6. whiffler
whiffler: jemand, der häufig seine Meinung, seine Einstellung, seine Interessen, etc. ändert
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Samstag, März
Sebastian fand es nicht unbedingt erfreulich, dass er am Samstagmorgen eine Nachricht von Harper auf seinem Handy fand. Er schlug ein Treffen am Wochenende vor.
Sebastian wusste nicht, ob er die Nachricht ignorieren sollte oder nicht. Er entschied sich dafür, Harper zu schreiben, dass er keine Zeit hatte, und zu hoffen, dass der das nicht als Anlass nahm, ihn an einem anderen Tag sehen zu wollen. Denn er glaubte nicht, dass Harper sich öfter als ein paar Mal mit Ausreden abspeisen lassen würde. Er war mitunter sehr stur. Das wusste Sebastian, da Harper bereits zwei Monate bevor sie wirklich zusammengekommen waren, Interesse gezeigt und nicht nachgelassen hatte, bis Sebastian sich mit ihm verabredet hatte.
Tief in Gedanken versunken, bemerkte er kaum, dass er in seine Station einfuhr und vergaß beinahe, auszusteigen. Als die Türen sich schon beinahe schlossen, sprang er auf, klemmte sich sein Skateboard unter den Arm und schlüpfte auf den Bahnsteig hinaus.
Normalerweise lief er zu den Moriartys, aber seit dieser Woche war es seit langem mal wieder sonnig und die Straßen waren trocken, also hatte er sein Skateboard mitgenommen. Nicht, dass er sich deshalb besonders cool vorkam, aber es machte Spaß und es war einfach und gleichzeitig erforderte es Konzentration, was bedeutete, dass er abgelenkt war und seine Gedanken für einen ruhigen Moment ignorieren konnte. Seine erste Freundin, die immer darauf bestanden hatte, dass man sie bei ihrem Künstlernamen, Anthea, nannte, hatte es ihm beigebracht, genauso wie das Sprayen und er erinnerte sich gern daran, obwohl Anthea noch immer in Irland lebte und vermutlich glücklicher als Sebastian selbst war.
Die Tür öffnete sich, noch bevor Sebastian überhaupt klopfen konnte. Jim stand im Flur mit verschränkten Armen und hochgezogenen Augenbrauen. „Du bist also doch ein Punk."
Sebastian runzelte die Stirn und sah an sich hinunter: schwarze, zerrissene Jeans und eine Lederjacke, darunter ein einfaches T-Shirt. Er hob die Schultern. „Wenn du das sagst."
Er schob sich an Jim vorbei ins Haus, lehnte das Skateboard an die Wand, zusammen mit seinem Rucksack, und zog seine Schuhe aus. „Wie geht es Dorian?", fragte Sebastian nebenbei. Eliza hatte ihn am Morgen angerufen, um ihm zu sagen, dass er nur auf Dorian aufpassen brauchte, weil Andrew mit seinen Großeltern unterwegs war, der jüngste ihrer Söhne sich jedoch eine Grippe eingefangen hatte. Sie hatte gesagt, dass sie und ihr Mann keine Zeit hätten, sich um ihn zu kümmern und ob Sebastian das übernehmen könnte. Da Sebastian am Samstag sowieso beinahe immer bei den Moriartys war, hatte es ihm nichts ausgemacht. Ihm war allerdings aufgegangen, dass er gar nicht wusste, als was Eliza und Joseph arbeiteten und wieso sie immer so wenig Zeit hatten - so viel er wusste, könnten sie auch eine Mafia leiten. Sebastian hatte beschlossen vorsichtshalber nicht nachzufragen.
„Er schläft", antwortete Jim auf seine Frage hin und Sebastian hätte seine Antwort beinahe nicht mitbekommen. „Schon seit drei Stunden. Er war heute nur zwei Stunden wach. Vielleicht liegt er ja auch im Koma, keine Ahnung, ich bin schließlich kein Arzt."
Nun war es Sebastian, der Jim mit hochgezogenen Augenbrauen anblickte. „Ich glaube, ich sehe lieber kurz nach ihm."
Jim folgte Sebastian nach oben in den ersten Stock und zum Zimmer seines kleinen Bruders. Zunächst wunderte Sebastian sich darüber, doch dann ging ihm auf, dass Jim vermutlich ziemlich gelangweilt war mit seinem kranken Bruder als einzige Gesellschaft. „Ich wundere mich ehrlich gesagt, dass du noch hier bist", sagte Sebastian als sie die Treppen hinaufgingen und drehte sich halb zu Jim um. „Oder warst du bereits draußen und bist nur rechtzeitig zurückgekommen?"
Jim zog die Nase kraus. „Es ist Samstag und gutes Wetter. Denkst du etwa, ich verlass das Haus, wenn überall so viele gut gelaunte Menschen unterwegs sind?"
Sebastian verdrehte die Augen und lachte dann leise. Es überraschte ihn nicht unbedingt, dass Jim (gut gelaunte) Menschen nicht ausstehen konnte.
Oben am Treppenende dämpfte Sebastian seine Schritte ein wenig und schlich zur Tür von Dorian.
„Mach dir keine Mühe, den könnte nicht einmal eine Sirene wecken", rief Jim ihm laut zu und Sebastian hätte ihn liebend gern geschlagen, stattdessen atmete er nur einmal tief durch, um seine Kontrolle zu bewahren und öffnete dann vorsichtig die Tür zum Kinderzimmer. Die Jalousinen waren heruntergezogen, sodass das Zimmer in Finsternis lag, die Luft war heiß und stickig und im Bett konnte Sebastian durch den Lichteinfall, der aus dem Flur kam, gerade so Dorians kleine Gestalt erahnen, zusammen gerollt und leise schnarchend. Er war also wenigstens nicht tot, wenn Jim auch sagte, dass er vielleicht im Koma lag.
„Sag ich doch", sagte Jim, der ihm über die Schulter blickte, weiterhin nicht bemüht, seine Stimme zu senken.
Sebastian warf ihm einen warnenden Blick zu und trat ein paar Schritte ins Zimmer. Er fragte sich, ob er das Fenster öffnen sollte, denn es roch nach Krankheit und war heiß, aber er wusste nicht, ob das Dorian helfen würde oder ob es noch zu kalt draußen war. Schließlich entschloss er sich, wenigstens eines der beiden Fenster anzuklappen und trat dann wieder aus dem Zimmer. Die Tür ließ er leise ins Schloss fallen.
„Du hättest gar nicht kommen brauchen, es gibt nichts für dich zu tun", bemerkte Jim, woraufhin Sebastian nur die Schultern hob und wieder die Treppen hinunterschritt; Jim an seinen Fersen.
„Jetzt bin ich da und ich hab eh nichts Besseres zu tun."
„Wieso, hast du keine Freunde?", fragte Jim frei heraus.
„Doch, natürlich!" Sebastian fiel auf, dass er ziemlich empört klang.
„Aber du bist samstags fast immer hier. Es ist Wochenende. Du könntest deine Freunde treffen oder feiern gehen."
Sebastian verzog das Gesicht und schon allein bei dem Gedanken an so viele Menschen und so viel Lärm wünschte er sich in sein Bett. „Ich bin nicht so der Typ fürs Feiern." Nicht, dass das immer so gewesen war. Mit fünfzehn hatte er seinen Bruder oft auf Partys begleitet, obwohl der das nur widerwillig zugelassen hatte. Auf der letzten waren auch Austauschschüler anwesend und alles war spaßig und lustig gewesen bis Severin angefangen hatte, sich mit einem Dänen zu prügeln, der nicht ganz verstanden hatte, dass Sebastian in Ruhe gelassen werden und nichts von ihm wollte. Danach war Sebastian nicht mehr mit seinem Bruder mitgekommen und wenige Wochen später hatte seine Mutter sich von seinem Vater losgesagt und sie waren nach London gezogen. Sebastian vermisste vieles aus Irland, aber sicher nicht das Feiern und so hatte er hier gar nicht erst damit angefangen.
„Erde an Sebastian." Eine Hand wedelte vor seinen Augen und heftig blinzelnd riss er sich aus seinen Gedanken.
„Was?"
Jim verdrehte die Augen. „Nicht so wichtig. Also, was machen wir jetzt?"
Sebastian hatte nicht gewusst, dass sie jetzt irgendwas machen würde, runzelte also nur verwirrt die Stirn. „Äh... Also ich werde, wenn Dorian sowieso schläft, an meinem Aufsatz weiterschreiben." Er deutete in Richtung Flur, wo sein Rucksack lag, welcher seinen Laptop beinhaltete, den er in weiser Voraussicht mitgenommen hatte.
„Aber mir ist langweilig." Jim zog eine Schmolllippe und Sebastian schnaubte.
„Da kann ich nichts dafür. Ich bin leider nicht dein Entertainer und dieser blöde Aufsatz macht dreißig Prozent meiner Note aus." Er lief in den Flur und kehrte wenig später mit seinem Laptop unterm Arm zurück.
Jim hatte sich an den Küchentisch gesetzt und verfolgte Sebastian mit seinen Blicken, als der sich auf der weißen Couch niederließ. „Wie lang dauert das mit dem Aufsatz?" Er stützte sein Kinn auf seiner Hand ab, wobei ihm eine seiner schwarzen Haarsträhnen in die Augen fiel; Jim machte sich nicht die Mühe, sie wegzustreichen.
Sebastian sah auf den sich hochfahrenden Computer und seufzte schwer. „Bei meiner Aufmerksamkeitsspanne und meinem Erinnerungsvermögen? Eine Ewigkeit."
Jim gab so etwas wie ein langgezogenes, gequältes Stöhnen von sich, dann ließ er seinen Kopf auf den Küchentisch knallen. Sebastian fand, dass er ganz schön dramatisch war.
„Und was soll ich machen?", nuschelte Jim gegen den Tisch. „Dass ich vor Langeweile sterbe, interessiert natürlich niemanden."
Sebastian schnaubte. „Dann mach doch auch Hausaufgaben." Er hielt kurz inne. „Warte, ich hab dich noch nie Hausaufgaben machen sehen. Machst du die in deinem Zimmer oder je oder bekommst du überhaupt Hausaufgaben?"
„Ich hab Hausunterricht." Jim drehte den Kopf zur Seite, sodass er noch mit der rechten Gesichtshälfte auf dem Tisch lag und annähernd Richtung Sebastian blickte. „Ich bekomme keine Hausaufgaben, weil ich alle Aufgaben zu Hause mache."
Sebastian sah wieder von seinem Laptop auf, in den er sich soeben eingeloggt hatte. „Oh, das wusste ich nicht. Wie ist das so?"
„Es wäre besser, wäre mein Lehrer nicht so inkompetent. Außerdem hasst er mich. Er sagt, ich sei nervig", erklärte Jim und grinste leicht. „Kannst du das glauben?"
„Nein, unmöglich, dass er dich meint", entgegnete Sebastian amüsiert und auch seine Mundwinkel zuckten.
Dann erstarb ihre kurze Konversation und für ungefähr eine halbe Stunde arbeitete Sebastian tatsächlich an seinem Geschichtsaufsatz, konnte sich jedoch nicht wirklich konzentrieren, weil er Jims Blick die ganze Zeit auf sich spürte. „Wieso gehst du nicht auf eine normale Schule?", fragte Sebastian, als er die Stille nicht mehr aushielt.
Er schaute zu Jim, der mittlerweile die Füße auf einen weiteren Stuhl gelegt und seinen Kopf gegen die Lehne gelehnt hatte. Jim erwiderte seinen Blick aus seinen dunklen Augen und Sebastian empfand so etwas wie Unbehagen bei dem Gedanken, dass diese dunklen Abgründe ihn so lang angesehen hatten, dass sie ihn hätten verschlingen können.
„Bis vor zwei Jahren war ich auf einer", beantwortete Jim seine Frage. „Aber die Schule und ich... Wir kamen nicht gut zurecht."
„Du bist von der Schule geflogen", stellte Sebastian fest.
„So würde ich das jetzt nicht bezeichnen. Ich bin nur einen anderen Weg als viele andere gegangen."
„Weil du von der Schule geworfen wurdest."
Jim hob einen Mundwinkel. „Kann sein."
„Wieso?"
„Wieso ich von der Schule geworfen wurde?" Sebastian nickte und Jim seufzte leicht. Es wunderte Sebastian, dass Jim auf seine Fragen antwortete und generell so umgänglich war. Er hoffte, dass es nicht aus Mitleid war, weil er Harper getroffen und vermutlich erraten hatte, dass er und Sebastian keine sonderlich gesunde Beziehung geführt hatten.
„Ich sollte ein Projekt mit diesem Jungen zusammen machen. Und wir waren uns uneinig, wie das letzte Problem unserer Aufgaben gelöst werden sollte. Dann haben wir begonnen, uns zu streiten und dieser Streit eskalierte ein wenig-"
„Habt ihr euch geprügelt?", unterbrach Sebastian ihn, der sich Jim, welcher eher schmächtig war, nicht unbedingt in einer Prügelei vorstellen konnte.
„Das könnte man meinen, aber nein." Jim begann abwesend mit dem Zeigefinger Kreise auf die Tischplatte zu zeichnen. „Jedenfalls hätte ich wissen müssen, dass ich den ganzen Ärger bekomme. Der große Bruder des Jungen war in der Schülervertretung und er hatte einen großen Einfluss auf die Schulleitung und hat sie davon überzeugt, dass das explodierte Bad nur meine Schuld war."
Sebastian öffnete den Mund, um nachzufragen, schloss ihn dann jedoch, weil er es doch lieber nicht wissen wollte.
„Und deine Eltern haben da einfach entschlossen, dass du lieber ganz zu Hause bleiben solltest?" Sebastian lehnte sich zurück, denn dieses Gespräch war definitiv spannender als die spanische Grippe und wie diese den Krieg beeinflusst hatte (auf diese Frage hatte Sebastian noch nicht wirklich eine Antwort gefunden).
„Nicht direkt meine Eltern, aber ja."
Sebastian runzelte die Stirn. „Nicht deine Eltern? Wer denn sonst, deine alte Schule?"
Jim biss sich auf die Unterlippe. „Sie haben den Rat bekommen... Von meinem Therapeuten."
„Oh."
Jetzt wandte Jim doch noch den Blick ab, blickte zu Boden anstatt zu Sebastian. „Ja, 'oh'."
„Aber... ist es nicht besser, wenn man unter Leuten ist? Ich meine, es kann doch keine Lösung sein, dich hier wegzusperren."
„Sag das mal meinen Eltern." Jim schloss die Augen und das Sonnenlicht, das hinter ihm durch das Küchenfenster fiel, warf seinen Schein auf ihn und beleuchtete ihn von hinten. Seine Haare warfen sanfte Schatten auf seine blassen Züge und er sah ganz anders aus als an dem Tag, an dem Sebastian ihn kennengelernt hatte. Viel ruhiger und ausgeglichener und... freundlicher. Er war hübsch und Sebastian erkannte es an, jetzt, wo Jim nicht mehr wie eine Naturgewalt sein Leben zerstören wollte. Obwohl selbst Tornados etwas Faszinierendes hatten.
„...ist vermutlich besser so." Sebastian hatte kaum mitbekommen, dass Jim weitergeredet hatte und er hoffte, dass sie noch beim gleichen Thema waren. „Ich meine, ich muss mich nicht mehr mit faulen Mitschülern abgeben, die nicht einmal im Kopf durch zweistellige Zahlen dividieren könnten, würde ihnen das das Leben retten. Oder mit Lehrern, die meinen, sie wären klüger, nur, weil sie ein paar Jahre studiert haben. Ich meine, Intelligenz hängt doch nicht nur von einem Abschluss ab. Oder was denkst du?"
Sebastian war ein wenig perplex, als Jim ihn nach seiner Meinung fragte und er bemerkte, dass er Jim noch immer angestarrt hatte und dass er das nicht tun sollte, auch, wenn Jim es bei ihm auch getan hatte. „Ich hoffe, dass sie nicht von einem Abschluss abhängt." Denn dann wäre Sebastian dumm wie Brot und außerdem verloren, denn alles in allem würde sein Abschlusszeugnis wohl eine Katastrophe werden.
Von oben ertönte ein Husten und Sebastian lauschte kurz, aber kein weiterer Mucks schallte aus dem ersten Stock zu ihnen herunter, weshalb Sebastian einfach davon ausging, dass Dorian entweder wieder eingeschlafen oder nie aufgewacht war.
„Darf ich dich was fragen?", fragte Sebastian und konzentrierte sich wieder auf das längste Gespräch, das er je mit Jim geführt hatte.
„Kommt darauf an. Meine Kontonummer verrat ich dir nicht."
Sebastian verdrehte die Augen, musste aber wider Willen leise lachen. Jim hatte seine Augen mittlerweile wieder geöffnet und beobachtete ihn erneut. Als Sebastian daran dachte, dass seine Frage eine ernstgemeinte und vermutlich sehr persönliche Frage war und dass Jim sie sicherlich nicht einmal beantworten würde, verblasste das Lächeln auf seinen Lippen langsam wieder und er überlegte, wie er seine Frage am besten stellen sollte. Er beschloss, einfach mit der Tür ins Haus zu fallen: „Wieso gehst du zu einem Psychiater oder Therapeuten oder was auch immer? Was... stimmt nicht mit dir?"
„Was mit mir nicht stimmt?", wiederholte Jim und lachte ungläubig auf. „Wow, noch unsensibler hättest du nicht fragen können, oder?" Glücklicherweise sah er nur halb so wütend aus, wie Sebastian es erwartet hätte, dennoch fühlte dieser sich schrecklich, weil er so eine dumme Formulierung gewählt hatte.
„Tut mir leid."
Jim antwortete für eine ganze Weile nicht und Sebastian vermutete, dass er ihn wirklich beleidigt hatte, was wirklich nicht beabsichtigt gewesen war und ihm sehr leidtat. Er hatte es verdient, dass Jim ihn jetzt wieder ignorierte.
Doch zu Sebastians Erstaunen, brach Jim sein Schweigen doch: „Es ist schwierig zu erklären. Also, eigentlich nicht, ich könnte dir einfach sagen, was in meiner Patientenakte steht, aber ich ordne mich ungern in Termen und Definitionen ein." Er schwang die Beine von dem zweiten Stuhl und richtete sich auf, sodass er nun wieder normal saß und er wandte den Blick von Sebastian ab und blickte stattdessen nach draußen. „Ich... mein Therapeut sagt, ich sei emotional instabil. Ich neige zu... Ausbrüchen. Egal von was. Du weißt schon, Wut und Freude und Angst und Trauer und- naja, du solltest es verstanden haben."
Sebastian sah genau, dass Jim unruhig seine Hände knetete und dass es ihm unangenehm war, darüber zu sprechen. Wie schon, als Andrew und Dorian beim Abendessen Jims 'Zustand' angesprochen hatten, ging Sebastian auf, dass Jim sich dafür schämte.
„Tut mir leid-", setzte Sebastian an, wurde jedoch von Jim unterbrochen, der auf seinem Stuhl herumwirbelte und Sebastian anfauchte.
„Was, dass ich so kaputt bin? Tut mir leid, deine Arroganz zu beleidigen, aber das liegt nicht an dir."
„Tut mir leid, dass ich dich gezwungen habe, darüber zu sprechen", wiederholte Sebastian seine eigentliche Entschuldigung unbeeindruckt.
Jims zornesblitzender Blick wurde gemäßigter. Er knirschte mit den Zähnen, als wüsste er nicht, ob es ihm jetzt noch erlaubt war, Sebastian anzufahren oder wütend auf ihn zu sein. „Hätte ich es wirklich nicht gewollt, dann hätte ich nicht darüber gesprochen. Das hat nichts mit dir zu tun."
„Okay, tut mir leid."
Jim warf die Arme in die Luft. „Gott, hör doch endlich auf, dich so oft zu entschuldigen!" Er sprang auf und Sebastian dachte schon, er würde aus dem Zimmer stürmen, stattdessen riss er jedoch nur eine Küchenschranktür auf und holte daraus eine Tasse.
Fast hätte Sebastian sich dafür entschuldigt, sich so viel zu entschuldigen.
Jim blickte auf seine Tasse nieder und schien zu überlegen, zu zögern. Schließlich drehte er sich zu Sebastian um, der ein wenig unsicher zurückschaute. „Willst du... auch einen Tee?" Es wirkte fast, als würde er diese Worte hervorwürgen, als hätte ihn nichts je mehr Überwindung gekostet, als Sebastian einen Tee anzubieten.
Sebastian versuchte sich an einem Lächeln. „Ja, gerne. Danke."
Jim brummte nur zur Antwort und nahm eine weitere Tasse aus dem Schrank. „Eigentlich ist noch nicht ganz Teezeit", merkte er nebenbei an. Sebastian blickte auf die Uhr, die halb vier Uhr nachmittags anzeigte. Normalerweise kam er an Samstagen gegen ein Uhr bei den Moriartys an, aber diesen Samstag war er eine Stunde später gekommen, weshalb es ungewohnt war, dass die Zeit bereits so fortgeschritten war, obwohl sein Aufenthalt noch nicht so lang anzudauern schien.
„Ich finde nicht, dass das wichtig ist. Wenn man Tee trinken will, sollte man Tee trinken." Sebastian lehnte sich auf der Couch zurück und entschloss sich, den Computer auszuschalten, da er nicht glaubte, dass er mit seinem Aufsatz heute noch viel weiter kommen würde. „In Irland hat meine Familie immer erst um fünf Tee getrunken. Das war schrecklich, weil es zwei Stunden später Abendessen gegeben hat und Vater immer darauf bestanden hat, dass ich bei jeder Mahlzeit anwesend bin."
„Ich wusste, dass du einen irischen Akzent hast. Andrew hat vermutet, dass du aus Liverpool kommst, aber er muss selbst gewusst haben, dass das Schwachsinn ist."
Sebastian wusste nicht recht, was er davon halten sollte, dass die Brüder über ihn redeten, wenn er nicht da war. Über seinen Akzent. Nicht, dass er erwartet hatte, dass sie Stillschweigen über ihn bewahrten, sobald er weg war, aber Sebastian hatte es lieber, wenn er anwesend war, wenn er selbst das Gesprächsthema war, weil er dann wenigstens wusste, was über ihn geredet wurde.
Er ließ sich keinen dieser Gedanken anmerken, sondern lächelte nur leicht. „In meiner Schule haben die Lehrer aus irgendeinem Grund Wert auf besonders reines Englisch gelegt. Deshalb hört man den Akzent nicht unbedingt so deutlich."
Sebastian beobachtete, wie Jim Wasser aufsetzte und zwei Teebeutel aus einem weiteren Schrank holte. „Wie lang lebst du schon in London?", fragte Jim am Rande.
„Etwas über ein Jahr."
Jim nickte nachdenklich. „Ich seit fast sechs Jahren. Vorher habe ich auch in Irland gewohnt."
Sebastians Augenbrauen schossen erstaunt in die Höhe - das hatte er wirklich nicht gewusst. Seine Familie wirkte eigentlich nicht sonderlich irisch und Dorian und Andrew hatten sogar einen leichten britischen Akzent - was logisch war, denn sie waren jünger als Jim und somit unter einem stärkeren Einfluss der Sprache.
„Wieso seid ihr weggezogen?", fragte Sebastian.
„Wir brauchten einen... Neuanfang." Jims Ton machte deutlich, dass er keine weiteren Fragen akzeptieren würde, also hielt Sebastian den Mund. „Und wieso ihr?"
„Meine Eltern haben sich scheiden lassen", erklärte Sebastian. „Mein Vater und mein großer Bruder sind in Irland geblieben und meine Mutter und ich sind hierhergezogen."
„Vermisst du deinen Bruder und deinen Vater?"
Sebastian zögerte kurz und schüttelte dann den Kopf, obwohl Jim ihn nicht einmal ansah. Deshalb fügte er noch hinzu: „Nicht wirklich. Vermisst du irgendjemanden aus Irland?"
Jim drehte den Kopf kurz in seine Richtung und lächelte schief. „Nicht wirklich."
Als der Tee fertig war, setzte Jim sich überraschenderweise zu Sebastian auf die Couch, wenn auch mit einigem Abstand.
Eine Weile schlürften sie nur schweigend ihren Tee und Sebastian dachte erneut, dass Jim heute wirklich umgänglich war. Er fragte sich, ob das irgendwie mit dem zusammenhing, was Jim ihm soeben erzählt hatte oder ob er sich einfach an Sebastian gewöhnt hatte.
„Wann kommt Andrew wieder?", fragte Sebastian irgendwann, denn er mochte es nicht, wenn zu lang Stille herrschte und ohne zwei kleinere Jungen, die dem Haus Leben einhauchten und nur mit zwei schweigenden Teenagern und einem schlafenden Kind war es beinahe unheimlich still.
Jim nahm einen weiteren Schluck seines Tees - Sebastian bemerkte, dass er Linkshänder war - und hob anschließend die Schultern. „Keine Ahnung. Grandpa und Grandma haben selten Zeit und wenn sie doch Zeit haben, wollen sie immer viel unternehmen."
„Wieso bist du nicht mitgegangen?" Der Tee war ein wenig bitter, aber das mochte Sebastian, weil das so ein anderer Geschmack war als von dem, was er sonst trank und aß. Süß oder würzig, daran war er gewöhnt, aber Bitterkeit war selten und er kostete diese Seltenheit gern.
„Sie wollen immer viel unternehmen", betonte Jim noch einmal zur Antwort und Sebastian schnaubte leicht.
Ihm kam eine Idee. „Hey, wir können doch was unternehmen. Ich meine, es muss nervig sein, immer mit deinen kleinen Brüdern zusammen zu sein. Und vielleicht ist es gut, wenn du mal mit Gleichaltrigen-"
„Nein", unterbrach Jim ihn schroff.
Sebastian klappte seinen Mund zu, suchte dann nach Worten, um seine Verwirrung auszudrücken. „Nein? Wieso nicht?"
Jim stellte seine Tasse ein wenig zu laut auf den kleinen Glastisch vor der Couch und für einen Moment hatte Sebastian Angst, dass entweder die Tasse oder das Glas brach. Es klirrte jedoch nur laut und Jim sprang von der Couch auf. „Ich hätte dir nichts erzählen sollen. Das war ja so klar." Er schüttelte den Kopf und wandte sich ab und Sebastians Verwirrung wuchs nur.
„Was war klar?"
„Dass du Mitleid bekommst." Er sprach »Mitleid« aus, als wäre das eine besonders widerwärtige, tödliche Krankheit. „Du bist so vorhersehbar und... nutzlos! Ich brauche es nicht, dass du mich so ansiehst, als wäre ich ein ganz besonders schwieriger Fall; ein trauriger, kleiner Junge. Wenn du denkst, dass ich es schade finde, dass ich mich nicht mit anderen Gleichaltrigen abgebe, dann irrst du dich. Ich tue es absichtlich, damit ich nicht an solche Heuchler wie dich gerate und weil ich auch sehr gut allein klar komme. Also verschone mich mit deinem Mitleid und deinen guten Absichten!"
„Jim, ich-", setzte Sebastian an, denn das hatte er nicht gewollt; dass Jim sich so angegriffen fühlte, obwohl Sebastian es gar nicht so gemeint, ja nicht einmal so gedacht hatte.
„Lass mich in Ruhe!", fauchte Jim und schon war er weg, bevor Sebastian sich auch nur entschuldigen konnte.
Sebastian war wie vor den Kopf gestoßen. Das war jetzt wirklich nicht so gelaufen, wie er erwartet hatte. Gerade da er gedacht hatte, dass Jim sich ihm endlich öffnete und ihn akzeptierte, hatte er das wieder versaut.
Er vergrub das Gesicht in den Händen und ächzte leidvoll. Jetzt durfte er sich wohl wieder darauf einstellen, dass Jim ihn hasste.
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Wörter: 3746
Lied: Bored to Death ~ Blink-182
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