Kapitel 1
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Die Schreie hallten durch jeden Gang, prallten von den schweren Marmorsteinen ab und drangen tief in die Ohren der Soldaten ein. Immer und immer wieder. Doch sobald die ersten Strahlen der Morgensonne das Land streiften, erlosch das Geschrei. Eine ungeheure Anstrengung lag in der Luft; allein dieses Gefühl ließ einen bereits erschöpft wirken. Als hätte man die ganze Nacht die Luft angehalten und könne jetzt das erste Mal wieder aus und einatmen.
Der nächste Schrei setzte ein, doch nun ein anderer. Ein Kind ließ diese Welt erstmals seine Stimme hören. Sofort änderte sich die Aura, die kurz zuvor noch in der Luft lag. Die Schwere war verflogen und eine aufjauchzende Freude trat an ihrer statt.
Die Magie, die nun die Wände durchströmte, war stärker als alles, was je das Antlitz dieses Palastes erreicht hatte.
Mithiro war geboren. Der prophezeite Prinz der Sonne, der den endlosen Krieg endlich beenden könne.
Genau ein Jahr später prasselte der Regen auf den fast schon ausgedörrten Boden, bildete rasch rutschige Schlammpfützen. Sturm zog um die alten, klapprigen Hütten, die womöglich diese Nacht nicht heil überstehen würden. Ein kurzer aber kräftiger Blitz erhellte die Nacht, auf den Donner musste nicht lange gewartet werden. Er überdeckte die Schreie aus der herunter gekommenen Holzhütte.
Aufgeregtes Gemurmel zwischen Knurren und abfälligen Bemerkungen entstand. Die Schreie endeten, für immer.
Doch das Kind schrie weiter. Strampelte, lebte.
Die Magie, die es ausstrahlte, war so dunkel und kräftig, dass eine tief verwurzelte Angst aus dem Unterbewusstsein hinaufkriechen und einem die Kehle zuschnüren konnte.
Schnell wurde es in ein zerrupftes Stofftuch gewickelt und mit ihm eilig die Hütte verlassen. Nur ein paar Schritte davon entfernt erklang der Donner erneut; lauter und grollender. Mit ihm schlug der Blitz in die Hütte ein. Ein ohrenbetäubendes Getöse von splitterndem und brechendem Holz, gefolgt von dem Knistern eines Feuers.
Juniper war geboren. Das Kind des Unheils und der Dunkelheit.
Damals wie heute war Larendal ein reiches Land, die Schätze verborgen in der Erde schier unerschöpflich. Die Erde war gesund und die Vegetation zeigte dies durch üppige Waldbestände, saftig grüne Wiesen und Täler und den klaren Gewässern, die sich kreuz und quer durch das Land schlängelten. Die Menschen waren zufrieden, beflügelt von all dem Glück und Reichtümern, die ihr Land und ihr König ihnen zu bieten hatte. Harte Arbeit wurde gut entlohnt, ein jeder konnte sich ein angenehmes Leben erarbeiten; solange man Magie besaß.
In der Hauptstadt Rinubia waren die mächtigsten und einflussreichsten Magier ansässig; in den Slums verteilt um die Stadtmauern herum die ärmsten und schwächsten Nicht-Magier, die Menschen. Ihnen war es verwehrt, sich von Rinubia zu entfernen, andernfalls drohte die Todesstrafe durch eine der grausigen Todeszauber der Magier. Doch so oder so wären sie getötet worden; Nicht-Magier waren die Aussätzigen des Landes. Wandelte einer von ihnen zu weit von der Hauptstadt fort und wurde enttarnt, so war sein Tod meist schnell und grausam. Zu groß die Angst, er könne den anderen ihre magischen Fähigkeiten rauben; auch wenn es bisher nur Gerüchte waren, die diese Angst schürten. Ihre Daseinsberechtigung in der Hauptstadt belief sich auf das Bestellen der Felder sowie das Aufziehen und Schlachten der Nutztiere oder die Anstellung als persönlicher Diener eines Magiers; zu dessen Schutz. Das eigene Leben geben, um ihn zu beschützen. Diese Art der Anstellung war für die meisten Menschen das höchste Ziel, denn sie waren durch einen Pakt sicher vor anderen Magiern und durften in den Mauern der Stadt leben. Das Risiko das eigene Leben zu opfern um seinen Meister zu retten nahmen sie dabei gerne in Kauf. Es kam zwar häufiger vor, dass Magier rücklings attackiert und getötet wurden, um ihre Macht zu stehlen, jedoch wog die Sicherheit der Stadtmauern vor der Gewalt und der Armut in den Slums davor das Risiko auf.
Mitten in der Stadt, umgeben von einer weiteren Mauer, stand der weiße Palast. Im gleißenden Licht der Mittagssonne schimmerten dessen Wände sanft in Regenbogenfarben; das Perlmutt in den Mauern sollte den Wohlstand des Landes zeigen. Ein Schatz der Natur, gefunden auf einer der unzähligen Erkundungsmissionen, die vor so vielen Jahren von den Abenteurern im Auftrag des Königs angetreten wurden.
Im Innenhof des Palastes waren die Geräusche von aufeinandertreffenden Metallen deutlich zu vernehmen, nur übertönt von Keuchen und plötzlichem wilden Geschrei.
Zwei Männer standen sich gegenüber, beide schwer mit der Atmung beschäftigt, während ihre Schwerter immer wieder aufeinander zu rasten und mit einem lauten Klingen voneinander abprallten. Schweiß lief ihnen über das Gesicht und rann weiter hinab über die blanke und braungebrannte Brust.
Die dunkelblonden Haare klebten dem Jüngeren auf der Stirn, seine blauen Augen verengt zu Schlitzen und doch wachsam. Kein Funke von Hochmut war darin zu sehen nur eine Ernsthaftigkeit, wie sie manche der Männer auf dem Schlachtfeld das erste Mal gezeigt hatten. Er nahm seine Umgebung war und stockte für einen Moment, als sich einer der Schatten der Säulen minimal zu verändern schien. Sein Untergang.
Sein Gegenüber machte dabei keine Ausnahme, dunkelgraue Haarsträhnen waren aus seinem Zopf gefallen und klebten in seinem Gesicht, ein anderer Teil rutschte ihm immer wieder über die Schultern, bis diese aufgrund des Schweißes dortblieben, als wären sie festgeklebt. Seine dunkelgrauen Augen waren auf seinen Gegner gerichtet, bemerkten jede noch so kleine Regung in der Körperhaltung. Die kleine Unaufmerksamkeit sollte seinen Gewinn sichern. Ein letzter Aufschrei und er rannte nach vorn, das Schwert fest mit einer Hand umklammert. Natürlich war sein Gegner darauf vorbereitet und erhob sein Schwert um den Angriff zu parieren.
‚Genau wie erahnt...', waren die Gedanken des Grauhaarigen, ehe er das Schwert blitzschnell in die andere Hand wechseln ließ, die freie Hand nun nutzte um die Balance beim Sprung zur Seite zu sichern, nur um seinen Gegner mit einem festen Schlag in den Nacken nach vorne zu schleudern und mit einem weiteren Tritt auf den Boden zu befördern. Sein Schwert war innerhalb eines Augenaufschlags am Hals seines Gegners, der mit weit aufgerissenen Augen im Dreck lag und noch versuchte seine Überraschung selbst zu verstehen.
„Du hast dich ablenken lassen", sprach der Grauhaarige mit keuchender Stimme. Er strich sich dabei eine der langen Haarsträhnen aus dem Gesicht nach hinten und ein triumphales Lächeln legte sich auf sein Gesicht.
„Das ist alles ihre Schuld!", knurrte der blonde Jüngling unter ihm, seine Stimme wütend und fest, trotz des schnellen Atmens.
Er rollte sich vom Schwert weg und sprang gekonnt wieder auf die Füße. Mit einer Hand versuchte er etwas des Drecks von seinem Gesicht zu wischen; verschmierte diesen jedoch nur kläglich.
Er erhob sein Schwert und deutete damit zu den Schatten.
„Sie stört mich, wo auch immer ich hingehe! Das hier hätte mich mein Leben kosten können, wären wir in einem echten Kampf gewesen!", schnauzte er seinen Lehrer an.
„Mithiro...in einem echten Kampf wäre sie schon längst vor deine Füße gesprungen und hätte mich außer Gefecht gesetzt. Du hast dich ablenken lassen, weil dein Geist nicht klar war. Das ist allein deine Aufgabe."
„Oh nein Gawen, du brauchst nicht mir die Schuld in die Schuhe schieben. SIE ist diejenige, die mich mit Absicht ablenkt. SIE will mich doch nur verlieren sehen. Sonst hätte sie auch einfach weiter in den Schatten verharren können!" Sein Zorn wuchs immer weiter. Er steigerte sich regelrecht hinein. Er wendete seinen Blick von seinem Lehrer ab und stierte hinüber zu den Schatten. „Hast du gehört Ju?! Halt dich gefälligst fern!"
Er steckte sein Schwert in die Scheide, die an dem Gurt um seine Hüfte hing und stapfte vor Wut und Erniedrigung aufgrund des verlorenen Kampfes davon, in die Untiefen des Palastes.
Gawen tat es ihm gleich und schob sein Schwert in die Scheide. Er schüttelte seinen Kopf und ließ einen entnervten Seufzer seiner Kehle entweichen, ehe er die Arme vor der Brust verschränkte und ebenfalls zu den Schatten blickte.
„Juniper!"
Aus den Schatten löste sich eine schmale Gestalt, als wäre sie gerade aus dieser Dunkelheit geboren worden. Kein normaler Mensch hätte sie dort bemerken können. Die schwarzen, langen Haare waren in ihrem Nacken zu einem Zopf zusammengebunden und fielen ihr sanft über die Schulter. Ihre dunkelgrünen Augen schienen emotionslos und wachsam. Gekleidet in völligem schwarz strahlte die Blässe ihres Gesichts in der Mittagssonne noch etwas heller als sonst.
Langsamen Schrittes trat sie auf Gawen zu; nicht einer ihrer Schritte war dabei auf der Erde zu hören. Als würde sie darüber schweben und nicht mit jedem Tritt einzelne Kieselsteine und Erde miteinander vermischen.
„Meister", entkam es ihrem Mund, ihrer Stimme war keinerlei Emotion zu vernehmen.
„Wenn er dich bemerken konnte, hast du dich nicht gut genug verborgen. Du wirst heute Abend in den Keller kommen. Daran muss gearbeitet werden. Außerdem müssen wir etwas ausprobieren." Gawen sprach klar, distanziert und kalt zu ihr. Eine andere Tonlage war von ihm ihr gegenüber jedoch noch nie zu erwarten gewesen. Er sah sie als das, was sie war: ein Mittel zum Zweck.
Juniper nickte nur, verbeugte sich kurz vor ihrem Meister und schritt davon. Der letzte Teil seiner Aussage hätte ihr womöglich Angst einflößen sollen, doch das ließ sie nicht zu. Sie hatte schließlich weiterhin eine Aufgabe zu erfüllen. Sie wich Mithiro nie gänzlich von der Seite. Irgendwo in den Schatten verbarg sie sich, bereit sein Leben mit ihrem zu beschützen.
Keiner ihrer Schritte war auf den Marmorböden des Palastes zu hören. Nur wenn man sie sah wusste man, dass sie auch wirklich da ist. Diese Art der Fortbewegung hatte sie bereits als kleines Kind früh erlernt. Jeder wortwörtliche Fehltritt wurde erbarmungslos bestraft. Kurz durchfuhr sie eine Gänsehaut und ein paar uralte Narben an den Oberschenkeln begannen zu jucken bei den Gedanken an die frühen Tage ihres Lebens, doch sie schob diese schnell wieder bei Seite; schirmte sich mental ab.
Die postierten Soldaten in den Palastmauern kannten sie bereits, trotzdem erschraken einige, wenn sie sie plötzlich wahrnahmen. Argwöhnische Blicke folgten ihr bei jedem Schritt. Keiner traute dem Mädchen über den weg. Unbewusst nestelten die Finger ihrer rechten Hand an dem Armband, dass ihr linkes Handgelenk zierte. Schmuckloses Silber ohne erkennbare Möglichkeit es ausziehen zu können. Nur wenige wussten, welche Macht dieses Stück Metall über sie hatte und wie sehr es sie verzehrte.
Ihre Ohren waren höchst trainiert. Nachdem sie zwei Monate blind durch die Gänge des Palastes streifen und ihr Training absolvieren musste, hatte sie gelernt einzelne Funktionen des Körpers besser fokussieren zu können. So war es ihr ein leichtes Mithiros genervtes Schnauben sowie sein auf und ab Gelaufe in seinem Zimmer zu hören. Es pochte in ihren Ohren, als stünde er direkt neben ihr.
Es war ein leichtes unbemerkt in sein Zimmer zu kommen und wieder in den Schatten zu lauern. Hatte sie es doch schon so häufig getan. Er kannte mit Sicherheit nicht die geheimen Wege, die die Leibgarde des Palastes passieren konnte; so auch nicht den Eingang in sein Zimmer, der Juniper in eine kleine Vertiefung hinter eine der Kommoden bringen konnte. Dort würde sie verharren, wie jeden Tag, bis etwas geschah.
Mithior war wirklich frustriert. Eine Röte lag ihm auf dem Gesicht, die seine Wut zu untermalen versuchte. Die Hände in die Hüften gestemmt, schritt er vor seinem luxuriösen Bett immer wieder auf und ab.
Warmes Sonnenlicht durchflutete das Zimmer mit Wogen von Geborgenheit und Kraft. Es floss über die aus Ebenholz gefertigten Kommoden, welche durch ihre natürlich dunkle Farbe einen starken Kontrast zu den sonst so hellen Einrichtungen des Zimmers bildeten. Doch im Licht der Sonne wirkte ihre Dunkelheit weniger stark, sie schienen viel mehr eine Wärme auszustrahlen, die die Kälte der weißen Ohrensessel mit ihren silbernen, barockartigen Verzierungen nicht ansatzweise auszudrücken vermochten. Das Perlmutt in den Wänden und Böden des Marmorgebäudes glänzte und schimmerte leicht, was Mithior offensichtlich ein Dorn im Auge war.
Er ging großen Schrittes auf die Fenster zu und zog die schweren, silbernen Vorhänge zu. Sie dunkelten das Zimmer kaum ab, verhinderten jedoch das bunte Farbenspiel des Perlmutts.
„Ich weiß ganz genau, dass du da bist, Juniper", knurrte er mit drohendem Unterton. „Ich schwöre, bringst du mich noch einmal so in Verlegenheit, wirst du längste Zeit ein Mensch", er betonte das Wort mit Abscheu, „gewesen sein."
Natürlich erhielt er keine Antwort darauf. Sie hatte vor Ewigkeiten aufgehört ihm zu antworten.
Früher, als sie beide noch Kinder waren, sah das anders aus. Er erinnerte sich kaum an die Zeit, doch er wusste noch, dass sie mit ihm gespielt hatte. Sie schien damals so sorgenfrei zu sein, dass er sich für einen kurzen Moment davon anstecken ließ und den Druck, sowie die Sorgen und Pflichten, vergessen konnte.
Mithiro würde der nächste König werden, das stand bereits fest. Auch wenn sein älterer Bruder Ren ein Anrecht darauf hatte, so verkündete dieser schon früh, dass er kein König sein möchte. Seine Bestimmung wäre die des Verteidigers des Reiches; ein wahrer Held. Der König und das Volk feierten diese Entscheidung, wodurch sein Ansehen nur noch mehr stieg. Er würde es nie offen zugeben, doch die Zustimmung und Anerkennung von all diesen Menschen zu erhalten, machte Mithiro neidisch. Er wünschte sich als Held gefeiert zu werden, trainierte erbarmungslos für seinen Einsatz im Krieg. Doch noch war er zu jung; hier wurde man frühestens mit 25 Jahren in den Krieg geschickt, alles andere seien übermütige Kinder, die ihr Leben noch nicht wertschätzen können, hatte sein Vater ihm einmal gesagt. Auch wenn alles in ihm rebellierte, respektierte er die Meinung und den Willen seines Vaters. Er musste nur noch 2 Monate warten. Bis dahin wäre dieser Krieg nie und nimmer beendet.
Seit Jahren bekriegten sich Larendal und Obsidia, in der Hoffnung den Krieg für sich zu entscheiden und eine gewaltige Macht für erbeuten zu können.
Von Anbeginn der Zeit lebten Dämonen in dieser Welt. Hässliche, garstige Biester, die es darauf abgesehen hatten die dort lebenden Menschen zu quälen, zu foltern, zu töten oder gar weitere so abstruse und vulgäre Dinge mit ihnen anzustellen, dass niemand es je wagte sich diese überhaupt vorzustellen. Der Kampf der Menschen gegen die Dämonen glich einem Kampf gegen Windmühlen. Für jeden getöteten Dämon tauchten zwei neue auf, ein nie enden wollender Strom. Bis eines Tages Abenteurer aus Larendal und Obsidia ausgesandt wurden einer Legende nachzugehen. Eine verborgene Grabstätte eines Engels sollte einen Kristall beherbergen, dessen magische Kraft den Menschen die Möglichkeit verschaffen sollte, endlich die Oberhand über die Dämonen zu erlangen.
So kam es, dass die Grabstätte gefunden wurde. Doch in der Gier der Menschen nach Macht brach ein Kampf unter ihnen aus. Keiner wollte den Kristall dem anderen überlassen. Am Ende zerbrach der Kristall in zwei Hälften. Um nicht ohne Triumpf den Rücktritt antreten zu müssen, wurden die zwei Bruchstücke in die beiden Länder gebracht.
Alchemisten schafften es die mächtige Magie aus den Bruchstücken zu locken und sie auf die Menschen zu verteilen; die Magier wurden geboren. Das Kristallstück blieb als leere Hülle zurück, die jedoch durch die Opfer von anderen Magiern wieder gefüllt werden konnte. Wer seine Kraft freiwillig an den Kristall abtrat um als normaler Mensch weiter zu leben, der ermöglichte einem anderen Magier dessen Kraft zu übernehmen und somit seine Macht ausbauen zu können. Natürlich war dieser Vorgang nur äußerst selten genutzt worden. Niemand wollte freiwillig als Mensch leben und wer gezwungen wurde seine Kraft abzugeben, der schien danach nicht mehr er selbst zu sein, als würde ein Teil von ihm fehlen. Meist starben diese Menschen binnen einer Woche und ihre gefangene Magie war nicht nutzbar; sie war dunkel, unrein und wurde von mächtigen Magiern in andere Gefäße gebannt.
Obsidia war schon immer ein gieriges Land. Hinter den gewaltigen Pässen von Shirolan, tief hinter den verbotenen Wäldern Manzanilla lag ihre Hauptstadt, Baar. Es kursierten Gerüchte, dass manch ein Ausgestoßener den beschwerlichen Weg dorthin auf sich nahm, um dort sein Leben zu verbringen und der Todesstrafe zu entkommen. Die, die diesen Weg tatsächlich beschritten, waren nie wieder gesehen. Doch allen war klar, dass Obsidia die Ausgestoßenen nur aufnahm, um sie für ihre Zwecke zu missbrauchen.
Der Friedenspakt, der zwischen den beiden Ländern herrschte, damit jedes für sich florieren und wachsen konnte, wurde mit dem Tod des Königs von Obsidia gebrochen. Es dauerte nicht lange, ehe sie Soldaten aussandten mit dem Auftrag, das Kristallstück in ihre Obhut zu bringen. Es schien als hätten sie eine Möglichkeit gefunden die Stücke wieder miteinander zu verbinden und somit eine gänzlich neue, unbekannte Quelle der Macht zu erschaffen. Seit über 30 Jahren tobte inzwischen der Krieg zwischen den beiden Ländern, ohne jemals einen klaren Sieger hervorbringen zu können.
Denn zwischen all den Kämpfen an der Front, musste man sich immer wieder mit den Dämonen rumschlagen, die zuweilen nachts in die Städte einfielen. Inzwischen war jede Stadt wie eine Festung errichtet, hohe Mauern und Posten an jeder Himmelsrichtung ermöglichten den Magiern ein fast sorgloses Leben. Nur die Menschen in den Slums vor den Stadtmauern bangten jede Nacht um ihr Leben. Keine Sorge der Magier.
Das Bett knarzte ein wenig, als Mithiro sich darauf niederließ. Ein Rascheln ließ vermuten, dass er sich hingelegt hatte um seinen Frust einfach weg zu schlafen.
Juniper lauschte weiter Mithiros Atem, welche langsam von schwer und heftig, zu ruhig und leise wechselte. Neid flammte in ihr auf. Sie schlief schon seit Jahren nicht mehr, nicht seit eines der Experimente geglückt war.
Kurz überlegte sie aus ihrem Versteck zu kommen und ihre schmerzenden Glieder zu strecken, doch dann vernahm sie ein paar Schritte auf dem Gang vor dem Zimmer. Es war ihr ein leichtes diese zuzuordnen.
Ohne ein Klopfen wurde die Tür aufgerissen. Sofort war die Luft erfüllt von einer solch starken und freudigen Aura, dass Mithiro aus seinem Halbschlaf hochschreckte.
„Na, war dein Training nicht so erfolgreich wie erhofft?", scherzte der junge Mann, der soeben jegliche Konventionen von Anstand und Privatsphäre über Bord geworfen hatte.
Juniper musste nicht hinsehen um sich vorstellen zu können, wie er dort stand. Dunkle, wuschelige Haare und warme braune Augen, ein breites Grinsen, welches perlweiße und fast perfekte Zähne zeigte; bis auf den Schneidezahn auf der linken Seite seines Kiefers. Er stand etwas weiter vorne und wirkte wie ein übriggebliebener Reißzahn aus wilderen Zeiten.
„Mika. Du kannst nicht ständig so hier reinplatzen. Irgendwann ist es soweit und ich ficke gerade deiner Liebsten das Hirn raus. Wie soll ich so meine Affäre vor dir geheim halten können?", sprach Mithiro und man konnte das dreckige Grinsen in seinem Gesicht bis ins Mark hören.
Der Angesprochene lachte laut los, ein tiefes, bauchiges Lachen.
„Zeig mir erstmal diese Liebste, dann sprechen wir übers Teilen", antwortete er keck darauf und zwinkerte Mithiro zu.
Dieser erhob sich von seinem Bett und ging auf seinen besten Freund aus Kindestagen zu, Mika Daekas. Sie waren fast gleich groß, Mika war maximal 5 Zentimeter kleiner als er selbst und doch hatte Mithiro immer zu ihm aufgesehen. Mika war die Sorglosigkeit in Person, immer zu Späßen oder in ihrem jetzigen Alter eher zu Saufgelagen bereit, um einen ätzenden Tag in einen angenehmeren zu verwandeln.
Die beiden Freunde umarmten sich kurz, ehe Mika zur Tür deutete.
„Komm mit, wir müssen dich mal wieder aufheitern." Sein Grinsen intensivierte sich und er beugte sich näher an Mithiros Ohr. „Außerdem musst du wirklich mal was ficken, anstatt dich immer nur von anderen so durchnehmen zu lassen", raunte er ihm leise zu.
Mithiro kommentierte diese Aussage nur mit einem ‚Tsk', verschränkte die Arme abwartend vor der Brust und sah seinem Freund ins Gesicht. Das Lächeln auf seinem Gesicht verriet jedoch, dass er dieser Idee definitiv nicht abgeneigt war.
„Hey Ju, ich passe auf unseren Freund hier auf, mach dir also einen entspannten Abend", rief Mika in das Zimmer hinein. Er legte einen Arm um die Schulter seines Freundes und ging mit ihm von dannen, während er ihm von seiner letzten Eroberung erzählte.
Juniper konnte noch etwas hören was stark nach ‚hart auf den Arsch geschlagen' klang, ehe nur noch das leiser werdende Gelächter in ihren Ohren nachhallte.
Vorsichtig schälte sie sich nun aus ihrem Versteck. Sie wusste, dass Mika auf Mithiro aufpassen konnte, schließlich hatte er die gleiche Ausbildung erhalten wie sie. Allerdings waren ihm mehr Freiheiten erlaubt worden; wahrscheinlich, weil er ein waschechter und noch dazu äußerst begabter Magier war.
Gedankenverloren strich sie abermals an diesem Tag über ihr Armband und verließ dann ebenfalls das Zimmer. Das Schmerzen ihrer Knochen durch das Verharren in unerträglich engen Positionen, ignorierte sie gekonnt. Die Freiheit Emotionen oder Schmerz offen zu verspüren, waren ihr nicht gestattet worden.
Sie schlich durch den Palast und wanderte hinab in die dunkleren Gemäuer, tief unter der Erde. Hier wurde die Leibgarde der Königsfamilie ausgebildet. Fern ab von all dem Licht, den fröhlichen Leuten und dem Guten, was das Leben zu bieten hatte.
Gawen saß an einem alten Tisch und war über wichtig aussehende Papiere gebeugt. Wahrscheinlich Nachrichten von der Front, die ebenfalls von den gut ausgebildeten Magiern der Leibgarde zusammengetragen wurden.
In die Leibgarde einzutreten war nicht jeder Person gestattet. Mit Beginn des Krieges jedoch wurden die Aufnahmekriterien etwas gelockert. Wer zur königlichen Leibgarde gehörte, hatte sein eigenes Leben aufgegeben. Man konnte jederzeit zur Front beordert werden, um Informationen zu sammeln oder als Spion das feindliche Lager auszukundschaften. Die wenigsten Magier wollten ihr so sorgenfreies Leben einfach für die Verteidigung aufgeben, jedoch gab es diejenigen, die aufgrund von schlechten Entscheidungen nun an die Leibgarde gebunden waren. Um zu überleben blieb ihnen nichts anderes übrig, als alles für ihr Land zu geben.
Juniper war nicht so ein Fall. Gawen hatte ihr als Kind ein einziges Mal von ihrer Mutter berichtet; ein Mensch draußen in den Slums. Um Schutz vor den Dämonen zu erhalten verkaufte sie ihr bis dato Ungeborenes Kind an die Leibgarde. Für diese bedeutet die Aufzucht eines Kindes die Möglichkeit die eigenen Moral- und Wertvorstellungen zu indoktrinieren und einen perfekten Sklaven ihrer Vorstellungen erschaffen zu können. Außerdem war der Zeitpunkt perfekt, denn er brauchte jemanden, der gemeinsam mit dem neuen Prinzen aufwachsen konnte. Je enger, desto besser. Somit war der Schutz des Prinzen gewährleistet. Dessen enorme magische Kraft könnte den Krieg beenden und allen Magiern von Larendal endlich die Macht und Ruhe geben, nach der sie sich so sehnten.
Die Geburt von Juniper war aufschlussreich und wurde absolut unter Verschluss gehalten. Da er der oberste Kommandant der Leibgarde war, konnte er manch Entscheidung alleine treffen, ohne dass der König jemals davon erfahren würde. Juniper verkaufte er dem König als gefundenes Waisenkind in den Slums, perfekt um einen lebendigen Schutzschild für den kleinen Prinzen großzuziehen.
„Geh in die Zelle und wir können starten, alles wie immer", brummte Gawen Juniper zu.
Ohne Antwort zu geben gehorchte sie. Sie wusste was geschah, sollte sie sich widersetzen. Trotzdem kamen ihr ihre Schritte plötzlich so schwer vor. Ein innerer Widerstand machte sich breit. Alles in ihr schrie nicht in die Zelle zu gehen, sich nicht auf den Stuhl zu setzen und sich nicht dort anketten zu lassen. Doch sie saß auf dem kalten Eisen, ließ sich Hände und Füße fast schon bereitwillig an die schweren Armlehnen und Beine des Stuhls ketten; das Klirren von Metall auf Metall hallte in der Luft.
Die Zelle war klein und fensterlos. Es roch modrig, denn die Feuchtigkeit steckte überall in den Mauern um sie herum. Hier und da schien sogar etwas Moos zu wachsen. Hier hatte sie bereits so viele Nächte verbracht und doch schüchterte sie die Zelle immer wieder ein.
Gawen trat vor sie und blickte ihr in die Augen.
„Wir fangen an", kam es aus seinem Mund und sie hätte schwören können einen Hauch von Vorfreude darin hören zu können, ehe gleißendes Licht ihr jegliche Sicht nahm und ihr Körper plötzlich in ungeheure Schmerzen ausbrach.
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