11. alharaca
alharaca: eine außergewöhnliche oder heftige emotionale Reaktion auf ein kleines Problem
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Samstag, April
„Jim hat keine Ahnung, was er verpasst", behauptete Dorian, der verzückt beobachtete, wie die Löwen gefüttert wurden.
Sebastian wusste nicht, ob es eine gute Idee gewesen war, mit Dorian und Andrew in den Zoo zu gehen. Die beiden schienen nicht genug davon zu bekommen, die Tiere zu beobachten (und mit verstellen Stimmen lustige Gespräche der Tiere zu übersetzen), aber Sebastian war mittlerweile schon ziemlich erschöpft - da half es auch nicht, dass er in der Nacht kaum geschlafen hatte. Diesmal nicht, weil er Sprayen gewesen war, sondern weil er tatsächlich mal für eine Prüfung gelernt hatte. Eine Matheprüfung, genauer gesagt, die er, trotz Lernens, vermutlich vermasseln würde - was er leider bereits während des Lernens bemerkt hatte.
Eigentlich hatte er nur einige Stunden gelernt, den Rest der Nacht hatte er sich selbst verflucht und Musik gehört bis seine Mutter ihn um fünf Uhr morgens ins Bett geschickt hatte, weil sie gehört hatte, wie Sebastian in seinem Zimmer auf- und abgetigert war.
„Wenn wir uns beeilen, schaffen wir es noch zur Erdmännchen-Fütterung", bemerkte Andrew mit einem Blick auf seine Armbanduhr (er hatte Sebastian auf dem Weg zum Londoner Zoo stolz davon berichtet, dass er die Uhr immer besser lesen konnte).
Sebastian musste ein Stöhnen unterdrücken. Es war eine miese Idee gewesen, in den Zoo zu fahren. Natürlich, die beiden Brüder hatten ihren Spaß, aber Sebastians Füße schmerzten und er wünschte sich, er wäre ebenso wie Jim im Haus geblieben.
Obwohl das schlecht funktioniert hätte, immerhin hatte er selbst den Zoobesuch vorgeschlagen und hätte sich nicht mehr herausreden können, selbst, wenn er es versucht hätte. Jim hatte es sich hingegen leicht gemacht.
„Ich bin von Tieren umgeben", hatte er gesagt, auf dem Bauch auf der Couch liegend mit einem Kissen unter seinem Kinn. „Ich muss nicht zusätzlich in den Zoo gehen."
Dorian hatte verwirrt entgegnet: „Aber wir haben ja nicht einmal eine Katze."
Woraufhin Jim nur die Augen verdreht hatte. „Ich meinte euch. Ihr habt große Ähnlichkeiten mit Schafen."
Danach hatte Dorian beleidigt geschwiegen und Sebastian hatte gar nicht erst versucht, Jim zu irgendwas zu überreden. Zumal der Junge nicht wirklich gesund gewirkt hatte. Jim war blass und irgendwie matt gewesen und Kommentare, die spöttisch sein sollten, waren trocken und nicht einmal ernstnehmbar gewesen. Selbst als Sebastian gekommen war, hatte er kaum mehr als „Du bist ja schon wieder hier" über die Lippen gebracht, was vermutlich nicht so genervt geklungen hatte, wie er es beabsichtigt hatte. Und Jim hatte bis zu ihrem Aufbruch nur auf der Couch gelegen, sich kaum geregt; eine blasse, schmale Figur auf dem weißen Sofa.
Jim ging es nicht gut. Sebastian wusste allerdings nicht, wie er ihn darauf ansprechen sollte, ohne gleich enthauptet zu werden. Vermutlich sollte er froh sein, dass Jim an diesem Tag überhaupt mit ihm gesprochen hatte.
Als Sebastian um sich blickte, waren Andrew und Dorian bereits zwanzig Meter weiter - Sebastian hatte nicht einmal mitbekommen, wie sie sich von ihm entfernt hatten. Was wohl nicht wirklich für seine Qualifikation als Babysitter sprach.
Sebastian beeilte sich also, den beiden zu folgen, in der Hoffnung, dass auch sie bald erschöpft sein würden.
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Sobald Sebastian die Haustür aufstieß, tönte laute Musik an seine Ohren. Irritiert hielt er inne, den Hausschlüssel, den Eliza ihm dagelassen hatte, in der Hand, noch immer im Schoss.
„Jim hat eine Schallplatte aufgelegt", bemerkte Andrew hinter ihm, was Sebastians Verwirrung verrauchen ließ, und lauschte neugierig. Auch Sebastian konzentrierte sich auf die Klänge, auf die Melodie und versuchte herauszufinden, was für ein Lied er da gerade hörte. Er kannte es nicht; es schien ein klassisches Stück zu sein, womit Sebastian sich nicht wirklich auseinandersetzte.
„Das ist eins seiner Lieblingsstücke", erklärte Andrew weiter, während er sich die Schuhe auszog, nachdem Sebastian sich endlich in den Flur und von der Türschwelle hinunter bequemt hatte. „Ich persönlich mag es nicht so. Aber er sagt, es muntert ihn auf."
Die Klänge waren fröhlich und heiter und das Stück schien vor allem aus Blasinstrumenten zu bestehen. Normalerweise mochte Sebastian laute, wütende Musik oder leise, eindringliche, und diese hier war überhaupt nicht wie das eine oder das andere, aber er konnte verstehen, wieso diese Art von Musik jemanden aufmuntern konnte. Irgendwie lud sie zum Tanzen auf.
Nicht, dass Sebastian hier tanzen würde. Oder tanzen konnte.
„Ich will Mario Kart spielen!", rief Dorian plötzlich, gerade, da das Stück zu einem Schluss zu kommen schien. „Darf ich?"
Sebastian nickte abwesend, während er lauschte, wie die letzten Töne verklangen. „Aber nicht zu lang."
Dorian war bereits an ihm vorbei ins Wohnzimmer gerannt. Sebastian folgte ihm und sah gerade noch, wie Jim aus dem Zimmer und die Treppen hoch verschwand. Er musste bis eben noch wieder auf der Couch gelegen haben und hatte sie somit offenbar kommen hören.
Kurz überlegte Sebastian, ob er Jim folgen sollte, obwohl das gar keinen Grund hatte. Aber schließlich entschied er, dass es wohl einen Grund hatte, wieso Jim sich verzog, und außerdem hatte Jim heute noch nicht so gewirkt, als wollte er wirklich reden.
Ohne die Musik war es plötzlich unheimlich still geworden im Haus der Moriartys, weshalb Sebastian erleichtert war, als Dorian das Videospiel anschaltete und die fröhlichen Soundeffekte diese Stille vertrieben.
Sebastian ließ sich erschöpft auf die Couch sinken und beobachtete aus halbgeschlossenen Lidern wie Andrew und Dorian ein ums andere Mal über bunte Strecken fuhren und mit Schildkrötenpanzern und Bananenschalen um sich warfen.
Die Erschöpfung rollte über ihn hinweg wie in Wellen. Es war schwer wach zu bleiben.
„Sebastian?"
„Hm?" Wann hatte er seine Augen ganz geschlossen?
„Ich hab Hunger."
Sebastian zwang seine Lider auseinander und sah auf seinem Handy nach der Uhrzeit. Es war beinahe um fünf. Normalerweise sollte er an Samstagen nur bis fünf Uhr bleiben, aber heute, wie eigentlich jedes Mal, würde er doch länger bleiben, weshalb Sebastian es nicht einsah, jetzt bereits Abendessen zu machen, wenn Dorian und Andrew nach einer Stunde nur erneut Hunger hätten.
„Wartet noch eine Stunde."
„Bis dahin verhungere ich", jammerte Dorian.
Sebastian verdrehte die Augen, woraufhin sie sich ganz von allein wieder schlossen. „Ich kann euch nicht immer Essen geben, wenn ihr Hunger habt", murmelte er schläfrig.
„Aber so funktioniert das doch!", protestierte Dorian und irgendwas Spitzes bohrte sich in Sebastians Bauch, ließ ihn zusammenzucken und die Augen öffnen. Dorian hatte die Tatwaffe - seinen Zeigefinger - noch immer erhoben.
Sebastian schnaufte genervt und legte sich zum Schutz ein Kissen auf den Bauch. „So funktioniert es aber nicht bei euch. Ihr habt immer Hunger."
„Wir sind im Wachstum", mischte Andrew sich ein, der Dorians Unaufmerksamkeit genutzt hatte, um das Spiel zu entpausieren und seinen Bruder, der Prinzessin Peach spielte, als Mario zu überholen.
„Ich weiß nicht, wo ihr hinwachsen wollt, aber jetzt gibt es noch kein Essen."
Andrew und Dorian waren oft irgendwie niedlich und es war schön, wie gern sie Sebastian hatten, aber er war müde und genervt und er würde nicht immer nach der Pfeife zweier kleiner Jungen tanzen und vielleicht hörte man das diesmal seinem Ton an.
Die Brüder ließen ihn in Ruhe.
Sebastian lehnte sich noch ein Stück zurück - und war eingeschlafen, ehe er auch nur versuchen konnte, sich daran zu hindern.
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Sebastian schreckte aus dem Schlaf hoch, als hätte ihn jemand aus seinem Bett geworfen. Nur, dass er nicht in seinem Bett lag, sondern auf einer Couch, und dass er einen seltsamen Traum gehabt hatte.
Stimmengewirr und ein scharfer Geruch wurden zu ihm getragen, durchbrachen den Nebel, der sich über seine Wahrnehmung gelegt hatte. Sebastian setzte sich auf, blinzelte sich den Schlaf aus den Augen und rieb sich anschließend die Schläfen, weil er die pochenden Kopfschmerzen bemerkte, die soeben eingesetzt hatten. Das hatte er wohl davon, dass er kaum schlief.
Gott, er hoffte nur, er hatte nicht im Schlaf geredet.
Er schaffte es irgendwie, sich zwischen den Kissen auf der Couch hervorzukämpfen und sich schwankend zu erheben. Dann folgte er neugierig dem Duft, hoffte, dass Eliza und Joseph noch nicht zurückgekehrt waren, weil er nicht glaubte, dass es seinen Arbeitgebern gefallen würde, würde er einfach während seiner Pflichten einschlafen.
Doch seine Sorgen waren unbegründet. Es war Jim, der Andrew und Dorian gerade irgendwas zu braten schien und sie immer wieder genervt von sich schob, wenn sie einen Blick in die Pfanne werfen wollten, um zu sehen, wie lang es noch dauerte.
„Gott, ihr seid anstrengender als sieben Babys zusammen." Und wieder drückte er Dorian mit dem Ellenbogen zur Seite.
Sebastian beobachtete diese Szenerie kurz amüsiert, ehe er sich räusperte.
Jim blickte auf und verdrehte die Augen, wirkte allerdings auch irgendwie erleichtert. „Sieh an, Dornröschen ist erwacht. Wie gut, dass dich niemand wachküssen musste."
Sebastian war versucht, Jim die Zunge rauszustrecken, besann sich dann jedoch, weil er der Älteste war und sich zumindest vor Andrew und Dorian auch so benehmen sollte. „Du kochst", stellte er also anstelle einer Antwort fest.
„Du bist ja ein ganz Schneller." Offenbar ging es Jim und seinem Zynismus besser. Schön für ihn. „Als du einfach weggenickt bist, haben die beiden angefangen, mich zu nerven, also hatte ich entweder die Wahl, sie mit Brotkrumen hinaus in die große, weite Welt zu schicken und zu hoffen, dass sie nie wieder zurückkehren, oder aber ihnen etwas zu Essen zu machen. Und da meine Eltern mich noch mehr gehasst hätten, hätte ich ersteres getan, bin ich jetzt hier. Und das ist deine Schuld."
Sebastian hob die Schultern. „Es riecht gut." Auch er versuchte, einen Blick in die Pfanne zu erhaschen, woraufhin Jim genervt den Kopf schüttelte und mit dem Kochlöffel nach Dorian, Andrew und Sebastian schlug.
Beinahe traf er Sebastian im Gesicht, weshalb der beleidigt zurücktrat. „Ich wusste nicht, dass du kochen kannst."
„Du weißt eigentlich gar nichts über mich", erinnerte Jim ihn. „Und außerdem muss ich ja auch überleben, wenn ich hier stundenlang allein festgehalten werde."
Sebastian schnaubte. „Naja, wirklich hier bleiben tust du ja nicht."
Jim hob die Schultern.
Sebastian beobachtete ihn noch einen Moment länger. Er war weiterhin blass und seine Bewegungen wirkten irgendwie ruckartig, vielleicht ein wenig unkoordiniert. Seine Mimik war hochkonzentriert, als würde es ihn alles an Anstrengung kosten, gleichzeitig zu stehen, zu kochen und zu atmen.
„Wieso starrst du mich so an?", fuhr Jim ihn an und Sebastian blickte blinzelnd weg. Erst jetzt bemerkte er, dass es Dorian und Andrew offenbar zu langweilig geworden war und sie aus der Küche gegangen waren. Ein kurzer Blick ins Wohnzimmer zeigte Sebastian, dass sie den Fernseher eingeschaltet hatten und nun zusammen auf der Couch saßen.
„Ich starre nicht...", verteidigte Sebastian sich, obwohl er definitiv gestarrt hatte. „Du siehst nur nicht wirklich gut aus."
Jim schnaubte. „Na danke auch."
Sebastian brauchte einen Moment, um zu verstehen, dass Jim seine Worte falsch verstanden hatte. Seine Augen weiteten sich erschrocken. „Was? Nein! So war das gar nicht gemeint. Ich meine, du siehst nicht gut aus, aber du siehst gut aus, also du bist hübsch, äh, ich meine- verdammt."
Jim lauschte Sebastians Gebrabbel mit hochgezogenen Augenbrauen und einem amüsierten Gesichtsausdruck. Was verständlich war, denn Sebastian machte sich gerade ziemlich lächerlich. „Hör schon auf zu reden, du Trottel. Natürlich weiß ich, dass du das nicht so gemeint hast."
Sebastian klappte den Mund zu.
Jim grinste und wandte sich wieder dem Essen zu, das er kurze Zeit später von der Herdplatte nahm. „Du findest also, dass ich gut aussehe, ja?"
Sebastians Gesicht brannte - er hoffte nur, sein Rotwerden war nicht ganz so eindeutig; nach Jims noch breiteren Grinsen war es das wohl. „Du hast..." Sebastian fuchtelte mit seiner Handfläche in der Luft vor seinem Gesicht herum, wie, um es anzupreisen.
„Ein Gesicht?", fragte Jim.
„Ja, das auch." Wenn möglich, wurden Sebastians Wangen noch heißer. „Ich meine, du weißt schon... Du bist ganz hübsch. Nicht, dass es nur um Äußerlichkeiten geht oder so, aber, naja, du weißt schon... Du siehst gut aus."
Jim hatte die Augenbrauen noch immer gehoben und Sebastian erwartete einen weiteren spöttischen Kommentar, der Sebastians Kopf vermutlich vor Hitze explodieren lassen würde. Doch Jim sagte nur: „Danke."
„Trotzdem wirkst du erschöpft. Eigentlich immer. Und ich meine nicht die normale Erschöpfung. Sondern die, die dich so müde macht, dass sie dich wachhält."
„Ich bin nicht der, der auf einer fast fremden Couch eingeschlafen ist", merkte Jim an.
„Stimmt. Aber ich habe auch eine Nacht kaum geschlafen. Für mich war es leichter, einzuschlafen und schwer wachzubleiben. Ich vermute, dass du schon länger nicht genug geschlafen hast, deshalb fällt es dir schwer einzuschlafen und wachzubleiben."
Sebastian versuchte, Jims Reaktion einzuschätzen, aber der sah ihn überhaupt nicht an, sondern begann, das Essen auf vier Tellern zu verteilen.
Offenbar hatte er irgendeine Art Reispfanne mit Gemüse und Fleisch gekocht - etwas, das Sebastians Fähigkeiten überstieg, weil er es bereits dreimal geschafft hatte, Reis anbrennen zu lassen.
Auf eine Antwort seitens Jim wartete er jedoch vergebens; statt eine solche zu geben, rief Jim seine Brüder zum Essen.
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Während des Essens war Jim seltsam angespannt. Er sah kaum von seinem Teller auf, obwohl er nur sehr langsam und wenig aß und er hatte seinen Löffel so fest umgriffen, dass er aufgrund der Anstrengung leicht zitterte.
Da Sebastian wusste, dass das vermutlich zum Teil seine Schuld war, räusperte er sich und versuchte Jim auf andere Gedanken zu bringen: „Als wir ankamen, hattest du Musik an. Ich wusste gar nicht, dass ihr einen Plattenspieler habt."
Eigentlich hätte Sebastian erwartet, dass Jim ihn erneut darauf hinwies, dass Sebastian ihn kaum kannte. Stattdessen hob Jim jedoch seinen Blick, sah in die ungefähre Richtung, wo Sebastian saß und erklärte: „Es ist mein Plattenspieler. Steht in meinem Zimmer."
„Er hat so ungefähr dreihundert Platten", warf Dorian schmatzend ein.
Sebastian hob beeindruckt die Augen. Er hatte keine Ahnung, wo Jim die Platten und den Spieler versteckte, denn er hatte noch keine Spur von beidem gesehen, was nicht unbedingt etwas heißen musste, denn er war erst einmal in Jims Zimmer gewesen und da gerade lang genug, um zu bemerken, dass er verschwunden war.
„Eigentlich sind es mehr." Jim stocherte in seinem Essen herum. „Ich habe nur nicht alle in meinem Zimmer. Viele sind auf unserem Dachboden oder bei meinen Großeltern."
„Sammelst du Schallplatten?"
Jim verdrehte ob Sebastians Frage die Augen. „Nein", sagte er ironisch. „Ich habe aus Langeweile fünfhundert Platten in meinem Zimmer zu stehen."
Sebastian stopfte sich einen weiteren Löffel Reis in den Mund, weil er nicht wusste, wie er darauf antworten sollte. Jim beobachtete ihn dabei genauestens, was dazu führte, dass Sebastians Blick auf seinem Teller klebte wie die Reiskörner aneinander.
„Wieso bist du eigentlich hier?"
Sebastian zuckte zusammen und verschluckte sich beinahe, als Jim seinen eigenen Löffel mit Wucht auf den Teller warf, sodass es laut klirrte. Er würgte die letzten Reiskörner herunter und brachte dann ein krächzendes „Was?" zustande. Er sah zu Jim auf, der ihn plötzlich wütend anschaute; auch, wenn Sebastian nicht wusste, was er getan hatte. Irgendwie hatte er erneut den Faden verloren. Worauf wollte Jim jetzt schon wieder hinaus?
„Wieso bist du hier? Was bewegt dich dazu, hierherzukommen? Wieso bist du freiwillig hier? An einem Samstag? An den anderen Tagen?"
Sebastian blinzelte irritiert. Ähnliches hatte Jim ihn schon einmal gefragt: Ob er keine Freunde hatte oder wieso er am Wochenende nicht ausging, sondern hier war. Doch diesmal klang Jim nicht neugierig, sondern schon beinahe aggressiv und es schüchterte Sebastian ein, obwohl er sich Mühe gab, es nicht zu zeigen.
Er brachte dennoch kein Wort hervor.
„Sebastian mag uns", mischte Dorian sich ein; er und sein Bruder hatten bisher ihr eigenes Gespräch geführt, das durch das Klirren von Jims Geschirr jedoch unterbrochen worden war. „Und wir mögen ihn. Deshalb kommt er auch immer wieder."
Jim schnaubte. „Falsch." Er richtete seinen Blick direkt auf Sebastian und der sank ein wenig in sich zusammen. „Du stolzierst hier umher und redest, als hättest du ganz noble Absichten, aber in Wahrheit bist du doch nur wegen des Geldes hier. Du bist ein Heuchler und man bezahlt dich dafür und ich weiß nicht, wie du es ertragen kannst, hier zu sitzen und so zu tun, als wärst du nicht lieber woanders. Denn ich weiß ganz sicher, dass es Besseres gibt, als in diesem Haus zu hocken und du weißt das sicher auch und trotzdem sitzt du hier an diesem Tisch, also bist du entweder gierig oder gelangweilt, denn du wirst bezahlt und das von Menschen, die keine Zeit für ihre Familie haben, aber das scheint dich nicht zu kümmern. Solange du deine Belohnung dafür bekommst, dass du das alles erträgst. Also, Sebastian, sag mir: Fühlst du dich manchmal schlecht?"
Sebastian fühlte sich mehr als die Hälfte seines Lebens schlecht. Weil er alles, was er anfasste, kaputtmachte, weil er nie Glück hatte und schlechte Menschen anzuziehen schien und weil er vermutlich auch ein schlechter Mensch war. Weil er so viele Fehler machte und es seine Schuld war, wenn andere unter diesen litten. Weil er selbst im Schlaf keinen Frieden fand, weil er geplagt wurde von Schuldgefühlen für Dinge, die er noch nicht einmal getan hatte. Weil er oft log. Weil er nicht immer zuhörte, wenn andere etwas sagten, weil er zu sehr auf sich selbst konzentriert war. Weil er Dinge offenbar sogar falsch machte, wenn er sie richtig machen wollte. Weil es ihm leidtat, dass Jim so über ihn und seine Absichten dachte. Weil Jim vielleicht Recht hatte.
„Würde es mir nur ums Geld gehen, könnte ich mir auch einen anderen Job suchen", sagte Sebastian schließlich tonlos, doch möglichst überzeugt; obwohl er mit Sicherheit keinen Job finden würde und diesen hatte er ebenfalls nicht selbst entdeckt, sondern war von seiner Mutter 'weiterempfohlen' worden. „Aber es gefällt mir hier. Und eigentlich kannst du meine Beweggründe nicht kennen, aber vielleicht beruhigt es dich, dass mittlerweile nicht nur die Bezahlung mich hier hält."
Sebastian war nervös aufgrund von Jims Wut und er stolperte beinahe über seine eigenen Worte, aber nur beinahe. Er war froh, dass er überhaupt ein paar vollständige Sätze zustandebrachte, die halbwegs Sinn ergaben und erst hinterher ging ihm auf, dass es wirklich stimmte.
Natürlich, das Geld war ein wichtiger Faktor gewesen, wieso er diesen Job angenommen hatte, aber mittlerweile waren ihm Andrew und Dorian ziemlich ans Herz gewachsen. Und auch an Jim könnte er sich gewöhnen, würde der ihn nicht mal verachten und mal ignorieren und mal anlächeln und dann wieder verachten. Sebastian brauchte Halt, um sich sicher zu fühlen, aber durch Jims ständige Meinungsänderungen über ihn, fing das Gerüst, welches er sich nach der Trennung von Harper und nach dem Umzug nach England und nach den Erniedrigungen und Quälereien seines Bruders und der Ignoranz seines Vaters gebaut hatte, zu schwanken an und Sebastian fühlte sich fast schon seekrank. Und das alles nur, weil ein einziger Mensch ihn kritisierte, aber vielleicht auch, weil dieser Mensch Jim war und Jim ihn mal verachtete und mal ignorierte und mal anlächelte und dann wieder verachtete. Weil Sebastian nicht ganz hinterherkam, ob Jim ihn jetzt hasste oder nicht. Weil er Jims Gedanken nicht nachvollziehen konnte und somit auch nicht, was er falschgetan hatte, dass Jim ihn so auseinandernahm.
Sebastian glaubte, dass Jim ihn noch weiter kritisierte, aber er hörte nicht wirklich hin. Er schwieg und ließ es über sich ergehen und er strengte sich sehr an, nicht zusammezuzucken, wenn Jim seine Stimme ein wenig zu sehr erhob.
Irgendwann schien Jim sein Magazin leer gefeuert zu haben und er stand auf und verließ die Küche. Sebastian blickte ihm nach, noch immer nicht ganz in der Lage, zu erfassen, was gerade geschehen war und was Sebastian zuvor vermasselt hatte.
Andrews Stimme rettete ihn schließlich aus seiner Gedankenflut: „Es tut mir leid, Sebastian. Ich glaube nicht, dass Jim es so gemeint hat."
Sebastian blickte auf seinen zur Hälfte geleerten Teller. „Ist schon gut. Ich glaube, Jim musste sich einfach abreagieren. Es ist sicher nicht einfach, immer hier allein zu sein. Wenn ihr nicht da seid. Und er kann niemanden treffen... Da wäre ich auch wütend."
„Trotzdem darf er dich nicht so behandeln", bemerkte Andrew. „Mum sagt immer, jeder Mensch hat seinen freien Willen und eine eigene Meinung, aber man sollte mit seiner Meinung keine anderen Menschen schädigen und verdient den freien Willen nur, wenn man anderen ihre Freiheiten lässt und sie nicht mit eigenen Wertvorstellen eingrenzt."
Das klang ziemlich auswendig gelernt, als hätte er das schon oft gehört und irgendwie berührte Sebastian es, dass so etwas aus dem Mund eines Zehnjährigen tönte. Er wusste nicht einmal, ob er genau verstand, was es bedeutete, oder, ob Andrew es verstand, aber so wie er es sagte, klang es aufmunternd und deshalb schätzte Sebastian es.
Er lächelte Andrew schwach zu.
„Und außerdem ist Jim immer so...so-" Dorian suchte nach dem richtigen Wort.
„Launisch?", schlug Sebastian vor, woraufhin der jüngste Moriarty zögerlich nickte, als wüsste er nicht wirklich, was das Wort bedeutete, fand es aber klanglich passend.
„Ja, er ist immer launisch. Besonders kurz vor Mai." Dorian kratzte die letzten Essensreste von seinem Teller und schob sich den Löffel dann in den Mund.
„Wieso vor Mai?", hakte Sebastian nach, der mittlerweile keinen Hunger mehr hatte und deshalb seinen Teller von sich schob.
Andrew und Dorian zuckten gleichzeitig mit den Schultern. „Ist halt so", fügte Andrew noch an.
„Er hat auch neue Medizin", merkte Dorian an.
Andrew nickte. „Ich glaube, er ist unzufrieden. Er hat Mum gesagt, dass er sie nicht mag und dass sie nicht hilft, aber Mum glaubt ihm nicht, weil er das immer sagt. Deshalb ist er vermutlich auch wütend."
Sebastian biss sich nachdenklich auf die Lippe. Vermutlich sollte er nochmal mit Jim reden. Sich dafür entschuldigen, für was auch immer er falsch gemacht hatte. Aber er glaubte nicht, dass er Jim erneut gegenübertreten wollte oder konnte und nachdem, was seine Brüder ihm erzählt hatten, machte Jim gerade auch schwere Zeiten durch und Sebastian wollte nicht als weiteres Problem in der Angelegenheit mitmischen.
Dennoch war er es Jim schuldig, ihm zu zeigen, dass es ihn wirklich kümmerte. Dass er es nicht vortäuschte.
Ihm fiel ihr Gespräch kurz vor seinem Verschwinden ein. Und er hatte eine Idee. Auch, wenn diese gehörig nach hinten losgehen könnte.
Aber vielleicht wäre das die Chance, sich endlich gut mit Jim zu stellen.
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Glücklicherweise öffnete sich die Tür nicht, als Sebastian den beschriebenen Zettel unter dem Türschlitz hindurchschob.
Sebastian hätte nicht gewusst, wie er Jim erneut hätte gegenüber treten sollen - deshalb ja auch der Zettel.
Vielleicht war es eine schlechte Idee, Jim nach dessen... Wutausbruch noch einmal daran zu erinnern, dass er zugestimmt hatte, etwas allein mit Sebastian zu machen. Vermutlich wollte Sebastian Jim nur etwas beweisen. Vermutlich wollte er sich selbst etwas beweisen.
Jim würde seiner Einladung sicherlich nicht einmal folgen. Immerhin war er bereits in dem stillgelegten Abwasserkanal gewesen und hatte Sebastians Graffiti gesehen. Somit war seine Neugierde gestillt und einen anderen Grund gäbe es für Jim sicherlich nicht, dorthin zu gehen.
Aber wenn Jim diese Nacht wirklich nicht dorthin kommen würde, wusste Sebastian, dass er es wenigstens versucht hatte.
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Wörter: 3780
Lied: Disloyal Order of Water Buffalloes ~ Fall Out Boy
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Hey, Leute!
Da ich am Montag nicht dazu kam, ein Kapitel zu veröffentlichen, werden heute zwei kommen. Allerdings kann ich das zweite erst in ungefähr einer Stunde posten, da ich leider noch Bio lernen muss.
Ich hoffe, euch hat dieses erste Kapitel gefallen :)
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