16. liberosis
liberosis: das Verlangen, sich weniger um Dinge zu scheren
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Freitag, Mai
Sebastian saß in einem Café und trank bereits seinen dritten Kaffee - um den giftigen Blicken der Angestellten zu entgehen, hätte er sich nur eine Tasse bestellt.
Eigentlich mochte er gar keinen Kaffee, aber es gab kaum etwas anderes und solange er hier saß, musste er nicht nach Hause. Was gut war, weil sein Bruder vor ungefähr drei Stunden für eine Woche zu Besuch gekommen war und Sebastian bemerkt hatte, dass es viel einfacher war, sich gut mit jemandem zu verstehen, wenn der hunderte von Kilometern entfernt war - schon allein, wenn er Severin sah, schrie alles in ihm nach Flucht; also war er geflüchtet und jetzt saß er seit kurz nach Schulschluss auf dem gleichen Platz und beobachtete Fußgänger beim Vorbeigehen.
Aus diese Tätigkeit wurde er gerissen, als ein Teller mit einem Stück Pflaumenkuchen vor seine Nase gestellt wurde. Sebastian sah überrascht auf. Ein Mädchen, etwa in seinem Alter und mit stark gelockten schwarzen Haaren, lächelte ihn zögerlich an.
Sebastian versuchte, ihr Lächeln zu erwidern, scheiterte aber schon beim Versuch und sah stattdessen auf den Kuchen. „Entschuldigung, aber ich habe den nicht bestellt."
„Ich weiß. Geht aufs Haus." Sebastian sah überrascht auf, als das Mädchen sich ihm gegenüber niederließ und erklärend hinzufügte: „Du sahst aus, als könntest du ihn gebrauchen."
Einen Moment wusste er nicht, was er sagen sollte. Er ließ seinen Blick kurz durch das Café schweifen, sah, dass außer ihm nur noch zwei Jungen in einer Ecke saßen, die über einer Zeitung gebeugt dasaßen und sich angeregt unterhielten. Es gab also nicht viel für das Mädchen zu tun, welches sich ihm gegenüber hingesetzt hatte und offenbar hier arbeitete. Kein Wunder, dass sie sich da lieber mit Sebastian beschäftigte. „Danke", murmelte Sebastian nach einigen Sekunden und griff nach der Gabel, die neben dem Kuchen lag, aß dann zögerlich ein kleines Stück.
Die Schwarzhaarige beobachtete ihn dabei, was ein wenig unheimlich war, aber Sebastian wollte nicht unhöflich sein, nachdem sie ihm einen Kuchen spendiert hatte, also hob er, ein wenig verkrampft, doch noch seine Mundwinkel.
„Ich bin übrigens Sally." Sally reichte ihm ihre Hand über den Tisch und Sebastian schüttelte sie unsicher.
„Sebastian."
Sally sah an ihm vorbei auf die Straße. „Wartest du auf jemanden?"
Sebastian folgte ihrem Blick kurz. „Oh, nein. Ich wollte mich nur-" -vor meinem Bruder verstecken, den ich das letzte Mal vor anderthalb Jahren gesehen habe und der mir meine Kindheit zur Hölle gemacht hat.
Sally hob kurz fragend eine Augenbraue, erwartete jedoch glücklicherweise nicht, dass Sebastian seinen Satz doch noch beendete. „Ich glaube, ich habe dich schon einmal gesehen." Sie legte den Kopf leicht schief, während Sebastian überrascht zu ihr blickte. Sally nickte, wie zu sich selbst. „Ja, habe ich. Hast du nicht eine Weile in dem Café ein paar Straßen weiter gearbeitet?"
„Hab ich." Sebastian hätte nicht gedacht, dass jemand ihn dort bemerkt hatte. Er hatte eigentlich beinahe immer nur hinter dem Tresen gearbeitet und Kaffee oder andere Getränke zubereitet; das Servieren hatte Harper übernommen.
Es war frustrierend; egal, bei welchem Thema, irgendwie schienen seine Gedanken immer wieder zu Harper zu wandern - was ihn ironischerweise in Erinnerung rief, dass da noch jemand war, mit dem er seinen Freitagabend verbringen konnte, anstatt allein in einem Café zu sitzen.
Die Idee begeisterte ihn so, dass er beinahe sofort aufstand und Geld auf den Tisch fallen ließ; mit einem großzügigen Trinkgeld für Sally, die verwirrt zusah, wie Sebastian aus dem Café hastete, den Kuchen stehen ließ und über die Schulter rief: „Danke für den Kuchen, schönen Tag noch!"
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Sebastian vergaß beinahe, Jim zu fragen, ob er überhaupt Zeit und Lust hatte. Er saß bereits in der Tube auf dem Weg nach Cheswick, als ihm einfiel, dass er Jim wohl erst schreiben sollte.
Glücklicherweise antwortete Jim beinahe sofort - kein Wunder, er hatte ja auch noch immer Hausarrest - und zeigte sich sogar begeistert über ein Treffen mit Sebastian. Seine Eltern seien sowieso mit seinen Brüdern unterwegs und würden nicht mitbekommen, dass er sich hinausschlich.
Sebastian holte Jim bei dessen Haus ab. Die Tür öffnete sich beinahe sofort, nachdem er geklopft hatte und ein grinsender Jim stand ihm gegenüber. „Hattest du Sehnsucht nach mir?", fragte er und wackelte mit den Augenbrauen und Sebastian verdrehte anstatt einer Antwort die Augen - vielleicht auch, weil die Wahrheit war, dass er durchaus Sehnsucht nach Jim hatte und das, obwohl sie sich erst am Mittwoch gesehen hatten.
„Mir war langweilig", behauptete Sebastian. „Und deshalb werde ich dich jetzt zum Essen ausführen."
Er griff nach Jims Hand und wollte ihn aus dem Haus ziehen, dann bemerkte er, dass Jim vielleicht noch Schuhe bräuchte und außerdem zögerlich schien.
„Du meinst in ein Restaurant?"
Sebastian nickte.
„Wie ein Date?"
Erneut nickte Sebastian. Ein kleines Lächeln umspielte seine Lippen. „Ein richtiges Date diesmal. In einem Restaurant, am Abend und nicht mitten in der Nacht-"- er sah an sich herunter, bemerkte, dass er noch immer das Hemd der Schuluniform trug - „mit einigermaßen schicker Kleidung. Und mit dem Jungen, den ich sehr mag."
Jim wurde tatsächlich rot. Das war ein so seltenes Bild, dass Sebastian gleich viel bessere Laune bekam und noch überzeugter von seiner Idee war.
„Äh, okay." Jim klang so unsicher - als würde Sebastian ihn zum Bungeespringen überreden wollen und nicht dazu, mit ihm auszugehen. „Gib mir fünf Minuten."
Und damit verschwand er ins Hausinnere, ließ die Tür jedoch glücklicherweise offen, sodass Sebastian hinter ihm eintreten konnte.
Jim war bereits nirgends mehr zu sehen; er musste nach oben gegangen sein. Einen Moment stand Sebastian unentschieden im Flur, ehe er sich weiter ins Haus wagte. Es war befremdlich, wenn weder Andrew noch Dorian da waren. Plötzlich wirkte das Haus ganz leer und groß und Sebastian wusste nicht, wie Jim es den ganzen Tag allein hier ertragen sollte, wenn seine Brüder in der Schule waren - obwohl er nicht ganz allein war, immerhin wurde er ja zu Hause unterrichtet und somit musste ein Lehrer bei ihm sein. Was wohl noch schlimmer war, als den Tag einfach allein zu verbringen. Da würde Sebastian auch jede Chance nutzen, herauszukommen.
„Jim?", rief Sebastian in die Stille hinein.
„Gleich da!", schallte es von oben, wie Sebastian vermutet hatte.
Sebastian folgte Jims Stimme zur Treppe und lehnte sich neben ihren Absatz. „Ziehst du dich jetzt etwa um?", fragte er laut.
Schweigen antwortete Sebastian, woraufhin dieser lachen musste. „Du musst dich nicht für mich aufhübschen. Ich finde auch so, dass du gut aussiehst."
„Halt die Klappe!", ertönte es im oberen Stockwerk. „Das mach ich nicht für dich, sondern damit ich mich nicht vor allen blamiere, wenn du mich schon unbedingt unter Menschen schleppen musst."
Sebastian schüttelte den Kopf, weiterhin grinsend. „Du blamierst dich doch ni-" Er stockte als Jim wieder die Treppen herunter polterte; jetzt in einer hellen Jeans und einem dunkelblauen Hemd, das sich um seinen Oberkörper schmiegte und Sebastian dazu veranlasste, dieses Bild genauestens in sich aufzunehmen. „Okay, ich beschwer mich nicht mehr. Du siehst..."
„Heiß aus?", schlug Jim vor; ein zufriedenes Lächeln zupfte an seinen Mundwinkeln.
Sebastian wurde so rot, dass selbst seine Ohren und sein Nacken glühten. „Halt die Klappe."
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Jim war nicht mehr so selbstbewusst, als sie im Restaurant saßen. Trotzdessen dass Sebastian ihnen einen Platz in einer der hinteren Ecken, weit entfernt von den Fenstern, gesucht hatte (denn Jim hatte von Anfang an nervös gewirkt), blickte Jim immer wieder um sich, als würde er erwarten, dass irgendwer sein Essen auf ihn warf.
„Was ist los?", fragte Sebastian besorgt, nachdem Jims Unruhe nach fünfzehn Minuten noch immer nicht nachgelassen hatte.
„Hm?" Jim drehte sich zu ihm und schüttelte anschließend den Kopf. „Nichts. Wann denkst du, kommt ein Kellner?"
Vielleicht, wenn Jim aufhörte, um sich zu schauen, als wäre die Mafia hinter ihm her.
„Du weißt, dass niemand zu uns herübersieht, richtig?"
Jims Finger trommelten einen unruhigen Rhythmus auf der Tischplatte. „Ja, ich weiß." Einen Moment hielt er im Klopfen inne. „Aber es fühlt sich so an."
Sebastian seufzte leicht und legte die Speisekarte, die man ihnen schon beim Zuweisen der Plätze gegeben hatte, beiseite. „Niemand interessiert sich für uns, Jim. Die sind alle mit sich selbst beschäftigt."
Jim nickte, wirkte jedoch noch immer nicht überzeugt. Sebastian griff nach seiner Hand, um ihn davon abzuhalten, weiter auf dem Tisch zu trommeln.
Vielleicht ging Jim nicht oft unter Leute. Vielleicht hatte es einen Grund - außer seinen Hausarrest - wieso er meistens nachts nach draußen ging. So, wie er um sich sah, wirkte es tatsächlich, als würde er einen Angriff erwarten, und vielleicht tat er das auch; vielleicht hatte Jim keine guten Erfahrungen mit anderen Menschen gemacht, genauso wie Sebastian, und vielleicht musste Jim auch manchmal genauso daran erinnert werden, dass die Welt nicht nur schlecht war.
„Was willst du bestellen?" Sebastian schob Jim die Speisekarte hin und der schlug sie zögerlich auf, entzog seine Hand dabei Sebastians Griff.
Eine Weile las er sich die Speisenangebote durch und Sebastian begnügte sich damit, ihn einfach zu beobachten. Während er sich auf die Karte konzentrierte, wirkte er gleich viel entspannter und er biss sich nachdenklich auf die Lippe und seine Wangenknochen wirkten im warmen Schein der Restaurantbeleuchtung noch geschwungener und weicher.
„Ich weiß nicht einmal, was das ist", murmelte Jim und blieb mit dem Blick an einer Speise hängen.
„Dann bestell das. So probierst du etwas Neues."
„Ich weiß ja nicht. Was, wenn das Schweinsmagen ist? Oder Taubenkacke mit Petersilie?" Jim zog eine skeptische Grimasse, während Sebastian sich alle Mühe gab, nicht loszuprusten, damit nicht doch alle anderen Gäste Interesse an ihnen fanden.
„Ich kann dir versichern, dass es hier keine Taubenkacke gibt - mit oder ohne Petersilie."
„Schweinemagen will ich aber auch nicht." Jim hob den Blick von der Karte und Sebastian bemerkte das amüsierte Funkeln in seinen Augen. „Ich werde es nur bestellen, wenn du, egal, was es ist, etwas davon kostest."
„Aber ich will auch keinen Schweinemagen", protestierte Sebastian, ehe er sich noch im gleichen Moment geschlagen gab: „Gut, ich mache es, aber dann lass uns auch endlich was bestellen. Ich verhungere nämlich."
Jim verdrehte die Augen. „Ja, du siehst auch aus, als würdest du gleich von den Knochen fallen."
Sebastian schnappte empört nach Luft und beugte sich über den Tisch zu Jim. „Hast du mich gerade fett genannt?!"
Jim verschränkte die Arme und hob unbeeindruckt eine Augenbraue. „Dramaqueen. Ich dachte, wir bestellen jetzt."
Sebastian pustete sich eine Haarsträhne aus den Augen. „Tun wir auch." Er lehnte sich zurück, wobei er gespielt beleidigt den Blick von Jim abwandte - was zu einem erneuten Augendrehen Jims führte - und versuchte anschließend einen Kellner herbeizuwinken.
Er sah im Augenwinkel, dass Jim ihn musterte und ein leises Lächeln seine Lippen zierten, was ihn selbst sogleich noch viel glücklicher machte und dazu führte, dass er die Bestellung, als der Kellner schließlich kam, viel zu euphorisch aufgab. Doch das kümmerte vermutlich niemanden. Sebastian kümmerte es nicht. Er fand es einfach schön, mit Jim hier zu sein.
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„Ich weiß nicht... Eigentlich habe ich noch überhaupt keine Idee, was ich mit meinem Leben anfangen will." Irgendwie waren sie auf das Thema gekommen, was sie sich für ihre Zukunft wünschten und viel hatte Sebastian da nicht zu erzählen: „Ich meine, ich mache schon meinen Abschluss, aber was danach geschehen soll... das ist alles ein bisschen verschwommen. Ich habe diese ungefähre Vorstellung vom Glücklichsein und dass ich irgendwie zurechtkomme. Es fehlt mir nur an einem genauen Plan." Sebastian hob verlegen einen Mundwinkel, erwartete beinahe, dass Jim von seiner Antwort enttäuscht sein würde, weil es wirklich nicht viel war, was er sich für die Zukunft vorgenommen hatte, doch Jim nickte nur langsam.
„Mir geht es auch so. Ich meine, alle erwarten, dass man ab einem bestimmten Alter einfach genau weiß, was man will - wo man arbeiten will, wo wohnen, wie leben, mit wem sein ganzes Leben verbringen. Aber ich weiß es nicht." Jim hob seine Schultern. „Vielleicht werde ich es gar nicht herausfinden. Aber ich denke nicht, dass das so schlimm wäre."
Sebastian wünschte sich, er könnte auch so denken: aber alles, was er empfand, war Panik, wenn er an die Zukunft dachte, weil er sich so unvorbereitet fühlte.
„Ich denke, das einzige, was man im Leben nicht planen muss, ist das Leben selbst." Jim fuhr mit dem Zeigefinger über sein Wasserglas, was einen kaum wahrnehmbaren, hellen Laut erzeugte. „Ich habe das mit uns zum Beispiel nie geplant. Es ist einfach passiert."
Sebastian lachte leise auf. „Ja, das ist es wohl. Ich hatte auch keine Ahnung, dass wir uns irgendwann küssen würden. Ich meine, anfangs war ich nicht sonderlich angetan von dir - oder ich dachte zumindest, du mochtest mich nicht und deshalb habe ich gar nicht erst versucht, etwas anderes dir gegenüber zu empfinden, weil es wirklich anstrengend ist, wenn so etwas einseitig ist." Jim nickte langsam und nachdenklich und Sebastian fuhr fort: „Aber als wir dann etwas länger miteinander geredet haben... da hat sich das ziemlich schnell geändert. Plötzlich konnte ich dir nicht einmal mehr böse sein, wenn du mich heruntergemacht hast."
„Das tut mir leid", erwiderte Jim. „Also, wie ich dich behandelt habe. Das war nicht fair. Ich war nur... naja, verunsichert. Weil du so nett warst, selbst, nachdem ich es nicht gewesen bin."
Aber Sebastian winkte bloß ab und lächelte Jim an - er hatte an diesem Abend bereits so oft gelächelt, dass er beinahe glaubte, am nächsten Tag Muskelkater davon bekommen zu werden. „Das hab ich dir schon längst verziehen, Jim. Ich meine, ich weiß jetzt, dass du jemand Besonderes bist. Ein außergewöhnlicher Mensch."
Jim wandte verlegen seinen Blick auf sein Essen, das erstaunlich schmackhaft war. „Das klingt eigentlich gar nicht nach einem Kompliment."
„Ist es aber." Sebastian trank einen Schluck seines eigenen Wassers. Für einen kurzen Moment herrschte Schweigen zwischen ihnen, allerdings war es keinesfalls unangenehm und Sebastian genoss es, wie Jim verlegen den Blick senkte, nur, um Sebastian wieder anzusehen.
„Ich habe eine Idee", verkündete Sebastian, stellte sein Glas wieder auf den Untersetzer. „Wir wissen beide nicht, was uns in der Zukunft erwartet und ich weiß, dass du gesagt hast, du willst nichts planen, aber ich mag es zu planen und wir könnten das gemeinsam tun." Jim nahm einen Bissen seines Essens, obwohl er eigentlich schon vor einer Viertelstunde aufgehört hatte, zu essen. „Stell es dir doch mal vor: ich glaube, du wirst studieren und ich suche mir irgendeine Arbeit. Oder vermutlich habe ich schon eine. Vermutlich etwas Langweiliges, doch das wäre nicht schlimm. Und wir ziehen in eine kleine Wohnung, aber später können wir uns etwas Größeres kaufen. Du könntest einen Plattenspieler in das Wohnzimmer stellen und wenn wir beide abends zusammen sind, schalten wir ihn an und tanzen zu Billy Joel oder Queen oder Tracy Chapman. Kannst du tanzen?"
Sebastian sah Jim fragend an, der schlicht den Kopf schüttelte.
„Nicht so schlimm. Ich hatte einen Tanzkurs an der Schule, ich kann es dir beibringen. Und nach dem Tanzen sehen wir uns einen Film an und wenn du für Prüfungen lernen musst, dann versorge ich dich mit Tee und Keksen und wenn du dann dein Studium abgeschlossen hast, ziehen wir entweder ins Zentrum von London oder in einen kleinen Vorort, wo wir unsere Ruhe haben. Und du wirst irgendeine grandiose Karriere haben und ich kann dir immer zur Seite stehen und wir wären nicht allein und wären glücklich und wir müssten uns keine Sorgen machen."
Sebastian redete und redete - weil diese Vorstellung einfach zu schön war und er schon immer viel zu leicht in seinen Tagträumen und Gedanken verloren gegangen war. So hatte er auch nicht bemerkt, dass Jim kein Wort zu seinen Plänen und Ideen gesagt hatte und dass das Schweigen kein interessiertes, sondern ein einfaches Schweigen gewesen war. Als er es nun doch bemerkte, verwirrte es ihn ein wenig, weil Jim bisher immer etwas zu sagen gehabt hatte.
Doch Jim wechselte nicht einmal das Thema; er starrte auf seine Hände und schien tief in Gedanken versunken. Sebastian war nicht einmal sicher, ob Jim ihm zugehört hatte.
„Alles in Ordnung? Du bist so still", bemerkte Sebastian.
Ein tiefer Atemzug seitens Jim. Dann sprang der plötzlich auf und sein Stuhl schabte laut über den Boden. „Entschuldige mich." Und dann war er in Richtung Toiletten gestürzt, ehe Sebastian auch nur eine Frage stellen konnte.
Sebastian blieb irritiert allein am Tisch sitzen. Das war... schiefgelaufen. Natürlich ist es schiefgelaufen, schalt Sebastian sich selbst, du warst viel zu voreilig und aufdringlich. Wie war das noch einmal mit dem 'nicht zu viel erwarten'?
Er beschloss, Jim nachzugehen. Unter anderem auch, weil er nicht allein mit seinen Selbstvorwürfen dasitzen wollte und weil er etwas falschgemacht hatte und er sich bei Jim entschuldigen musste.
Als er die Tür zu den Männertoiletten öffnete, stand Jim vor einem der vier Waschbecken und wusch sich die Hände - kurz dachte Sebastian, dass Jim tatsächlich einfach auf die Toilette gemusst hatte, aber dann bemerkte er Jims verbissenen Gesichtsausdruck und dass er seine Hände geradezu sauber schrubbte, als hätte er etwas Widerliches berührt, oder bräuchte einfach etwas, womit er Zeit vergeuden konnte.
Sebastian räusperte sich leise und sah kurz um sich, um sich zu versichern, dass sie die einzigen waren; die Kabinen schienen unbesetzt. Jims Blick war währenddessen auf ihn gefallen, obwohl er nebenbei weiterhin seine Hände unter das laufende Wasser hielt. „Tut mit leid, Jim", versuchte Sebastian es sofort. „Ich wollte dich nicht verärgern."
„Hast du nicht", murmelte Jim, schlug dann jedoch entgegen seiner Aussage ziemlich heftig auf den Wasserhahn, sodass der Wasserfluss zum Erliegen kam.
„Es wirkt aber irgendwie so. Und ich wollte das wirklich nicht, ich wollte nur-"
„Du hast mich nicht verärgert!", unterbrach Jim ihn laut und Sebastian fuhr leicht zusammen, als Jims Stimme von den Wänden widerhallte. „Du hast mich nicht verärgert, Sebastian! Ich finde nur, du solltest dich nicht so auf mich verlassen. Ich-" Jim griff mit seinen nassen Händen in seine Haare und fuhr durch sie hindurch. Er wirkte völlig aufgewühlt. Aber seine Worte waren heftig, als er sie Sebastian entgegenschleuderte: „Setz mich einfach nicht so unter Druck!"
Einen Moment konnte Sebastian Jims Gefühlsumschwung überhaupt nicht beurteilen oder irgendwas sagen. Schließlich presste er jedoch ein „Es tut mir leid" hervor, denn er wusste, dass er es übertrieben hatte und dass Jim allen Grund hatte, ein wenig auszurasten, weil Sebastian ihn in eine Rolle geschoben hatte, die Jim offensichtlich nicht spielen wollte - Sebastian wünschte, er hätte das früher bemerkt. Denn er wusste nicht, was er jetzt tun sollte.
Jim schien seine Entschuldigung kaum zu vernehmen; er war dazu übergegangen, unruhig im Bad auf und abzuschreiten. Sebastian bemerkte, dass Jim sogar ein wenig zu zittern schien - er wirkte nicht unbedingt wütend, aber aufgelöst und es tat Sebastian leid, weil er es verursacht hatte, aber er wusste auch nicht, was er jetzt dagegen tun sollte.
„Du verstehst das alles nicht", murmelte Jim so leise, dass es ohne den Widerhall des Badezimmers auch als Selbstgespräch durchgegangen wäre. Dann wiederholte er lauter: „Du verstehst das nicht! Du kannst mich nicht einfach so in deine Zukunftspläne einbauen! Ich meine, wir kennen uns kaum und ich bin mir noch nicht einmal sicher-" Er unterbrach sich und das Ziehen in Sebastians Magengrube gab Jim Recht: Es war einfach nur dumm gewesen. Wer plante denn schon eine gemeinsame Zukunft am ersten richtigen Date? Aber es war einfach so über ihn gekommen; er war gerade so glücklich und er konnte sich gut vorstellen, deshalb seine Zukunft so zu leben. Jim konnte das offenbar nicht.
„Es tut mir lei-", setzte Sebastian erneut an, wurde jedoch von Jim unterbrochen:
„Hör auf dich zu entschuldigen! Es ist- Ich brauche einfach Zeit, okay? Um nachzudenken."
„Worüber?", fragte Sebastian, in der Hoffnung, Jim würde ihm sagen, was er tun konnte, um seinen Fehler wieder gutzumachen.
„Über alles!" Jim blieb ruckartig stehen, seine Hände zitterten noch immer, sodass er sie zu Fäusten ballte. „Bitte lass mich einfach in Ruhe, Sebastian. Ich muss darüber nachdenken, ob das hier wirklich das ist, was ich will."
„Was?" Sebastian Stimme war heiser. „Ob du was willst?"
„Das zwischen uns." Jim schloss die Augen und massierte sein Nasenbein. „Ich weiß nicht, ob ich das kann. Ich weiß nicht, ob ich das will."
Und plötzlich war Sebastian so wütend wie schon lange nicht mehr. Denn es fühlte sich wie ein Verrat an, diese Wörter aus Jims Mund zu hören. Und er war endlich glücklich und Jim wollte das gleich wieder zerstören. Nur wegen eines kleinen Fehlers. Nur, weil Jim plötzlich nicht mehr wusste, ob er das wirklich wollte. „Du hast dieser Beziehung zugestimmt", knurrte Sebastian. „Es war deine Entscheidung. Wie kannst du jetzt nach einer Woche bereits einen Rückzieher machen?!"
Jim wandte sich von ihm ab und schüttelte leicht den Kopf, wie um Sebastians Worte abzuschütteln, was dessen Zorn nur noch mehr brodeln ließ. „Du meintest es von Anfang an nicht ernst mit mir, richtig?" Die Worte sollten schneidend klingen, doch Sebastian konnte ihre Bitterkeit schmecken und er kam sich so dumm vor, als Jim nicht einmal seinen Blick erwidern konnte. „Macht es dir Spaß, so mit mir zu spielen? Mit meinen Gefühlen? Mir nämlich nicht. Mir macht das überhaupt keinen Spaß."
„Ich weiß doch nicht einmal wirklich, was das zwischen uns ist!", erhob Jim erneut seine Stimme; diesmal zuckte Sebastian nicht zusammen, sondern starrte sein Gegenüber nur nieder, was diesen jedoch nicht beeindruckte. „Wie soll ich denn wissen, ob ich es ernst meine, wenn ich noch nicht einmal weiß, ob ich dich wirklich mag oder einfach einsam bin?!"
Einen Moment machte Sebastian dieses Geständnis sprachlos, bevor seine Wut, darüber, dass alles so schnell wieder den Bach heruntergegangen war, wieder übernahm und er laut verlangte: „Dann finde es heraus, verdammt nochmal!"
Jim atmete laut ein und wieder aus, dann drängte er sich an Sebastian vorbei und wählte wieder den einfachsten Weg aus dieser Situation: die Flucht.
Sebastian stand allein im Bad und diesmal fuhr er zusammen, als die Tür hinter Jim zuschlug.
Er konnte das alles einfach nicht glauben. Eben noch war alles gut und er war glücklich gewesen und jetzt lag schon wieder alles in Trümmern da und Sebastian fühlte sich verraten und wütend und verzweifelt, weil er sich doch gerade erst neu zusammengesetzt hatte und deshalb zerbrechlich war und weil er nicht erwartet hatte, dass seine harte Arbeit innerhalb kürzester Zeit wieder zunichte gemacht werden konnte.
Als er das Badezimmer verließ und zu ihrem Platz zurückkehrte, war Jim natürlich nicht mehr da. Sebastian bezahlte das Essen, vergaß das Trinkgeld, wollte aber auch nicht noch einmal zurückkehren, und verließ das Restaurant mit dem Gefühl, einfach nicht dafür geschaffen zu sein, länger als für einige Momente glücklich zu sein.
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Der Weg zurück nach Hause fühlte sich an, als hätte Sebastian in einer wichtigen Schlacht eine Niederlage eingebüßt.
Er konnte weder seiner Mutter noch seinem Bruder so gegenübertreten. All die Gefühle, die in ihm wüteten, waren gegensätzlich und zerrissen ihn - er wusste, dass es seine Schuld war, aber gleichzeitig sah er es nicht ein, dass es schon wieder nur er gewesen sein sollte. Sein Gewissen zerfraß ihn und seine Wut verbrannte sein Inneres. Die Verzweiflung tobte in seinen Gedanken und er war fest entschlossen, diesmal nicht daran kaputtzugehen.
Er schloss die Tür so leise, wie nur möglich auf und trat ebenso lautlos ein. Aus der Küche drangen die Stimmen seiner Mutter und Severins zu ihm - sie redeten über irgendwelche belanglosen Dinge, die Sebastian in den Ohren klingelten. Sie bemerkten ihn nicht, was gut war, denn reden war das letzte, was er jetzt wollte.
Sebastian streifte seine Schuhe ab und schlich dann an der Küche vorbei in sein Zimmer, das dunkel und irgendwie stickig war. Er riss ein Fenster auf. Ein leichter Nieselregen hatte eingesetzt und kühlte die Luft so weit herunter, dass Sebastian, nun ohne Jacke und nur in seinem dünnen Hemd, fröstelte.
Also verkroch er sich in sein Bett, wickelte die Decke um sich und starrte hinaus in die Dämmerung. Sein Handy hatte er neben sich gelegt und obwohl er sich dafür verfluchte, stellte er es laut und sehnte sich nach dem vertrauten Nachrichtenton. Er konnte nicht anders, als zu hoffen, dass Jim doch noch versuchte, ihn zu erreichen. Er selbst konnte es nicht. Er fürchtete sich, den ersten Schritt zu tun. Doch er bezweifelte zugleich, dass Jim es tun würde.
Wut und Schuld und tiefe Verzweiflung. Sebastians Gedanken drehten sich im Kreis. Er fragte sich, wieso er immer wieder die gleichen Fehler machte; wieso er Menschen zu schnell an sich heranließ und dann erwartete, dass sie ihn ebenso sehr brauchten wie er sie.
Er lag lang wach. Sein Verstand verschlang ihn bei lebendigem Leibe und spuckte ihn dann wieder aus. Der Mond warf geisterhafte Schatten in sein Zimmer, und alles fühlte sich so erdrückend an.
Er hätte nicht darauf vertrauen dürfen, dass Jim es wirklich ernst meinte. Er hätte sich von netten Worten und nächtlichen Ausflügen nicht überreden lassen sollen. Er hätte der sein sollen, der so hätte tun müssen, als wäre der Kuss nie geschehen, weil er eigentlich hätte wissen müssen, dass er noch nicht bereit für eine neue Beziehung und für neue Probleme war. Aber es hatte sich gut angefühlt. Und Sebastian hatte seit langem wieder ein gutes Gefühl bei etwas gehabt. Nur leider schienen seine Gefühle Experten darin zu sein, ihn zu täuschen. Er wünschte sich, er würde einmal nicht zu viel erwarten, würde sich einmal nicht zu sehr um alles um ihn herum kümmern. Wäre einmal nicht zu voreilig und am Ende enttäuscht und erschöpft und zerbrochen.
Auf einmal durchdrang eine helle Melodie seine dunklen Gedanken und das Display seines Handys leuchtete auf, um eine neue Nachricht anzuzeigen.
Sebastian ließ es beinahe fallen, so aufgeregt griff er danach.
Aber es war keine Nachricht von Jim. Sie war von Harper. Nachdem er sich beinahe zwei Wochen nicht mehr gemeldet hatte, schrieb er ihm gerade jetzt.
Sebastian seufzte und ließ das Handy wieder sinken; auf seiner Zunge lag noch immer ein bitterer Geschmack. Natürlich würde Jim sich nicht melden. Er war ein Idiot, wenn er das dachte. Sebastian hatte es kaputt gemacht, bevor alles richtig angefangen hatte.
Ein kurzer Blick auf sein Handy genügte und die Resignation trieb ihn dazu, Harpers Nachricht doch zu lesen:
Hey, Sebby. Ich weiß, dass du nichts mehr mit mir zu tun haben willst. Ich habe Fehler gemacht und deshalb verstehe ich, dass du willst, dass ich dich in Ruhe lasse. Aber ich will es wenigstens ein einziges Mal noch versuchen, dich nach einem Treffen zu fragen.
Also?
Also... Sebastian starrte dumpf auf die Worte, die vor seinen vor Müdigkeit brennenden Augen zu tanzen schienen. Alles war irgendwie dumpf.
Er verließ den Chat von ihm und Harper - der eigentlich nur aus Nachrichten von Letzterem bestand - und öffnete stattdessen den mit Jim. Nicht, dass es da etwas Neues gab; es gab keine neue Nachricht und Sebastian wusste, dass auch keine neue kommen würde.
Er schluckte, schaltete sein Handy aus, der Wind fuhr durch das offene Fenster unter seine Decke, also stand er auf und schloss es.
Anschließend setzte er sich wieder auf sein Bett und starrte an die Decke. Es machte alles so wenig Sinn. Dass Jim ihn plötzlich zu hassen schien und Harper das offenbar spüren konnte. Dass es Sebastian so schlecht ging, obwohl er nicht einmal eine Woche mit Jim zusammen gewesen war. Dass die Nacht mit jedem Blinzeln weiter voranschritt und er nicht schlafen konnte und sich so allein fühlte, als wäre er der einzige Mensch im Universum.
Sebastian griff nach seinem Handy. Und dann beging er den zweiten verhängnisvollen Fehler innerhalb weniger Stunden: Er antwortete Harper und verabredete sich für den nächsten Tag mit ihm.
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Lied: Feelin' Low (F*ckboy Blues) ~ Peach Pit
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Hey, Leute.
Irgendwie ist dieses Kapitel zum Ende hin immer deprimierender geworden. Ich hoffe, es hat euch trotzdem gefallen.
Könnt ihr Jims Ausbruch verstehen? Oder Sebastians Reaktion darauf und wieso er Harper nun doch wieder schreibt?
Hoffentlich lesen wir uns bald wieder!
Eure
TatzeTintenklecks.
PS: Drückt mir die Daumen für meine Geschichtsklausur morgen... :(
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