16 - Die Legende
Als es dämmerte, rasteten die fünf Weggefährten zwischen einigen Büschen, nahe der Grenze des Menschenreichs. Neben ihnen floss noch immer der Fluss, dessen Verlauf sie bis jetzt den ganzen Tag gefolgt waren.
Da sie sich hier in Sernafon einigermaßen sicher fühlten und sich alle einig waren, dass es für geraume Zeit die letzte Gelegenheit sein würde, starteten sie sogar ein Feuer und setzten sich in einen Kreis um die züngelnden Flammen. Der Schrecken des Anblicks der zerstörten Dörfer war vergangen und die Stimmung so gut wie am Vormittag.
Während sie aßen, erzählten sie sich Legenden und Sagen, die man in ihrer jeweiligen Heimat den Kindern als Gute-Nacht-Geschichten vorlies. Arian erzählte eine ausgedachte Geschichte, die er als 'Märchen' betitelte, in der zwei Kinder von ihrer Stiefmutter in den Wald gelockt wurden und dort in einem Haus aus Gebäck, dessen Namen Lenoa sich nicht merken konnte, einer Hexe entkommen mussten.
,,Was ist eine Hexe?", fragte Paradur am Ende der Geschichte.
,,Hexen sind Frauen, die der Magie mächtig sind", erwiderte Arian und legte neues Holz ins Feuer. ,,Es gibt sie nicht wirklich. Einige glauben noch daran, aber alles, was man sich von ihnen erzählt, sind nur Legenden."
,,Sind Hexen sowas wie Meriala?", fragte Malion nachdenklich und blickte in die hellen Flammen.
,,Nun, ich schätze, das kommt darauf an, was Meriala sind", sagte Arian lächelnd und holte eine Decke hervor, die er sich um die Schultern legte.
,,Lenoa? Kannst du erzählen?", fragte Malion und sah verlegen lächelnd zu seiner Schwester. Lenoa musste schmunzeln. Die Geschichte war eine von Malions Lieblingen. Früher, wenn er von Albträumen geplagt wurde oder einfach so nicht schlafen konnte, hatte Lenoa ihm diese Geschichte erzählt.
Sie wusste, dass sie eine gute Erzählstimme hatte. Angenehm, ruhig, nicht zu laut, nicht zu leise. Sie erzählte auch gerne die Geschichten, die ihr Vater ihr früher beigebracht hatte. Meistens redete sie nicht viel, doch wenn sie an die Nächte mit ihrem Vater im Wald zurückdachte, erhielt sie seine Erinnerung mit diesen Geschichten aufrecht.
,,Die Meriala sind die edelsten und weisesten der Inaari'i", begann sie. Malion lächelte und setzte sich zu ihr, legte den Kopf in ihren Schoß und sie kam der stummen Aufforderung automatisch nach, ihm sanft über den Kopf zu streicheln.
,,Keiner weiß, ob es sie wirklich einmal gegeben hat, aber man erzählt sich viel über sie und einen wahren Kern gibt es sicherlich. Viele unserer Legenden beinhalten die Meriala. Sie wurden als normale Inaari geboren, waren jedoch auch als Kind schon sehr reif und intelligent."
An dieser Stelle hatte sie ihren Vater immer unterbrochen und gesagt 'Ich bin auch stolz darauf, ich zu sein' und ihr Vater hatte erwidert 'Und du bist auch sehr intelligent'. Bei der Erinnerung musste Lenoa unwillkürlich lächeln.
,,Sie waren stolz und temperamentvoll, aber auch weise und einfühlsam. Keine Inaari kam an ihre Macht heran. Sie konnten Pflanzen wachsen lassen, Tiere waren in ihrer Gegenwart zutraulich und einige sagen, sie konnten Tote wieder zum Leben erwecken."
,,Warum gibt es sie heute nicht mehr?", unterbrach Arian ihre Erzählungen. Lenoa zuckte leicht mit dem Kopf zur Seite. Sie wollte nicht unterbrochen werden. Wenn sie erzählte, war sie wie in einer eigenen Welt. Ohne den Blick aus dem Feuer zu nehmen, sprach sie weiter.
,,Die Meriala brachten viel Gutes über das Land. Doch mit ihrer Macht kam auch Gefahr. Es heißt, sie konnten andere Inaari bis zu einem gewissen Grad beeinflussen, gar kontrollieren. Edira, eine der stärksten Meriala, machte sich das zu nutze. Sie wurde gierig, strebte nach immer mehr Macht."
Das Feuer knackte, Funken stoben in die Luft und wurden vom Wind verwirbelt, bis sie erloschen. ,,Ein Heer unter ihrem Befehl richtete großen Schaden an. Nicht nur bei den Inaari'i, auch bei den anderen Völkern." Sie hatte beinahe vergessen, dass Arian und Paradur hier waren.
,,Edira wurde immer mächtiger. Sie regierte über die Städte der Inaari'i und vernichtete alle anderen Meriala. Für sie war dies in ihrer Macht keine schwere Aufgabe, für jede normale Inaari war der Mord einer Meriala etwas Unmögliches. Trotzdem gelang es einer Inaari."
Malion rührte sich, gähnte einmal und hatte sichtlich Schwierigkeiten, die Augen offen zu halten. Lenoa sprach weiter.
,,Ihr Name war Yolia. Sie stürzte Edira am Höhepunkt ihrer Macht. Durch ihre Tat wäre sie beinahe selbst eine Meriala geworden und hätte damit die ungleichen Machtverhältnisse zwischen den Inaari'i aufrechterhalten. Doch sie stieß sich selbst den Dolch, mit dem sie auch Edira getötet hatte, durch das Herz. Sie beendete damit das Zeitalter der Meriala und startete das der Königinnen."
,,Aber wie hat sie das geschafft?", fragte Arian und klang dabei beinahe so atemlos gespannt wie der fünfzehnjährige Malion. Lenoa lächelte. Vernünftig wäre es, jetzt zu schlafen, um am nächsten Tag ausgeruht zu sein, doch der Teil gehörte beinahe noch zur Geschichte.
,,Blaues Glas. Alsad in der alten Sprache der Inaari'i", begann sie und riss den Blick vom Feuer los, um festzustellen, dass ihr alle vier immer noch zuhörten. Sogar Arsiena, die die Geschichte sicherlich schon öfter gehört, als Lenoa sie erzählt hatte.
,,Früher waren die meisten Waffen daraus geschmiedet, auch einfache Pfeilspitzen oder einzelne Rüstungsteile. Doch die Meriala haben alles vernichtet. Es ist das einzige Material, das ihnen ernsthaften Schaden zufügen kann. Heute ist nur noch ein einziges Schwert aus Alsad erhalten."
Ohne es wirklich wahrzunehmen, lehnte sie sich leicht zur Seite und griff in ihre Satteltasche. Von ganz unten holte sie die Leinentücher und die darin eingewickelte Klinge hervor. Sie zog den Stoff beiseite und enthüllte das Schwert Inzarn. Eine sanfte Brise kam auf und ließ die Grashalme zittern.
Im Schein der langsam erlöschenden Flammen glänzte die Klinge und ließ das Wort Narylas deutlich hervortreten. Königin. Lenoa nahm war, dass vier Augenpaare gebannt auf das schimmernde Schwert gerichtet waren.
,,Alsad kann von nichts und niemandem zerstört werden, außer es wird in den größten Vulkan des Knieve-Gebirges geworfen. Dort ist auch der einzige Ort, an dem Blaues Glas gefunden werden kann. Früher war der Krater so tief, dass niemand wusste, was am Grund liegt. Neugierige Inaari, die sich in die Dunkelheit begeben haben, sind nie zurückgekehrt."
Die letzte Flamme erlosch und ließ sie im dunkleren Schein der verbleibenden Glut zurück. ,,Doch der Vulkan ist seit dem Ende der Meriala verschlossen und unsere Vorfahren haben den Königshof des Palastes in den Krater gebaut. Kein Blaues Glas wird dort je wieder geschmiedet werden können."
Lenoa blickte wieder auf. Malion schreckte aus einem Dösen auf, Paradur und Arian wandten erst nach einer Weile die Blicke wieder ab und räusperten sich. Auch Arsiena hatte die ganze Zeit schweigend zugehört.
,,Wir sollten schlafen. Morgen wird nicht weniger anstrengend als heute", meinte Lenoa und verbarg Inzarn wieder in ihrer Satteltasche. Es schien, als wäre die Atmosphäre damit zerstört. Sie vereinbarten Wachen - so sicher, wie sie sein sollten, waren die Menschenlande derzeit doch nicht mehr - und gruppierten ihre Schlafstätten um den Feuerplatz herum.
Jeder war sich ihrer Reise und den noch vor ihnen liegenden Gefahren wieder aufs Neue bewusst. Die Last der Verantwortung schien noch stärker als zuvor auf Lenoas Schultern zu lasten.
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