19 - Der Tunnel

Wie auch schon in der letzten Nacht, übernahm Lenoa die letzte Wache und so war es an ihr und Arian, die anderen im Morgengrauen zu wecken. Sofort waren alle hellwach. Keiner hatte so nah bei ihren Feinden besonders gut schlafen können.

Es war ein karges Frühstück, das sie einnahmen. Sie hatten alle nicht wirklich Appetit, sollten aber etwas essen, um sich für die Reise zu stärken. Außerdem mussten sie ihre Rationen nun etwas kürzen, da sie nicht erwartet hatten, den Umweg über die Berge nehmen zu müssen. Befürchtet, ja, aber vermutlich hatten sie einfach alle gehofft, es würde irgendwie durch Sartirn klappen.

Kelmor kam pünktlich, als die ersten Strahlen der von Wolken verhüllten Sonne über den Horizont kamen. ,,Morgen. Was habt ihr entschieden?", fragte er ohne Umschweife.

Er trug nun wärmere Kleidung als am Vortag, ansonsten hatte sich sein Erscheinungsbild nicht groß verändert. Bildete sich Lenoa das nur ein oder hatte er den Schnitt unter seinem Auge wieder aufgekratzt und dieser sah jetzt wieder frischer aus?

,,Wir möchten einfach den schnellsten Weg durch die Berge nach Süden", sagte Arsiena nur. Sie hatten ja vereinbart, dem Zwerg nicht zu verraten, wohin es ging.

,,Was wollen drei Inaari, ein Mensch und ein Verräterzwerg so weit südlich?", fragte Kelmor neugierig nach, aber keiner antwortete und so zuckte er nach einigen Sekunden einfach mit den Schultern. Paradur zuckte etwas bei der Bezeichnung 'Verräterzwerg' und auch Lenoa fand sie unpassend. Kelmor war ja nicht besser.

,,Der schnellste Weg ist aber leider über die höchste Gebirgskette. Dort wird es kalt werden, ich hoffe ihr habt ordentliche Kleidung dabei. Wenn alles gut läuft und wir nicht eingeschneit werden, sollte die Überquerung etwa fünfzehn Tage dauern", erklärte Kelmor und zog dabei seinen Gürtel etwas enger.

Irgendetwas störte Lenoa. Etwas war anders, sollte sie alarmieren, aber sie konnte es nicht greifen. Es entglitt ihren ausgestreckten Fingern, versetzte sie aber in Alarmbereitschaft. Nervös sah sie sich um, legte eine Hand an ihren Bogen.

,,Wir gehen zuerst noch ein Stück Richtung Osten, dort ist ein unterirdischer Gang, durch den wir müssen", ergänzte Kelmor. Das Gefühl in Lenoa verstärkte sich. Sie mussten aufpassen, handeln, etwas war falsch. Nur was?

Keiner der anderen schien davon etwas zu bemerken, also schob Lenoa das Gefühl beiseite und packte ihre wenigen Sachen zusammen. Wenn es einen Grund zur Beunruhigung geben würde, wäre sie doch nicht die Einzige, die etwas bemerkte. Oder doch?

Malion jedenfalls sah auch nicht besonders glücklich aus, aber das lag wohl eher an seinem grundsätzlichen Misstrauen Kelmor gegenüber.

Schweigend begannen sie ihren nächsten Reiseabschnitt. Die Sonne war hinter Wolken verborgen, und das fehlende Licht drückte die Stimmung. Von den Scherzen und kleinen Spielen, die sie nach Nar Ledia gemacht hatten, fehlte jede Spur.

Die Gruppe folgte einem verwilderten Trampelpfad nach Osten, immer am nördlichsten Hang der Berge entlang. Nach etwa fünf Kilometern führte Kelmor sie nach rechts vom Weg ab und steiler den Berg hinauf.

Glücklicherweise waren hier viele kleine Bäche und Quellen, die unter Steinhaufen hervor entsprangen, sodass sie ihre Wasserschläuche oft auffüllen konnten. Schon bald war Lenoa erschöpft und hätte am liebsten eine Pause gemacht.

Unauffällig legte sie eine Hand auf den Griff von Inzarn und strich über den blauen Stein im Knauf. Ein wenig besser fühlte sie sich dadurch, doch das Gefühl vom Morgen verstärkte sich wieder. Nervös suchte sie in ihrem Gedächtnis nach einer Erinnerung, die das erklären würde, doch sie kam nach wie vor nicht darauf.

Irgendwann schlug Paradur eine Pause vor. Lenoa sah, dass es dem Zwerg missfiel, eine solche Schwäche zu zeigen, doch jeder stimmte sofort zu und sie setzten sich unter einen Felsvorsprung, um zu rasten.

Es war schwer zu sagen, wie viel Zeit vergangen war, da die Sonne weiterhin hinter dunkler werdenden Wolken verborgen war. Als jeder viel getrunken und ein wenig gegessen hatte, standen sie wieder auf und wanderten weiter stetig bergauf.

Lenoa schätzte, dass es schon lange nach Mittag war, als Kelmor vor einem Felsspalt Halt machte. ,,Wir müssen hier durch. Es ist dunkel, aber keine Sorge, ich kenne den Weg. Es ist nicht besonders weit und es gibt beinahe keine Abzweigung."

Niemand widersprach, aber Lenoa merkte an den angespannten Blicken und dem steifen Nicken, dass keiner besonders begeistert war unter die Erde zu gehen. Nicht mal Paradur, und der war unter dem Berg aufgewachsen.

,,Woher wissen wir, dass uns keine Zwerge auf der anderen Seite erwarten?", fragte Arsiena und beäugte den Felsspalt misstrauisch.

,,Wir benutzen diese Höhle nicht. Sie ist zu nahe an der Oberfläche. Das Einzige, was uns begegnen könnte, sind Fledermäuse", beruhigte Kelmor sie und ging voraus in die Höhle.

Da war es wieder, das Gefühl. Nun noch beunruhigter folgte Lenoa dem Zwerg. Bevor sie in die Dunkelheit eintrat, legte sie einen Pfeil an und hielt ihren Bogen schussbereit. Wie sie zielen sollte, ohne besonders viel zu sehen, wusste sie zwar nicht, aber sie fühlte sich besser so.

Hinter ihr folgte Paradur, dann Malion, anschließend Arian und Arsiena bildete das Schlusslicht. Kelmor sprach weiter und erklärte ihnen wie die Höhle entstanden war, damit sie immer seiner Stimme folgen konnten.

Es dauerte nicht lange und sie waren in völliger Dunkelheit. Lenoa konnte zu beiden Seiten die rauen Felswände spüren und wusste deswegen, dass kein einziger Gang zur Seite abzweigte, während sie stetig bergauf gingen.

Nicht mal die Nachtsichtigkeit der Inaari'i half ihnen hier, was Lenoa noch nervöser machte. Selbst ohne Mond konnte sie in der Nacht ihren Weg erkennen, doch hier konnte sie die Hand vor Augen nicht erkennen.

Der Boden war steinig, sodass sie sich langsam bewegen mussten, um nicht zu stolpern. Einige Male wurde der Gang so eng, dass sie die Taschen abnehmen und sich seitlich hindurchzwängen mussten.

Lenoa verlor jegliches Zeitgefühl. Vielleicht liefen sie seit zwanzig Minuten in der Dunkelheit bergauf, vielleicht eine halbe Stunde oder eine Ganze. Bald schwieg auch Kelmor und sie folgten einfach alle dem einzigen Weg, den sie hatten.

Die Luft wurde immer stickiger, erst recht, weil alle sechs keuchten und schwitzten. Es wurde auch immer wärmer, was Lenoa zunächst seltsam vorkam. Dann irgendwann blieb Kelmor so plötzlich stehen, dass Lenoa in ihn hineinlief und auch Paradur ihr beinahe in die Fersen trat.

,,Hier rechts ist ein Gang. Er führt wieder steil nach unten, bis zu unseren Schmieden", erklärte Kelmor und Lenoa glaubte, einen leichten, heißen Luftzug von dieser Seite zu spüren.

,,Passt auf, dass ihr nicht abrutscht", warnte der Zwerg noch, bevor sie ihren Marsch fortsetzten. Einige Kieselsteine kullerten laut den Tunnel nach unten, als Kelmor daran vorbeilief, und Lenoa zuckte zusammen. Als sie weiterging, spürte sie rechts, dass die Wand für etwa einen Meter verschwand und dann wieder an ihrer Schulter drückte, sodass sie sich leicht seitlich drehte.

Es ging nun steiler bergauf als zuvor, und es wurde kälter. Nicht nur so kühl wie es zuvor gewesen war, die Temperatur sank weit darunter und Lenoa fröstelte.

,,Es ist nicht mehr weit", sagte Kelmor und sie seufzte erleichtert. Unter freiem Himmel würde sie wieder besser atmen und einen wärmeren Umhang umlegen können.

Sie hörte den keuchenden Atem der anderen - besonders von Paradur und Kelmor - und deren Schritte. Kurz glaubte Lenoa, weiter hinter sich nochmal Schritte zu hören, doch sie schob das auf ihre Nervosität. Wer sollte ihnen denn schon folgen?

Schon bald spürte Lenoa einen frischen Luftzug von vorne kommen und der Gang wurde weniger steil, sodass es nicht mehr so anstrengend war. Außerdem wurde der Tunnel breiter und der Boden glatter. Unwillkürlich beschleunigten sie ihr Tempo ein wenig.

Nach weiteren zwei Minuten wurde es langsam heller und Lenoa konnte die Konturen von Kelmor vor ihr ausmachen. Sie hörte Vogelgezwitscher und als sie schließlich zwischen ein paar Büschen aus der Erde hervor kletterte, fühlte sie sich, als wäre sie aus einem Grab gestiegen.

Vor ihnen bot sich ein Anblick, der schön, entmutigend und traurig zugleich wirkte. Sie standen auf einer Wiese. Oder zumindest auf den Überreste davon, denn das meiste war verdorrt oder vom Wind zur Erde gedrückt. In südlicher Richtung befand sich ein Bergpanorama, doch die Spitzen der Berge waren in dunklen Sturmwolken verhüllt.

Hinter ihnen, im Norden, ging es einen steilen Hang hinauf. Lenoa erkannte noch mehr solcher Höhlenausgänge um sie herum.

,,Über diese Bergkette müssen wir", erklärte Kelmor und deutete zu den Bergen vor ihnen. ,,Dahinter können wir kleinere Täler nutzen, um keine großen Aufstiege machen zu müssen, auch wenn das jedes Mal ein kleiner Umweg ist."

Ein starker Wind kam von Süden und ließ die wenigen Büsche hier stark erzittern. Er war kühl und frisch, aber Lenoa wusste, dass er das Gewitter brachte. Aber noch etwas anderes erweckte der Luftstrom in ihr.

Die Brise, die sie in sich spürte, seit sie wusste, dass sie Ma'kani war, und die sie seit ihrer Vision im Alten Königshof Balyna nannte, wirbelte in ihr herum. Sie schloss für einige Sekunden die Augen und konzentrierte sich darauf. Es war etwas, das nichts Gutes bedeutete, so viel konnte sie mit Sicherheit sagen.

Es war etwas, das sie ihren Pfeil neu anlegen ließ. Etwas, das sie jeden Muskel ihres Körpers anspannen ließ. Etwas, das sich vereinte mit dem Gefühl, das sie schon den ganzen Tag gehabt hatte.

Etwas. Oder jemand. Langsam drehte Lenoa sich zu Kelmor. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie der Zwerg seine Axt aus dem Gürtel zog und damit auf Paradur einschlug.

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