der Stimme, wie sie aufbringen konnte. Ohne es wirklich zu bemerken, zog sie Inzarn und schwang es von einem zum anderen. ,,Wir sind nicht hier, um uns gegenseitig anzugreifen. Wir haben genug Feinde dafür. Lasst die Waffen sinken. Sofort!"
Ja, sie hatte sich verändert.
Malion zögerte nur einen winzigen Augenblick, dann steckte er den Pfeil langsam wieder zurück in seinen Köcher und ließ den Bogen sinken. Lenoa drehte sich zu Paradur und richtete das Schwert auf ihn.
Der Zwerg stand reglos da, die Augen feindselig zusammengekniffen. Er ließ seine Waffe keinen Zentimeter sinken, seine Hand hielt sie ganz ruhig.
Er ruckte leicht mit dem Kopf, als würde er sich für den Kampf wappnen. Für einen Moment glaubte Lenoa, er würde angreifen. Die Muskeln in seinem Arm zuckten vor Anspannung.
Dann, ganz langsam, senkte er seine Axt.
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