Kapitel 6


Das Treffen mit dem König, die Vorbereitung für den Einsatz; alles wurde vertagt.

Mithiro hatte ein sehr unangenehmes Gespräch mit seinem Vater, der ihm ganz klar zu verstehen gab, dass dieser Angriff auf ihn und seinen Bruder nur ein Vorgeschmack auf den Kampf an der Front war. Doch was viel schlimmer war, sein Vater machte ihm Vorwürfe. Er hätte schneller und besser agieren müssen. Er hätte den Hinterhalt erkennen und verhindern müssen. Hätte, hätte, hätte. Hatte er jedoch nicht.

Mithiro war in seinem Ego stark gekränkt; doch was das Ganze noch schlimmer machte war die Tatsache, dass sein Vater recht hatte. Er hatte so lange trainiert, Strategien gelernt und die Schwächen sowie Stärken des Feindes analysiert, dass er einen Hinterhalt sofort hätte wittern müssen. Stattdessen wurde er überheblich, siegessicher. Juniper musste es dieses Mal für ihn ausbaden. Mithiro biss sich auf die Unterlippe.

Er stromerte ziellos durch den Palast, nachdem er von seinem Vater für den Tag entlassen wurde. Ren blieb noch zurück. Wahrscheinlich durfte er erfahren, welche sagenvolle Waffe die Alchemisten erschaffen hatten. Er biss fester auf seine Lippe.

Izem war ebenfalls anwesend gewesen. Als sie über den Angriff sprachen, kam auch Junipers Einsatz zur Sprache. Natürlich konnten sie nicht verschweigen, dass sie die Angreifer getötet hatte und im Zuge dessen verletzt wurde. Während sie davon sprachen, wandte Mithiro seinen Blick immer wieder Izem zu, dessen Miene blieb jedoch wie versteinert. Entweder war ihm Junipers Gesundheitszustand wirklich egal oder er war ein Meister der Maskerade. Der Geschmack von Blut im Mund ließ Mithiro aus seiner Gedankenblase erwachen.

Grummelnd leckte er sich über die Lippen und spürte dabei den leicht stechenden Schmerz, als seine Zunge über das aufgebissene Stück Lippe fuhr.

Er war sich absolut sicher, dass Juniper diese Verletzung überstehen und ihn später darunter leiden lassen würde. Schließlich waren er und sein Bruder zu abgelenkt gewesen. Sie würde ihm das mit Sicherheit irgendwann unter die Nase reiben. Er seufzte genervt auf.

Mithiro wollte nicht über sie nachdenken und doch ging sie ihm einfach nicht aus dem Kopf. Vielleicht lag es daran, dass er sich immer herrlich über sie und ihre Anwesenheit aufregen konnte. Allein ihre Präsenz ließ ihn manches Mal fast schon explodieren. Bis heute hatte er nicht verstanden, warum sie nach dem heimtückischen Mord an seiner Mutter nicht längst hingerichtet wurde.

Die Bilder drangen in seinen Kopf. Normalerweise blendete er sie aus. Doch heute ließ er sie freudig aus seinem Unterbewusstsein aufsteigen und hieß sie mit offenen Armen Willkommen.

Bilder von seiner Mutter, wie sie ihm heimlich etwas Süßes zwischen den Trainingseinheiten gab. Bilder von ihr, wie sie ihm ein nasses Tuch auf die Stirn legte, nachdem er beim Spielen am Fluss im Herbst nass geworden und Fieber bekommen hatte. Bilder wie sie Juniper eine Standpauke hielt, weil sie eines ihrer Kleider mit Tinte gesprenkelt hatte. Bilder von dem brennenden Zimmer und Geräusche von dem Knistern des Feuers, das sich mit einer Urgewalt durch jedes einzelne Möbelstück fraß und nur schwarze Kohle und Asche zurückließ. Mithiro konnte die Hitze in seinem Gesicht spüren, genauso wie damals, als er verstört und weinend versuchte das brennende Zimmer zu löschen und seine Mutter zu retten. Er konnte sich auch noch an das Bett erinnern. Ein Gemisch aus Holz und Mensch. An manchen Stellen blickte noch der Rest eines Knochens aus dem Ascheberg heraus.

Izem war derjenige gewesen, der das Feuer mit seiner Magie löschte, auch wenn er dabei Probleme hatte. Solch ein gnadenloses und heißes Feuer, war in Larendal noch nicht gesehen. Es schien Izem sämtliche Energie zu kosten, das Feuer unter Kontrolle zu bringen.

Erst später erklärte er dem König was geschehen war. Juniper war alleine im Keller. Sie hätte trainieren sollen, ging jedoch stattdessen ihrer Neugierde nach. Die Alchemisten hatten ihren Bereich nicht weit genug gesichert. Sie schlich hinein und stieß dabei einige Fläschchen um, die sofort miteinander reagierten und eine Feuerwalze nach oben schickten. Juniper habe das ganze gerade so überlebt. Er hatte sie gerettet. Es war ein Unfall.

Wütend schlug Mithiro gegen die Palastwand; hinterließ dabei einen feinen Riss mit Blut gesprenkelt. Ein Unfall.

Er hatte Juniper danach wochenlang nicht gesehen. Offensichtlich musste sie sich von ihren Verletzungen erholen, allerdings wünschte er sich in diesen Wochen, sie würde elendig daran verrecken. Wenn er sie wenigstens hätte sehen und anschreien können. Er brauchte jemanden, dem er die Schuld geben konnte. Und sie hatte sich einfach davongestohlen.

Somit blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf das angesetzte Training zu konzentrieren. Sein Vater war damals noch härter zu seinen Kindern geworden, als er es sowieso schon war. Die mütterliche Hand, die sonst immer einen Hauch Güte in die Kinder streicheln konnte, wurde zerstört. Zurück blieben unbändiger Hass und die Entschlossenheit, eines Tages mächtig genug zu sein, um sie stolz zu machen.

Mithiro blieb ruckartig stehen. Die Umgebung fühlte sich mit einem Mal ganz anders an, als sonst. Irgendwas hatte sich verändert. All seine Sinne verschärften sich auf die Wahrnehmung seines Umfelds. Die glitzernden Reflexionen der Sonne in den Palastmauern. Der leichte Wind, der draußen durch die Bäume zog. Die gepanzerten Soldaten, die ihrer alltäglichen Patrouille nachgingen. Zwitschernde Vögel. Leises Geplänkel der Bediensteten unten im Hof.

Schweiß trat ihm auf die Stirn und Nervosität machte sich in ihm breit. Er wusste, dass etwas nicht stimmte und doch konnte er partout keinen Finger darauf legen. Irgendwo hier.

Vorsichtig schritt er weiter voran, allerdings waren seine Gedanken alleine auf seine Umgebung fokussiert. Falls man wieder einen Hinterhalt auf ihn ausüben würde, wollte er dieses Mal vorbereitet und als alleiniger Sieger daraus hervor gehen.

Mithiro ließ seinen Blick wieder nach draußen wandern. Durch die geöffneten Fenster konnte er die Lebhaftigkeit des Palastes und seiner Bediensteten klar wahrnehmen. Er konnte den Wind hören. Er konnte den Himmel sehen. Der Himmel.

„Was zum-...?!", platzte es aus ihm heraus, ehe im Palast die Hölle losbrach.

Gewaltige schwarze Kugeln regneten vom Himmel hinab und zerstörten bei ihrem Fall ohne Mühe die Palastmauern mit einer gewaltigen Explosion. Mindestens hunderte dieser feurig gefährlichen Kugeln prasselten nieder. Der Palast glich einer einzigen Staubwolke. Ein unbändiger, tosender Lärm von berstendem Gestein, panischen Schreien und der enormen Feuerkraft der Explosionen erfüllten die Luft.

Die erste Kugel fiel in den Palasthof, explodierte und schleuderte eine Druckwelle von sich, die sämtliche Fenster zerspringen ließen. Mithiro wurde von der Welle erfasst und hart gegen die Wand hinter sich geschleudert. Der Aufprall ließ ihm jegliche Luft aus den Lungen verlieren, doch zum erneuten Atmen blieb ihm kaum mehr Zeit. Innerhalb von Sekunden sausten weitere dieser Kugeln hinunter; eine direkt vor ihm. Wie in Zeitlupe konnte er beobachten, wie die Kugel die festen Wände eindrückte. Der Stein zersprang in tausende Stückchen, während einige kleine direkt pulverisiert wurden und sich in einem Wirbel aus Staub auflösten. Ein paar der winzigen Gesteinsreste flog ihm direkt ins Gesicht, doch noch bevor er sich schützen konnte, wurde er in die Wand hinter sich gezogen.

Keine Sekunde zu früh, denn die Druckwelle dieser Explosion ließ selbst die Magie innerhalb der geheimen Tunnel erzittern.

Schwer keuchend wirbelte er herum und blickte einer blassen Juniper ins Gesicht; ihre Hand noch immer fest in seinen Kragen gekrallt. Schweißperlen liefen ihr über die Stirn und tiefe, dunkle Ringe zierten ihre Augen. Sie sah scheiße aus.

Doch für derlei Komplimente war auch jetzt keine Zeit. Mithiro rappelte sich schnell auf und folgte ihr. Sie mussten auf schnellstem Wege aus den Tunneln raus. Auch wenn die Magie darin so mächtig und alt war, dass keiner sie heutzutage noch hätte nachahmen können, so ist sie nun einmal nicht unsterblich. Sollten die Tunnel nachgeben, während die beiden sich darin befanden...Mithiro war sich sicher, dass seine Magie nicht die tausend Tonnen von Gestein hätten aufhalten können, unter denen sie dann begraben worden wären.

Gemeinsam eilten sie durch die engen, dunklen und unebenen Gänge hindurch. Einzig der feine Lichtschein, der Juniper zu umgeben schien, bat ihm die Möglichkeit zumindest die Hand vor Augen zu erkennen oder die nächste Abzweigung zu sehen. Ohne sie wäre er absolut verloren gewesen. Manche Stellen waren so verdammt klein und eng, dass er sich sicher war, kein Mensch würde je dort hindurch passen; und doch verschwand sie schnell in diesen winzigen Öffnungen, anscheinend ohne jegliche Probleme. Also tat er es ihr gleich und war entsprechend verdutzt, wie einfach er ebenfalls hindurch gleiten konnte. Um sie herum waren die Explosionen zu hören und die gewaltigen Erschütterungen zu spüren. Ihnen lief die Zeit davon.

Plötzlich blieb Juniper stehen. Er wäre fast in sie hineingerannt, konnte jedoch gerade so noch rechtzeitig bremsen. Erst jetzt bemerkte er, wie sehr er bereits außer Atem war.

„Warum...bleibst du...stehen?", keuchte er ermüdet. Zur Antwort drehte sie sich nicht einmal zu ihm um.

„Du musst mir jetzt vertrauen." Sie klang so zittrig und doch so entschlossen.

Gerade als er ihr einen passenden Spruch entgegenwerfen wollte, ergriff sie seine Hand und zog ihn mit sich. Aber nicht geradeaus. Nach unten. Sie fielen. Mithiro konnte einen überraschten und insbesondere äußerst hohen Laut nicht unterdrücken. Sie fielen nicht allzu lange und doch hielt Juniper seine Hand noch immer fest in ihrer. Sie fühlte sich viel zu warm für seine Verhältnisse an.

Dann landete sie im eiskalten Wasser.

Abermals überrascht riss Mithiro unter Wasser die Augen auf, auch wenn er dort sowieso nichts erkennen konnte. Junipers Licht schien die dunklen Abgründe des Wassers nur schwer erhellen zu können. Doch viel wichtiger als Licht war Luft. Er wusste nicht was auf ihn zukam und dementsprechend hatte er keinen großen letzten Atemzug vor dem Eintauchen getätigt. Sofort spürte er wie der enorme Drang zu atmen ihn überrannte. Niemals würde er in dieser Dunkelheit oben oder unten so einfach finden.

Juniper hingegen schien sich bestens auszukennen. Sie hatte seine Hand noch immer fest umklammert und schwamm offensichtlich mit ihm nach oben. Er folgte ihrer Richtung und nach kürzester Zeit konnte er die Oberfläche des Wassers durchbrechen und endlich wieder atmen.

Sofort sog er tiefe, scharfe Luftzüge ein. Wie ein Ertrinkender es eben tun würde, wenn er nicht ertrinken möchte.

„Scheiße...fuck...wo sind wir?!", fluchte Mithiro vor sich hin, während er versuchte auch nur einen winzigen Teil seiner Umgebung zu erkennen.

„Unter der Stadt. In den Ruinen. Aber wir sind hier auch nicht sicher...", flüsterte Juniper. Erst jetzt viel ihm auf, dass er keine Explosionen mehr hören konnte. Im Grunde hörte er gar nichts, außer das leise Geplätscher des Wassers, welches durch ihr Eindringen in solch harsche Bewegungen geraten war. Hallend, als wären sie in einer Art Höhle.

„Ruinen?"

Doch Juniper beachtete ihn gar nicht. Sie hielt seine Hand noch immer fest, wobei sie sich suchend umblickte. Mithiro hatte endlich die Möglichkeit zu erkennen, woher das feine Licht kam, welches ihnen durch die dunklen Gänge half. Um ihren Hals hing eine Halskette mit einem länglichen Kristall daran. Er kannte diesen Kristall, schließlich wurden solche Mineralien früher im Unterricht öfters besprochen. Aufgepasst hatte er jedoch nie. Wichtig war es in dieser Situation wohl auch nicht.

Mithiro blickte auf und sah direkt in Junipers Gesicht, welche anscheinend noch immer einen Weg suchte. Sein Eindruck von vorhin war falsch. Sie sah definitiv nicht scheiße aus. Sie sah mehr tot als lebendig aus. Die Wangen gänzlich eingefallen, die Lippen aufgeplatzt und rissig. Als wäre sie über Nacht dehydriert und hätte gleichzeitig extrem an Gewicht verloren. Ihre Leibgardenkleidung schien ebenfalls plötzlich zu groß geworden zu sein.

Noch ehe er ihren Anblick mit wachsender Sorge begutachten konnte, zog sie plötzlich an seiner Hand, wodurch er ruckartig näher an sie heranschwamm.

„Die Ruinen sind gefährlich...alte...sehr alte Wesen hausen hier. Wir müssen schnellstmöglich hier raus. M, hör genau zu." Ihre Stimme war wie ein leiser Hauch, der von einer Windböe hätte weggetragen werden können. Wann hatte sie ihn das letzte Mal M genannt?

„Bis wir an einer sicheren Stelle sind, darfst du hier unten nicht sprechen. Magische Stimmen entladen beim Sprechen immer ein wenig Magie...und die können sie riechen. Also bitte, um unser beider Leben Willen...halt einfach mal die Fresse."

Er öffnete den Mund, schloss ihn jedoch sofort wieder. Er hätte eh nicht gewusst, was er darauf hätte antworten sollen. Sie sprach selten so mit ihm, wenn sie überhaupt sprach. Stattdessen nickte er ihr nur zu um sein Einverständnis zu signalisieren. Sie schien offensichtlich genau zu wissen, was hier unten auf sie lauern konnte, woher auch immer. Und sie hatte seinen Spitznamen benutzt.

„Gut. Wir werden jetzt ein kurzes Stück schwimmen und dann tauchen. Dann sollten wir in einer großen Halle landen und uns von dort langsam aus den Ruinen herausarbeiten. Solange du schweigst und keinerlei Magie anwendest, sollten wir sicher sein", führte sie weiter aus, wobei sie Mithiro dabei fest in die Augen blickte.

So eine lange Konversation ohne Streit hatten die beiden schon lange nicht mehr. So viel Körperkontakt auch nicht. Ebenso hatte Juniper schon seit Ewigkeiten nicht mehr so lange in seine blauen Augen gesehen. Auch wenn sie diese gerade mehr verschwommen sah.

Ihr ganzer Körper stand in Flammen. Jeder Muskel tat ihr weh und das Fieber machte setzte ihr enorm zu. Sie wusste, dass das Gift sie nicht einfach töten würde. Jedoch hatte sie gehofft die Auswirkungen wären etwas milder.

Schnell wandte sie den Blick von Mithiro wieder ab. Diese Hitze in ihrem Körper schien immer schlimmer zu werden. Obwohl das Wasser um sie herum eiskalt war.

Jetzt musste sie sich jedoch darauf konzentrieren den Weg aus diesen Ruinen zu finden. Sie hatte sich früher öfters hier unten versteckt, als sie eines Tages durch Zufall den Weg herunter gefunden hatte. Damals erforschte sie die Ruinen und setzte sich an eine Art kindliche Kartografie der Gegend, bis sie in der Bibliothek auf ein unscheinbares Buch stieß, welches die Entstehungsgeschichte beinhaltete. Da die Engel einst Hyreth bevölkert haben sollen, mussten sie auch irgendwo gelebt haben.

Juniper war sich sicher hier unten die Ruinen der Engelsstadt gefunden zu haben. Und mit ihnen die Überreste göttlicher Kräfte, gefangen in grässlichen, abscheulich mutierten Wesen, die immer nach mehr Macht gierten.

Ein einziges Mal hatte sie einen Magier gesehen, der sich anscheinend ebenfalls hierher verirrt hatte. Er entfachte ein kleines Licht mit seiner Magie. Zwei Atemzüge später war er auf bestialische Art und Weise getötet worden. Den Anblick würde sie auch niemals wieder aus ihrem Gedächtnis streichen können.

Gemeinsam schwamm sie mit Mithiro durch das Wasser, ehe sie den kleinen Spalt im Felsen erblickte, durch den sie durchschwimmen mussten. So würden sie eine Etage tiefer kommen und somit in der großen Halle landen. Von da aus war der Weg nach draußen nicht mehr all zu weit.

„Hör zu...ich zähle bis drei und dann nimmst du einen sehr tiefen Atemzug. Lass meine Hand bloß nicht los. Wir müssen ein ganzes Stückchen tauchen", erklärte sie abermals im Flüsterton. Zwar waren die Wesen noch nie auf sie aufmerksam geworden, selbst wenn sie mal lauter war; herausfordern wollte sie es jetzt jedoch nicht.

Mithiro nickte ihr zu, also begann sie zu zählen.

Eins.

Zwei.

Drei.

Beide nahmen einen tiefen Atemzug, dann zog Juniper ihn mit sich unter Wasser, in die tiefe Dunkelheit, die nicht einmal von ihrem Kristall erhellt werden konnte.

Mithiro verstärkte seinen Griff um ihre Hand.

Sie tauchte immer tiefer und langsam bemerkte sie den steigenden Wasserdruck auf ihrem Körper. Allerdings blieb ihr keine Zeit sich nach Mithiro umzudrehen um zu sehen, ob er damit zurechtkam. Sie mussten weiter. Vorsichtig hielt sie eine Hand nach vorne und tastete sich an der scharfkantigen Steinmauer vor ihnen hinab, bis der Spalt breit genug war, sodass sie sich beide hindurch zwängen konnten.

Die Luft wurde knapp. Der Druck stärker.

Sie war froh, dass sie ihn nicht ziehen musste. Viel mehr fühlte es sich an, als würde er ihr Anschub und Kraft geben, schneller voran zu kommen.

Der Drang zu atmen wuchs enorm.

Der Spalt war eng und sie war sich sicher, dass sie sich beide an den scharfen Kanten einige Schnitte zuzogen. Später, wenn sie in Sicherheit waren, musste sie diese definitiv behandeln, sonst würden sie sich schlimm entzünden. Die Erfahrung hatte sie schon gemacht.

Die Lunge brannte und für einen Moment war ihr schwarz vor Augen.

Weiter immer weiter schwammen sie, bis sie den Spalt hinter sich gelassen hatten. Jetzt nach oben. Schnellstmöglich nach oben. Doch Junipers Beine schienen sich kaum noch zu bewegen. Sie war so unendlich müde. Ihre Ohren schmerzten.

Mithiro spürte, wie ihr Griff um seine Hand nachließ, dafür verstärkte er seinen. Sein Körper war voller Adrenalin, sein Herz pumpte so extrem, dass er jeden einzelnen Schlag bis in seinem Kopf hören konnte.

Sie brauchten so dringend Luft.

Er beeilte sich. Einfach nach oben. Er hatte Juniper überholt, blickte jedoch nicht zu ihr. Dafür hatte er keine Zeit. Er schwamm um ihr beider Leben und zog sie dabei mit aller Kraft mit sich. Bloß nicht ihre Hand loslassen.

Als sein Kopf die Wasseroberfläche durchbrach schnappte er sofort instinktiv nach Luft. Bewusst war ihm jedoch nur, dass Juniper von alleine einfach nicht weiter hochkam. Also zog er sie weiter, ließ ihre Hand los nur um seinen Arm um ihre Taille zu schlingen und ihren Kopf aus dem Wasser zu ziehen.

Sie hustete und japste. Das bedeutete, sie atmete. Er presste sie weiterhin fest an sich.

Kurz ließ er seinen Blick umherschweifen, bis er eine Stelle im Stein erkennen konnte, die man als eine Art Ufer bezeichnen konnte. Hauptsache heraus aus dem eiskalten Wasser. Mit einigen starken Bewegungen schwamm er zu diesem Ufer, Juniper noch immer an ihn gepresst. Er konnte ihre zittrigen und schnellen Atemzüge spüren. Doch sie atmete.

Am Ufer angekommen hielt er sich zunächst nur für einen Moment daran fest, um seine Kräfte zu bündeln. Er stützte sich auf dem Stein ab und mit einem kräftigen Stoß seiner Beine brachte er sich und Juniper auf den festen Untergrund. Gemeinsam fielen sie zur Seite, schwer keuchend und eindeutig am Ende ihrer Kräfte. Trotzdem ließ er sie nicht los und presste sie weiterhin an seine Brust. Wie ein Ertrinkender sich an ein Rettungsseil klammerte.

Es vergingen Minuten, ehe sich beide wieder in einen ruhigeren Atemzustand befanden.

„M...du...du kannst mich loslassen", raunte sie mit heiserer Stimme.

Er wollte protestieren, wollte ihr sagen, dass sie ohne ihn gerade mit Sicherheit ertrunken wäre und er somit auch elendig in diesem dunklen Gewässer verreckt wäre, hätte er sie nicht an sich gezogen. Er wollte ihr sagen, dass es doch ihre Aufgabe war ihn zu beschützen und nicht anders herum.

Stattdessen ließ er sie los, wonach sie sich sofort etwas von ihm wegrollte und vorsichtige Anstalten machte sich aufzurichten. Mithiro tat es ihr gleich. Das Adrenalin in seinem Körper hatte sich bereits verflüchtigt und eine unbändige Müdigkeit machte sich in ihm breit. Juniper schien es da nicht besser zu gehen.

„Wir müssen weiter. Wir können hier nicht bleiben. Komm schon."

Er wollte wieder etwas erwidern, biss sich stattdessen jedoch auf die Lippe.

So schritten sie weiter voran, schweigend, die Dunkelheit erhellt durch Junipers Kristall. Weiter in die Untiefen dieser Ruine und ihrer Wesen.

Es roch nach Moder und Feuchtigkeit. Nur das leise Fließen des Wassers und ihre eigenen Schritte auf dem Stein waren zu hören. Solange, bis das Wasser nur noch eine Erinnerung war und einzig ihre Schritte von den Wänden widerhallten.

Juniper hielt inne und sah sich um. Sie schien verwirrt zu sein. Mithiro beobachtete ihre Gestalt. Mit einer Hand stützte sie sich an der Wand neben sich ab. Sie wirkte so in sich zusammen gesunken und irgendwie schien sie ein wenig zu wanken.

„Den Teil hier...kenne ich nicht so gut."

Aha. Sie hatten sich also verlaufen.

Wie gerne hätte er ihr etwas dazu gesagt. Stattdessen knurrte er nur kurz.

„Wir haben uns nicht verlaufen. Ich weiß wo wir sind. Aber von hier ist der Weg nach draußen etwas weiter. Wir werden rasten müssen."

Woher sie wusste, was er dachte? Das würde Mithiro wohl nie erfahren. Also zuckte er nur mit den Schultern und deutete ihr mit einer Handbewegung weiter zu gehen. Was hatten sie auch für eine Wahl?

Sie schritten weiter voran und nach schier unendlicher Zeit schien sich aus dem scharfen Stein etwas abzuheben. Es wirkte so, als wäre vor ihnen ein Licht, welches ihre Umgebung nach und nach erhellte und ihm die Möglichkeit gab wesentlich mehr wahrzunehmen.

Er ließ seinen Blick wandern und erkannte mit einem Mal die Ausmaße dieser Ruine. Weder zur Seite, noch nach oben hin konnte er ein Ende erkennen, so weit reichte das Licht offensichtlich nicht. Doch es erhellte Dinge, die wie Gebäude aussahen. Sie waren in weiter Ferne und doch hätte er schwören können etwas wie Dächer und Fenster erkennen zu können.

„Da vorne ist ein alter Tempel...da werden wir ein wenig rasten", durchbrach Junipers Stimme plötzlich die Dunkelheit. Abermals nickte Mithiro nur, wobei er sich dabei gar nicht im Klaren war, dass sie ihn nicht anblickte und somit sein Nicken nicht sehen konnte.

Der Tempel von dem sie sprach war beeindruckend. Mehr als das. Doch seine Sprache gab ihm nicht die passenden Worte, um seinen Eindruck von diesem Tempel beschreiben zu können. Phänomenal groß, aus einem weißen Stein, den er noch nie in seinem Leben gesehen hatte. Riesige Säulen hielten das gewaltige Dach des Tempels. Hätte er raten müssen, hätte er gesagt der Tempel wäre mindestens so groß wie sein ganzer Palast. Überall standen Statuen von Engeln. Nicht eine einzige war beschädigt oder dreckig. Es schien, als würde dieser Tempel in der Zeit stehen geblieben zu sein. Genau an dem Punkt, an dem er erbaut worden war.

„Hier darfst du sprechen", kam es plötzlich von Juniper, welche ihn über ihre Schulter hinweg ansah.

Verwirrt hob Mithiro eine Augenbraue. Juniper nahm seine Verwirrung wahr und deutete auf eine Inschrift an einer der Säulen. Mithiro musste sein Gehirn stark anstrengen, doch es gelang ihm mit Müh und Not die Inschrift zu lesen. Es war henochisch, die Engelssprache.

Gesegnet sei dieser Ort, auf das nichts und niemand ihm je Schaden zufügen könne. Der einzige Richter sei Gott. Die einzige Macht sei Gott.

Ganz überzeugen konnte ihn diese Inschrift nicht.

„Jetzt stell dich nicht so an. Hier wirkt keinerlei Magie. Sie wird...blockiert würde ich sagen."

Noch immer war Mithiro nicht gänzlich überzeugt, wenn er jedoch darüber nachdachte, bemerkte er eine Veränderung an seinem Körper. Er fühlte sich plötzlich so leer. Kraftlos. Magielos.

„Was ist das hier?", flüsterte er.

Juniper war an einer der Säulen stehen geblieben und ließ sich an dieser nieder.

„Ein Tempel der Engel, die früher hier gelebt haben. Auch für sie war dieser Ort heilig. Der Einzige, der hier hätte Magie wirken können, war Gott. Angeblich hat er diesen Tempel erschaffen. Hier gibt es zig Inschriften darüber", erklärte sie und besah sich dabei ihre Hände. Sie konnte sie kaum noch erkennen. Alles verschwamm vor ihren Augen. Doch sie hatte noch eine Aufgabe zu erfüllen. Mithiro beschützen. Die Aufgabe erfüllen. Mithiro beschützen. Aufgabe. Mithiro.

Vorsichtig ließ Mithiro sich neben ihr nieder. Er hatte die Knie an den Körper gezogen, die Arme darauf abgestützt und sah sich weiter um. Der Tempel schien so hell und freundlich, dass er sich fast etwas sicher fühlte. Aber nur fast.

„Du warst offensichtlich öfters hier unten..."

„Hm", war die Antwort darauf.

„Doch nicht mehr so redselig wie vorhin oder wie?", stichelte er und blickte auf seine Begleiterin. Doch wieder quittierte sie seinen Spruch nur mit einem abwesenden „Hm". Sie konnte ihn so leicht in Rage versetzen. So unendlich leicht.

„Was? Erst quasselst du so viel mit mir und jetzt zeigst du mir die kalte Schulter oder was?"

Dieses Mal kam keinerlei Antwort von ihr. Gerade wollte er erneut ansetzen, da spürte er ihren Körper an seinem. Sie war zur Seite gekippt und lehnte sich komplett gegen ihn. Wie konnte man an so einem Ort einfach einschlafen?

„Schläfst du oder was? Jetzt ist gerade wirklich nicht der Zeitpunkt-...", er führte seine Erläuterung nicht weiter aus. Stattdessen hob er einen Arm von den Knien um sie genauer unter die Lupe zu nehmen. Die Augen waren geschlossen doch die keuchende Atmung, die blauen Lippen und das Zittern ihres Körpers waren klare Anzeichen.

„Hey so nicht!"

Er zog sie vorsichtig auf seinen Schoß. Sie beide waren durchnässt und unterkühlt. Wenn er jetzt Magie einsetzen könnte, wären sie sofort getrocknet und gewärmt. Stattdessen musste er versuchen so warm zu werden.

„Du kannst hier jetzt nicht einfach so schlapp machen...verstanden?" Er drapierte ihren Körper auf seinem Schoß zurecht und drückt ihren Kopf vorsichtig gegen seine Brust. Wie sollten sie hier rauskommen, wenn sein Fremdenführer offensichtlich nicht mehr in der Lage war auch nur einen Schritt zu tätigen und er seine Magie nicht anwenden konnte, ohne irgendwelche mystischen Wesen anzulocken? Vielleicht musste er genau das herausfordern.

„Fuck..."

Mithiro strich sich die nassen Haare aus dem Gesicht und blickt wieder auf Juniper. Ihr Gesicht war verzerrt. Offenbar hatte sie Schmerzen. Natürlich hatte sie die. Auch ihm war klar, dass der Angriff gestern Spuren hinterlassen haben musste. Insbesondere das Gift. Er hatte die Möglichkeit, dass sie noch immer mit den Folgen davon zu kämpfen hatte, einfach verdrängt.

Ganz vorsichtig strich er ihr durch die nassen, schwarzen Haare. Was auch immer hier vor ging, er würde herausfinden was es war. Er würde jeden finden, der für den Angriff verantwortlich war. Und er würde jeden qualvoll zu Tode kommen lassen.

„Ju...das wird eine unangenehme Reise..."

Seufzend legte er den Kopf in den Nacken, drückte Juniper noch etwas fester an sich und schloss die Augen. Auch wenn ihre Situation gerade alles andere als gut war, so breitete sich doch ein minimaler Frieden tief in ihm aus. Er spürte noch den Einklang ihrer beider Herzschläge, ehe er in einen traumlosen Schlaf abdriftete.

Bạn đang đọc truyện trên: AzTruyen.Top