1. monachopsis

monachopsis: Das allgegenwärtige Gefühl, nicht dazu zu gehören, am falschen Ort zu sein, nicht dazu zu passen.

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Samstag, März

Sebastian wusste nicht, was er erwarten sollte, doch er atmete tief durch und klopfte dann an die dunkel lackierte Haustür.

Die Reaktion erfolgte nicht sogleich. Im Gegenteil, Sebastian stand eine beachtlich lange Zeit auf der kleinen Veranda mit dem weißgestrichenen Geländer und fragte sich, ob überhaupt jemand da war oder ob die Besitzer des Hauses einen Blick durch den Briefschlitz riskiert hatten und beschlossen hatten, dass sie den Typen vor ihrer Tür nicht in ihrem Haus wollten. Dabei hatte Sebastian nicht einmal mehr violette Haare wie noch bis vor wenigen Monaten (eine Fehlentscheidung, die er so schnell nicht mehr treffen würde).

Doch in diesem Viertel kam er sich mehr als nur fehl am Platz vor. Es lag knapp außerhalb von London, allerdings nicht so weit entfernt, dass die Hauptstadt nicht noch immer gut in dreißig Minuten erreichbar wäre. Schöne Häuser reihten sich aneinander, die meisten aus rotem Backstein, alle mit einer steinernen Auffahrt und nur an den Fußmatten und dem einzelnen Busch im winzigen Vorgarten unterscheidbar.

Auch das Haus, vor dem Sebastian stand, war aus rotem Backstein, allerdings kam es Sebastian weniger aufdringlich und eher wie ein Zuhause vor als die anderen Häuser. Vielleicht lag das an der lächelnden Vogelscheuche, die am Türklopfer hing, obwohl der Herbst bereits weit hinter ihnen lag und sich stattdessen überall langsam der Frühling ins Bild schlich. Bisher war es noch kaum wahrnehmbar. Die Luft ließ sich ein wenig leichter atmen, der Himmel schien weniger gläsern und zwischendurch hörte man den leisen Gesangsversuch eines Vogels, der noch ein wenig unsicher für das erste Konzert probte. Frühblüher ließen sich hie und da sichten, wenn auch nicht in der Stadt, sondern nur an ihrem Rande, als scheuten sie sich vor dem Lärm und dem Dreck ebendieser.

Auch auf der grünlich-grauen Wiese des Vorgartens, auf dessen Veranda Sebastian stand, sammelten sich erste Blumen. Krokusse und Schneeglöckchen reckten schüchtern die Köpfe in Richtung Märzsonne.

Sebastian starrte sie an, als könnten sie ihm erklären, wieso er bereits so lang im doch recht kühlen Wind stand und wieso sich nichts im Haus zu regen schien, obwohl er bereits ein zweites Mal geklingelt hatte. Unsicher biss er sich auf die Lippen. Dann holte er den zerknitterten Post-It Zettel aus der Hosentasche, um sich noch einmal zu vergewissern. Die richtige Adresse war es.

Sein Blick schweifte zu dem Familiennamen. Moriarty. Er warf einen kurzen Blick auf den Aufkleber unter der Klingel. Stimmte auch.

Sebastian seufzte. Dann klingelte er erneut. Gleich drauf hämmerte er, vielleicht ein wenig verzweifelt, an die Tür.

Schließlich, gerade als Sebastian aufgeben wollte, tat sich endlich - endlich - doch noch etwas. Sebastian hörte, wie sich ein Schlüssel im Schloss drehte. Beinahe war er überrascht, als die Tür aufschwang und er tatsächlich einer Person gegenüberstand.

Genauer gesagt einer Frau im mittleren Alter mit schwarzen Haaren und beunruhigend dunklen Augen. Es war, als starrte Sebastian in zwei Abgründe, doch gerade als sich ein Schauder seinen Rücken hinaufschlich, begann die Frau zu lächeln und plötzlich kam Sebastian sich lächerlich vor, weil ihre Augen gar nicht so unheimlich waren, sondern eher warm und herzlich, genau wie ihr Lächeln und die Umarmung, in die sie Sebastian zog, ohne, dass sie sich vorher je begegnet waren.

„Du musst Sebastian sein, freut mich wirklich sehr." Sebastian erwiderte die Begrüßung. Das Lächeln der Frau wurde, wenn möglich noch breiter und wärmer. Ihre Stimme erkannte Sebastian wieder. „Ich bin Eliza Moriarty, aber bitte nenn mich Eliza. Wir haben gestern schon telefoniert. Deine Mutter hat mir so viel von dir erzählt."

Sebastian nickte. Weil er nicht wusste, was er sonst tun sollte.

Eliza Moriarty war eine Freundin seiner Mutter. Sie hatten sich bei einem Töpferkurs kennengelernt. Sebastian hatte nicht ganz aufmerksam zugehört, als seine Mutter ihm ihr Gespräch mit Eliza geschildert hatte - er hatte nur behalten, dass seine Mutter erwähnt hatte, dass sie einen Sohn hatte, der nach einem Nebenjob sucht, woraufhin Eliza erzählt hatte, dass sie Kinder besaß und deshalb einen Babysitter bräuchte und dass sie viel Geld hatte, um diesen zu bezahlen (Letzteres leitete Sebastian von der Wohngegend und dem schönen Haus ab).

Als eine peinliche Stille sich drohte über sie zu legen - obwohl Eliza ihn weiterhin freundlich anlächelte - räusperte Sebastian sich und deutete auf die Klingel. „Ich glaube, Ihre Klingel funktioniert nicht, Eliza. Ich habe dreimal geklingelt, aber offensichtlich haben Sie mich nicht gehört."

Eliza runzelte die Stirn, trat über die Türschwelle nach draußen und drückte selbst auf die Klingel. Kein Laut war im Haus zu vernehmen. Daraufhin verdrehte sie die Augen und murmelte etwas, das entfernt wie "hat schon wieder alles auseinandergenommen" klang.

Dann drehte sie sich schwungvoll zu Sebastian um und winkte ihn näher. „Ach, wie unhöflich von mir. Komm erst einmal rein. Komm rein. Ich stell dich den Anderen vor."

Somit wurde Sebastian praktisch ins Innere des Hauses gescheucht und ehe er es richtig registrierte, fiel die Tür auch schon hinter ihm ins Schloss und er stand in einem Flur mit dunkelgrauen Fliesen.

„Jungs, kommt her! Ich möchte euch jemanden vorstellen!", rief Eliza neben ihm und Sebastian fuhr beinahe zusammen, als plötzlich ein kleines Kind im rosa Tütü um die Ecke gerannt kam und so sehr schlitterte, dass es beim Anhalten beinahe gegen Sebastians Bein purzelte.

„Das ist mein jüngster Sohn, Dorian", erklärte Eliza und Dorian blinzelte verwirrt zu Sebastian auf. Er hatte die gleichen dunklen Augen wie seine Mutter, nur, dass sie bei ihm wie die eines gutmütigen Teddybäres wirkten. Allerdings hatte er, anders als Eliza, blonde Haare, die sich ganz leicht lockten.

Sebastian lächelte schief und ging vor Dorian in die Hocke, steckte ihm danach die Hand entgegen. „Hallo, Dorian, ich bin Sebastian." Dorian nahm langsam seine Hand in seine viel kleinere, sichtlich überfordert mit der ganzen Situation.

„Sebastian ist dein neuer Babysitter, Schatz", erklärte Eliza für Sebastian. Dorian blinzelte langsam, blickte zu seiner Mutter und dann zurück zu Sebastian, die dunklen Augen noch immer weit aufgerissen.

„Du bist ganz schön groß", flüsterte er dann, als wäre das ein schreckliches Geheimnis und Sebastian lachte leicht auf. Der Junge war ungefähr fünf Jahre alt und Sebastian überragte ihn mit seinen ein Meter dreiundneunzig um das Doppelte.

„Ja, das stimmt. Ich hab früher zu viel Brokkoli gegessen."

Dorian sah aus, als könnte er sich nicht entscheiden, ob er beeindruckt oder entsetzt sein sollte.

Eliza seufzte neben ihnen. Dann erhob sie erneut die Stimme: „Jungs! Andrew, Joseph, Jim! Wo bleibt ihr?" Sie klatschte in die Hände, als gälte es, einen Hund anzulocken.

Sebastian erhob sich aus der Hocke, gerade als die nächste Person um die Ecke kam. Dorian sah mit leicht offen stehenden Mund zu ihm auf, während Sebastian neugierig den nächsten Abkömmling musterte. „Hi, ich bin Sebastian", stellte er sich vor und schüttelte die Hand des Jungen, der sich als nächstes zu dieser kleinen Versammlung im Flur gesellt hatte.

„Andrew", murmelte der Junge und zog seine Hand schnell wieder zurück, als hätte er Angst, Sebastian würde sonst seinen Arm ausreißen. Auch er hatte dunkle Augen und blonde Haare, war jedoch älter als Dorian und ein wenig korpulenter.

„Sebastian wird jetzt öfter auf euch aufpassen, wenn euer Vater und ich nicht da sind", erklärte Eliza auch Andrew. Dann fügte sie hinzu: „Apropos, wo ist euer Vater?"

Andrew musterte Sebastian von oben bis unten - recht unverhohlen dafür, dass er sich sonst so schüchtern wie sein Bruder verhielt - und antwortete dabei halblaut: „Er ist kurz in die Garage gegangen, um etwas aus dem Auto zu holen. Wie alt bist du?"

Sebastian war kurz so irritiert über die Art, wie Andrew Antwort und Frage beinahe zu einem Satz zusammenfasste, dass er erst nach einem Moment realisierte, dass die Frage ihm gestellt war. „Ich bin siebzehn Jahre alt. Und du?", entgegnete er höflich.

„Zehn." Andrew wandte sich ab, als wäre das alles gewesen, was er hatte wissen müssen. „Dorian, spielen wir weiter Mario Kart?"

Sebastian blickte zu Dorian, dessen Gesicht sofort aufleuchtete und der begeistert nickte und zu einer Antwort ansetzte, als ihre Mutter ihnen einen Strich durch die Rechnung machte: „Nichts da, ihr habt heute schon genug gespielt. Tut mir den Gefallen und holt euren Vater in die Küche. Er und ich müssen noch ein paar Sachen mit Sebastian besprechen."

Erst stöhnten die Beiden, dann begannen sie ein Wettrennen Richtung Garage, die offenbar durch eine Seitentür mit dem Haus verbunden war.

Eliza lachte leise und wandte sich dann wieder Sebastian zu, der leicht lächelte angesichts des Verhaltens der beiden Jungen. „Sie können mitunter recht anstrengend sein, aber glaub mir, sie sind gute Jungs." Sie nickte in die Richtung, in der die Jungen verschwunden waren und wo der Flur endete. „Komm, wir können in der Küche noch einmal die Einzelheiten deines Jobs besprechen. Nichts Kompliziertes, versprochen."

Sebastian folgte ihr durch ein riesiges, modernes Wohnzimmer in eine ebenso große und modische Küche, in deren Mitte sich eine weiße Kücheninsel mit Stühlen davor befand. Zögerlich setzte Sebastian sich auf einen und versuchte, nicht allzu verschlossen zu wirken. Immerhin war Eliza bisher sehr freundlich zu ihm gewesen und hatte Sebastian keinen Grund gegeben, sich in irgendeiner Art und Weise unwohl zu fühlen. Aber so war Sebastian nun einmal: Er fühlte sich selbst in seinem eigenen Bett fehl am Platz.

Statt sich aber in sich selbst zurückzuziehen, wie er es noch vor ein paar Jahren getan hatte, lächelte Sebastian und versuchte, ein Gespräch aufzubauen: „Sie haben ein wirklich schönes Haus. Und niedliche Söhne."

Eliza erwiderte sein Lächeln - wobei, eigentlich lächelte sie seit seiner Ankunft unentwegt. „Vielen Dank. Natürlich hast du noch nicht gesehen, wie es hier aussieht, wenn ich nicht jede Stunde einmal aufräume und meinen ältesten Sohn hast du auch noch nicht kennengelernt, aber ich lasse dich gern erst einmal diese Illusion leben." Sie lachte.

Sebastian stimmte ein, wenn er auch nicht wusste, wie ihr ältester Sohn seine Meinung in irgendeiner Art und Weise beeinträchtigen sollte.

„Hast du so etwas eigentlich schon einmal gemacht, Sebastian? Auf Kinder aufgepasst?", fragte Eliza wenig später und Sebastian musste sich davon abhalten, sofort unsicher lachend zu verneinen.

„Ich passe ab und zu auf meinen kleinen Cousin auf, aber leider sehe ich ihn nur selten", antwortete er zögerlich und zur Hälfte ehrlich. Sein kleiner Cousin war mittlerweile nämlich auch acht Jahre alt und das letzte Mal hatte Sebastian ihn mit fünf gesehen und war zusammen mit ihm auf den Spielplatz gegangen, wo er sich den Arm gebrochen hatte, als er von einer Schaukel gesprungen war, um Sebastian zu zeigen, wie groß er schon war.

„Und hattest du im Allgemeinen schon einmal vorher einen Job?"

Sebastian verzog unwillkürlich das Gesicht. „Ja, in einem Café. Aber ehrlich gesagt, war ich nicht der Talentierteste aller Kellner."

Wieder lachte Eliza leicht. „Das ist auch schwerer als man glaubt. Ich schaffe es manchmal nicht einmal, die Teller von der Küche aus ins Wohnzimmer zu tragen, ohne mindestens einen fast fallen zu lassen."

Sebastian grinste und wollte gerade zu einer Antwort ansetzen, als er aus dem Augenwinkel eine Bewegung wahrnahm. Er drehte sich in diese Richtung.

Ein Junge, vielleicht ein wenig jünger als er selbst, lief zielstrebig an Sebastian und Eliza vorbei, öffnete einen Küchenschrank, der zwei Meter rechts von Sebastian lag, und nahm sich wortlos eine Tasse und eine Packung Tee hinaus. Dann schaltete er den Wasserkocher ein, packte einen Teebeutel aus und hängte ihn in die leere Tasse.

Das Schweigen des Jungen war dabei so ernsthaft und unerbitterlich, dass Sebastian für einen Moment seine Manieren vergaß. Dann erinnerte er sich wieder daran, dass er sprechen durfte und sagte: „Hallo. Ich bin Sebastian."

Der Junge hielt kurz in der Bewegung inne, nahm sich dann einen Löffel aus einer Schublade und ließ ihn klimpernd in die Tasse fallen. Anschließend drehte er sich zu Sebastian und musterte ihn uninteressiert.

Sebastians Gegenüber war beinahe geisterhaft blass und besaß wie Eliza schwarzes Haar. Auch er hatte die dunklen Augen, die offensichtlich in seiner Familie üblich waren, doch die seinen schienen noch schwärzer und außerdem um einiges kälter.

Sebastian fühlte sich nicht ganz wohl unter diesem Blick, wand sich darunter und war, zugegebenermaßen, sehr erleichtert, als der Junge sich abwandte und, ohne auch nur ein Wort zu sagen, wieder verschwand. Seine Intention, Tee zu machen, schien er aufzugeben.

Aus dem Augenwinkel sah Sebastian, wie Eliza den Kopf schüttelte. Dann seufzte sie leise. „Das war Jim. Tut mir leid, dass er so abweisend war. Er ist irgendwie... schwierig."

Daraufhin entgegnete Sebastian nichts. Diesen abschätzigen Blick Jims würde er wohl auf jeden Fall als schwierig bezeichnen - schwierig zu ertragen. Sebastian hatte sich unter seiner Musterung ein wenig wie ein Insekt gefühlt, das es Jim nicht wert war, es unter seiner Sohle zu zerquetschen.

Er hoffte nur, er und Jim würden miteinander zurechtkommen. Sonderlich begeistert schien Jim jedenfalls nicht von seiner Existenz.

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„Möchtest du noch irgendetwas wissen?", fragte Eliza nach einem halbstündigen Gespräch, in dem sie Sebastian erklärt hatte, worin seine Aufgaben bestanden, wann er am Besten da zu sein hatte und wie viel sie ihm bezahlen würden. Das meiste war nur eine Wiederholung dessen, was Sebastian bereits durch seine Mutter oder bei dem gestrigen Telefongespräch mit Eliza erfahren hatte, aber er war recht froh darüber, noch einmal alles zu hören, da er zuweilen recht vergesslich sein konnte.

Sebastian schüttelte als Antwort auf Elizas Frage den Kopf. Dann nickte er. „Nur eine. Was ist, wenn ich einmal keine Zeit fürs Babysitten habe?"

Joseph Moriarty, der Mann von Eliza, winkte ab. „Solange du uns früh genug Bescheid sagst, können wir höchstwahrscheinlich einen Ersatz suchen." Joseph war ein Mann von breiter Statur. Er besaß blondes, gewelltes Haar, das an den Schläfen bereits ergraut war und er hatte ein ernstes Gesicht und stählern graue Augen, schien aber wirklich freundlich zu sein. Meistens überließ er seiner Frau das Reden, weshalb Sebastian ein wenig überrascht war, dass er das Wort ergriffen hatte.

Eliza nickte zustimmend, dann sah sie auf die Uhr. „Sebastian, würde es dir etwas ausmachen, wenn du deine Talente schon heute unter Probe stellst? Ich habe noch einen Termin und mein Mann muss noch schnell etwas einkaufen. Nicht wahr, Schatz?"

Joseph grummelte zustimmend. Er erhob sich ein wenig unwillig von seinem Stuhl und schüttelte Sebastian wie bei der Begrüßung die Hand. Sein Griff war stark, seine Hand warm. „Ich bin mir sicher, du wirst das gut machen. Du scheinst mir ein anständiger Junge zu sein, Sebastian."

Sebastian lächelte, auch, wenn er sich da nicht ganz sicher war. „Danke, Sir."

Joseph sah auf seine Armbanduhr. „Ich bin in einer Stunde wieder da." Er überlegte noch einmal kurz. „Vielleicht brauche ich ein wenig länger. Aber das schaffst du."

Mit diesen Worten verließ er die Küche und lief, wie Sebastian vermutete, in Richtung Garage.

Auch Eliza erhob sich nun und zog Sebastian erneut in eine Umarmung. „Lass dich nicht von meinen Jungs ärgern. Ach, und vielleicht zeigt Andrew dir ja schon einmal das Haus, damit du dich zurechtfindest."

Sebastian nickte. „In Ordnung. Danke für die Chance."

Eliza tätschelte Sebastians Schulter. „Nichts zu danken. Ich hoffe nur, du enttäuscht mich nicht." Sie zwinkerte ihm zu, lief schließlich in den Flur und kam kaum eine Minute später in einem eleganten Mantel und hohen Schuhen zurück. „Pass auf, dass Andrew und Dorian nicht gleich weiter Videospiele spielen, wenn ich weg bin. Sie dürfen am Tag nur zwei Stunden spielen."

„Geht klar."

„Ach, und gib Dorian keine Süßigkeiten. Er kann sonst abends nicht schlafen."

Sebastian erwähnte nicht, dass er ja nicht einmal wusste, wo die Süßigkeiten waren, sondern nickte nur einmal mehr. „Okay."

„Und..." Sie zögerte. „Vielleicht versuchst du noch einmal, mit Jim zu reden. Ich weiß, dass er nicht sehr umgänglich ist, aber es ist besser wenn ihr euch vertragt und ihr seid ja auch beinahe gleich alt, also vielleicht wird ja alles gut."

Zum ersten Mal wirkte ihr Lächeln ein wenig gezwungen und um sie zu beruhigen, versprach Sebastian: „Ich rede noch einmal mit ihm. Ich bin mir sicher, er ist nett."

„Mh-hm", machte Eliza wenig überzeugend, woraufhin Sebastians Hoffnungen verblassten wie die Lachfältchen um Elizas Augen. „Wie auch immer. Wir sehen uns dann am Montag. Bau keinen Mist und pass gut auf meine Söhne auf. Bis dann!"

Bevor Sebastian den Abschied auch nur erwidern konnte, war Eliza bereits davon gerauscht und wenig später fiel die Haustür geräuschvoll ins Schloss. Sebastian war allein in der Küche und das fremde Haus eigenartig still. Er wusste, dass es niemals gut war, wenn man nichts von kleinen Kindern hörte, deshalb stand er auf, um nach den beiden jüngeren der drei Moriarty-Brüder zu sehen.

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„Das ist das Bad. Und hier, gegenüber, liegt mein Zimmer", erklärte Andrew und stieß im nächsten Moment die weiße Tür auf. Sebastian hatte beinahe sofort das Gefühl, auf die Auswirkungen eines gigantischen Sturmes zu blicken: Überall auf dem Boden lagen Kleidungsstücke, Comics, Bücher und Actionfiguren. An den Wänden hingen Poster, die sich zum Teil bereits halb von der Tapete lösten. Das Bett war ungemacht und auf dem kleinen Nachttisch neben dem Bett stand ein halbleeres Glas Saft und ein angebissener Keks.

Sebastian hob ob so viel Chaos beeindruckt die Augenbrauen. „Sieht... interessant aus."

Andrew nickte begeistert. „Mum sagt, mein Zimmer sähe schrecklich aus, aber wenn ich aufräume, finde ich nichts mehr."

Sebastian hob einen Mundwinkel. „Es sieht schon irgendwie aus, als stecke ein System dahinter."

Glücklicherweise schien Andrew den Sarkasmus in seiner Stimme nicht herauszuhören. „Tut es auch. Die Actioncomics liegen rechts vom Bett, Superheldencomics links und Donald Duck-Geschichten liegen dazwischen, weil sie von allem etwas haben. Mums Romane liegen zwischen den Hosen und im Schrank sind meine Pullover und Unterwäsche."

Sebastian war sich ziemlich sicher, dass Andrew sich diese Ordnung gerade ausgedacht hatte, denn es sah nicht im entferntesten danach aus, als hätte er die Sachen wirklich an einen bestimmten Ort gelegt. Mehr, als würde er immer alles über seinen Rücken schmeißen, wenn er es nicht mehr brauchte, und sich dann nicht weiter darum kümmern.

Aber Sebastian hielt den Mund und machte nur ein beeindrucktes Gesicht.

Andrew ließ den Blick selbst noch einmal zufrieden über die Sturmreste schweifen, schloss dann die Tür und leitete Sebastian weiter den Flur hinunter, zur zweiten Tür, gegenüber der Treppen, die ins zweite Stockwerk führten, in dem sie sich gerade befanden. „Das hier ist Doris Zimmer. Aber er schläft immer noch oft bei Mum und Dad im Bett."

Andrew verdrehte die Augen und stieß dann auch diese Tür auf. Die Unordnung in diesem Zimmer war beschränkt, jedoch immer noch ersichtlich. Ganz offensichtlich hatte auch Dorian nicht das Bedürfnis, aufzuräumen.

Dorians Zimmer war von dem Mobiliar her eine beinahe exakte Kopie des Zimmers von Andrew. Statt der Bücher und Comics lagen allerdings überall Kuscheltiere, einzelne Socken und kleine Puppenköpfe - nach Letzterem traute Sebastian sich nicht wirklich zu fragen, also deutete er mit einem Nicken an das linke Ende des Flures, wo sich zwei weitere Zimmer gegenüber lagen.

„Was sind das für Räume?"

„Links ist das Gästezimmer. Gegenüber liegt Jims Zimmer, aber da können wir nicht rein, sonst wird er wütend." Andrew biss sich auf die Lippe und blickte noch einen Moment länger auf die Tür seines Bruders, ehe er sich zur Treppe umwandte. „Soll ich dir unten noch die Garage und den Wäscheraum zeigen?"

Gerade, als Sebastian ansetzte, zu nicken, fiel ihm ein, worum Eliza ihn indirekt gebeten hatte. „Nein, ich will mich noch einmal Jim vorstellen. Ich komme gleich nach."

„Bist du sicher?", fragte Andrew nach und verzog das Gesicht. „Ich glaube nicht, dass Jim dich kennenlernen will."

Das Gefühl hatte Sebastian auch. Aber Eliza hatte recht - sie würden sich nun vermutlich öfter sehen und da wäre es hinderlich, wenn sie sich nicht verständen. „Einen Versuch ist es wert."

„Wenn du meinst." Andrew zuckte mit den Schultern. Dann begannen seine Augen plötzlich zu leuchten. „Hey, können Dori und ich noch einmal Mario Kart spielen? Mum meinte, wir dürfen später noch einmal spielen."

Sebastian grinste schief und schüttelte den Kopf. „Netter Versuch, aber eure Mutter hat mir extra gesagt, dass ihr heute schon genug gespielt habt."

Andrew zog eine Schnute. „Dann eben nicht." Mit diesen Worten drehte er um und rannte die Treppen nach unten zu seinem Bruder, der gerade mit einem Ausmalheft beschäftigt war.

Sebastian atmete tief durch. Dann lief er ans Ende des Flures und blieb vor Jims Zimmertür stehen. So schwer konnte es ja nicht sein, diesen Jungen dazu zu bringen, ihn zu mögen, nicht wahr? Und selbst, wenn es nicht klappte, war das sicher auch nicht so schlimm. Dann würden sie sich eben aus dem Weg gehen.

Ein wenig zielsicherer, aber noch immer wenig überzeugt, klopfte Sebastian leicht gegen das Holz der Tür. „Jim? Äh, hi, hier ist noch einmal Sebastian. Ich wollte mich nur noch einmal vorstellen und-" Und was? „... und noch einmal kurz mit dir reden, wenn das in Ordnung ist."

Keine Reaktion. Sebastian blickte unsicher um sich, klopfte schließlich noch einmal lauter. Vielleicht hörte Jim ja Musik und er war zu leise gewesen.

Doch auch beim zweiten Mal bekam er keine Antwort. Sebastian seufzte. „Hör mal, ich weiß, dass du sicherlich keine Lust hast, mit fremden Typen zu reden, aber wir werden miteinander reden müssen. Ich bin jetzt nämlich jede Woche dreimal hier und würde es gut finden, wenn wir uns... naja, verstehen."

Und erneut schlug ihm vom Zimmerinneren nichts als Schweigen entgegen. Stirnrunzelnd klopfte Sebastian noch einmal. Konnte ja sein, dass Jim wirklich nicht mit ihm reden wollte, aber war Sebastian nicht einmal gut genug für ein "Verpiss dich!"?

Irgendwie wollte Sebastian nicht so stehengelassen werden. Immerhin gab er sich hier wirklich Mühe, doch bei Jim stieß er da offensichtlich auf eine Mauer. „Wenn du etwas dagegen hast, kannst du es sagen, ansonsten komme ich kurz rein, damit wir besser reden können", verkündete Sebastian, ohne recht zu wissen, was er tat.

Als kein Protest kam, drückte er die Klinke hinunter und die Tür - die erstaunlicherweise nicht abgeschlossen war - schwang nach innen auf.

Sebastian hatte sich halb darauf vorbereitet, einen Gegenstand gegen die Stirn geworfen zu bekommen, oder eine Beleidigung. Womit er nicht gerechnet hatte, war, dass das Zimmer leer war.

Das Bett war ordentlich gemacht, keine Falte war zu sehen. Nirgendwo lag Kleidung herum wie in den Zimmern von Jims Brüdern und alle Bücher waren ordentlich in die Regale einsortiert. Rechts im Zimmer stand ein Schreibtisch, auf dem jeder Stift an der richtigen Stelle zu liegen schien. Nichts deutete darauf hin, dass dieses Zimmer überhaupt bewohnt war.

Stirnrunzelnd drehte Sebastian sich einmal um die eigene Achse, erwartete halb, dass Jim sich irgendwo versteckte. Dann lief er über den Flur zum anderen Zimmer, klopfte dort an und trat dann ein. Man sah sofort, dass es ein Gästezimmer war, denn es gab nur ein Ehebett mit je einer Lampe an der Seite und eine große Kommode, die dem Bett direkt gegenüberstand.

Also hatte er auch nicht das Zimmer verwechselt. Die Chance war sowieso gering gewesen.

Sebastian kehrte zurück in Jims Zimmer, wusste nicht so richtig, was er tun sollte.

Jim war nicht hier.

Das war dann wohl etwas, was schiefgelaufen war. Aber vielleicht wussten Joseph und Eliza ja auch schon Bescheid. Vielleicht hatte Jim Musikunterricht oder Fußball und Sebastian hatte nur nicht mitbekommen, wie er das Haus verlassen hatte.

Gegen diese Theorie sprach allerdings das Fenster, dessen Griff anzeigte, dass das Fenster offen war, auch, wenn jemand es zugezogen hatte. Vor dem Fenster stand ein Baum mit dicken Ästen, der, mit etwas Übung, von der Fensterbank aus erreichbar wäre. Die Zeichen waren ziemlich eindeutig.

Großartig, dachte Sebastian. Es war sein erster Tag als Babysitter, er war kaum eine Stunde allein mit drei Jungen gelassen worden und er durfte den Eltern der Familie jetzt schon mitteilen, dass einer ihrer Söhne abgehauen war.

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Wörter: 3909

Lied: Clockwork ~ Palaye Royale

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