Kapitel 4
Die nächsten Tage liefen eher Ereignislos an Familie Lycras vorbei. Wie immer zu dieser Zeit wurde Vance unausstehlich und bald mussten Lewis und Olivia ihn in einen Raum im Keller sperren, welchen sie extra dafür eingerichtet hatten. Die Tür war mit einem Fluch belegt und ließ sich nur von außen öffnen. Vance würde nicht alleine raus kommen. Doch sicherheitshalber wurde die Tür auch abgeschlossen und Lewis versteckte den Schlüssel an einem Platz, welchen niemand außer er selbst kannte. Seit sie in der Stadt lebten konnte Vance in den Vollmondnächten nicht mehr raus in den Wald, um sich dort auszutoben. Gerade er litt deutlich unter dem kleinen Raum im Keller, jedoch war das die einzige Lösung, wie keine Menschen in Gefahr geraten würden.
Doch auch Olivia hatte mit den Auswirkungen des Vollmondes zu kämpfen und lag eigentlich nur im Bett oder saß auf dem Sofa, während sich Lewis liebevoll um seine kraftlose Frau kümmerte.
Somit war es zu Grace Aufgabe geworden, sich noch mehr als sowieso schon um Maddi zu kümmern. Sobald sie von der Schule kam, zu welcher sie fast täglich mit dem Bus fahren musste, da Vance nicht in der Lage war sie zu fahren, forderte die sechsjährig all ihre Aufmerksamkeit. Glücklicher Weise war Maddi einfach zu begeistern. Während Grace also ihre Hausaufgaben erledigte, saß Maddi neben ihr und malte ein Bild. Später kochten sie dann zusammen etwas, dass Grace dann aß, während ihre Schwester einen Film ansah. Bis es dann für Maddi Zeit wurde ins Bett zu gehen, spielten sie noch ein wenig mit dem Puppenhaus, welches Maddi bei sich im Zimmer stehen hatte oder vertrieben sich anders die Zeit.
Es war eintönig, aber es gehörte für Grace genauso zum Alltag wie das gequälte Heulen, welches aus dem Keller zu ihnen rauf klang.
Grace freute sich zu dieser Zeit besonders, wenn sie in der Schule mit ihren Freunden Zeit verbringen konnte. Es war schön einfach und angenehm. Niemand wusste, was momentan in ihrer Familie abging und dies sollte auch so bleiben, damit Grace ihren Vorhang aufrecht halten konnte. Sie war ein ganz normales Mädchen mit einer ganz normalen Familie. Ihr Vater war kein Dämon, ihre Mutter kein Vampir. Ihr Bruder war kein Werwolf und ihre Schwester war keine Ghula.
„Und dann, im Mai 1760 erreichte James Cook Australien und nahm das Land für die britische Krone in den Besitz." beendete ihr Geschichtslehrer seinen kleinen Vortrag und Grace sah sich um. Ihr war wohl als einziges aufgefallen, dass Mr. Harris einen Fehler gemacht hatte. Sollte sie etwas sagen? War das vielleicht sogar ein Test an die Klasse? Sie konnte ihren neuen Lehrer noch nicht so ganz einschätzen.
Grace war unglaublich nervös, während sie langsam die Hand hob. Überrascht sahen Marje und Liz sie an, aber auch andere Blicke aus der Klasse spürte sie auf sich.
Mr. Harris sah sie aus zusammengekniffenen Augen an. „Was gibt es Ms.-?"
„Lyrcas." stellte Grace sich kurz vor und nahm dann die Hand schnell wieder runter. „Ich denke, Sie haben einen kleinen Fehler in ihrem letzten Satz. James Cook-"
„Ich bitte Sie! Sie sind neu hier, richtig? Ich denke Sie wissen nicht wie Sie sich gegenüber eines Lehrers zu verhalten haben. Ich habe Geschichte studiert und werde es demnach ja wohl wissen! Zeigen Sie gefälligst etwas mehr Respekt!" fuhr er sie an und wurde deutlich zornig.
„Sie missverstehen mich. Ich habe nicht vor Ihr Wissen in Frage zu stellen." versuchte Grace direkt die Situation zu klären. Es schien kein Test zu sein. „Aber James Cook hat Australien erst zehn Jahre später, 1770, am 28. April, erreicht. Vielleicht haben Sie es nur falsch gelesen-"
„Also halten Sie sich für schlauer als eine Lehrperson?" rief Mr. Harris empört aus und griff nach dem Geschichtsbuch welches auf seinem Pult lag. Er blätterte ein wenig umher, riss einige Seiten dabei beinahe aus und stockte dann. Er schob seine dicke Brille wieder auf seinen Nasenrücken und sah dann mit fast schon ehrfürchtigen Blick zu Grace.
„Sie haben Recht." gestand er dann und Grace lächelte ihn an. Als er sie angeschrien hatte, war sie kurz davor zu weinen, aber sie konnte sich zusammenreißen und nun ging es ihr sofort wieder blendend.
Unschlüssig, ob ihre Mitschüler sie jetzt für einen Streber halten würden, was Grace definitiv nicht sein wollte, sah sie sich um. Lauter Blicke sahen sie an. Einige stolz, andere irritiert, viele auch glücklich. Alle schienen sich zu freuen, dass jemand einen Fehler bei Mr. Harris gefunden hatte, dem Typen, welcher sich für schlauer als das Internet hielt.
Von dieser Minute an, veränderte sich die Art, wie Mr. Harris mit seinen Schülern sprach drastisch. Anstatt, dass er alles einfach herunter ratterte und erwartete, dass jeder es sofort wie ein Schwamm aufsog, sprach er nun ruhiger und sah selber auch das ein oder andere mal in seinen Unterlagen nach. Er wollte sich nicht noch einmal die Blöße geben, von einer Schülerin korrigiert zu werden. Grace stieg in kürzester Zeit durch ihr gutes Geschichtswissen, zu einer seiner absoluten Lieblingsschülern auf. Sie hätte alles tun können und er hätte es toleriert.
„Grace, du bist eine Heldin!" rief Liz aus, gleich nachdem sie das Klassenzimmer verlassen durften. Auch einige ihrer anderen Mitschüler gratulierten ihr oder bedankten sich für ihre Rettung vor der nächsten Klausur.
„Wie hast du das verdammt nochmal hinbekommen? Und woher weißt du so was? Bist du ein Superhirn oder was?" fragte Marje und lachte.
Grace zuckte nur mit den Schultern und steckte sich die Hände in die Jackentasche. „Ich finde es nicht schwer mir solche geschichtlichen Sachen zu merken. Und mein Vater weiß eine Menge dazu, wir unterhalten uns oft über sowas."
Ihr ihren Respekt aussprechend, machten Marje und Liz sich Vorweg auf den Weg zur Sporthalle, um Tyson von dieser abzuholen. Grace lief mit ein wenig Abstand hinterher und wurde somit schnell von Logan abgeholt, mit welchem Mr. Harris nach dem Unterricht noch kurz sprechen wollte.
„Hey." grüßte er sie und Grace erwiderte. Sie wollte weiter gehen aber Logan hielt sie zurück.
„Hast du einen Moment?" fragte er vorsichtig und auf seine typische ruhige und zurückhaltende Art.
„Hm? Ja, klar. Worum geht es denn?" fragte sie, während die Beiden den Abstand zu den Mädchen vergrößerten um sich somit in Ruhe unterhalten zu können.
„Mr. Harris hat mir gesagt, dass ich bei ihm Versetzungsgefährdet bin. Wenn ich die nächste Klausur nicht mindestens mit einer zwei bestehe, muss ich das Jahr wegen Geschichte wiederholen." offenbarte Logan und sah beschämt auf den Boden. Es war ihm allgemein schon unangenehm über seine schulischen Probleme zu reden, aber dann auch noch mit der Neuen, die sich eben als ein Geschichtsgenie herausgestellt hatte, das war dann etwas zu viel des Guten.
„Oh, das tut mir Leid. Hast du denn jemanden der dir beim Lernen helfen kann?" fragte Grace. Sie fühlte mit ihm. Damals in New Orleans hatte sie extreme Schwierigkeiten mit Mathematik gehabt. Aber nachdem ihre Eltern dann für einen Nachhilfelehrer gesorgt hatten, gehörte Mathe nun zu ihren stärksten Fächern.
„Nein, und ich kenne auch niemanden, der sich mit Geschichte gut genug auskennt." gestand Logan und kratzte sich am Hinterkopf. „Also, niemanden außer dir."
In seinen Augen lag ein flehender Blick, als er sie wieder ansah. „Kannst du mir vielleicht Nachhilfe geben? Mr. Harris hat das auch vorgeschlagen. Er meinte, dass du es echt drauf hast. Er glaubt, dass du mich retten kannst. Bitte!" flehte er und Grace lächelte ihn an. Sie freute sich natürlich das er sie für gut genug hielt, aber dennoch konnte sie nicht. Sie seufzte. Grace wollte ihm wirklich unbedingt helfen. Aber momentan war sie komplett mit ihrer Schwester beschäftigt, und wirklich lang bis zu der Klausur war es auch nicht mehr. Sie hätten niemals genug Zeit.
„Ich muss in letzter Zeit echt viel auf meine kleine Schwester aufpassen. In den nächsten Tagen wird es also schwer."
„Wir können ja zu dir gehen und sie nebenbei ein wenig beschäftigen. Ich kann gut mit Kindern." schlug Logan vor. Man sah ihm an, dass er ihre Hilfe unbedingt wollte.
Grace lächelte ihn entschuldigend an. „Sie ist etwas," sie suchte einen Moment lang nach dem richtigen Wort, „speziell. Sie kann nicht gut mit Fremden. Sie geht auch nicht zur Schule, sondern unser Vater unterrichtet sie zuhause. Ich denke, dass sollten wir nicht tun, wenn sowohl meine Mutter, als auch mein Bruder krank sind." umschrieb sie die Situation und Logan nickte verstehend.
„Schade, aber es wäre super, wenn es irgendwann passt. Du kannst mir ja schreiben, wenn sich irgendwas ändern sollte."
Grace nickte. „Ich kann meine Eltern mal fragen, ob wir das irgendwie machen können. Vielleicht nächste Woche, wenn es Mama und Vance besser geht." schlug sie vor und blieb dann auch schon bei Marje und Liz stehen, welche vor der Sporthalle in der Kälte standen und auf Tyson warteten. Wenn es eine Sache gab, an die sich Grace nicht gewöhnen konnte, dann war es die Kälte, die hier herrschte. Nichts war schlimmer als die Kälte schon zu spüren, bevor man überhaupt das Warme Klassenzimmer verlassen hatte.
Sie freute sich wie ein kleines Kind, als Tyson wenig später endlich raus kam und sie zusammen wieder rein in das Schulgebäude gingen. Sie hatten noch fast zehn Minuten Pause und wollten diese zum gemeinsamen entspannen in der Cafeteria nutzen.
„Grace, hey, sag mal," Tyson schob sich an Liz und Logan vorbei um neben ihr zu stehen und sich mit ihr einfacher unterhalten zu können, „was war das eigentlich für ein krasser Wagen, der dich gestern abgeholt hat?"
Grace musste einen Moment überlegen. Dann fiel ihr wieder ein, dass ihr Vater sie zusammen mit Maddi abgeholt hatte, da diese unbedingt die Schule ihrer Schwester sehen wollte und Lewis sowieso noch etwas für Vance kaufen wollte.
„Das war der Maserati von meinem Vater. Er hat mich gestern abgeholt." antwortete sie dann. Ihre Familie besaß viele Autos und nicht nur das. Jedes Haus in welchem sie bisher gelebt hatten, war extra für sie gebaut worden. Grace wusste nur zu gut, dass das Geld ihrer Familie kein Limit hatte. Ihr Vater hatte sich in der ganzen Zeit, die er nun schon lebte, über verschiedene Wege ein riesiges Vermögen aufgebaut.
„Aber gleich am Montag wurdest du doch auch von jemanden in so einem krassen Auto abgeholt. Wer war das eigentlich? Dein Freund?" fragte Marje und Grace schüttelte direkt den Kopf. Sie hatte noch nie einen Freund. So was war schwer zu bekommen, wenn man immer wieder umzog und zudem noch eine Familie hatte, welche sich für das begrenzte Leben ihrer Tochter nur das Beste wünschen. Olivia und Lewis würden niemals einen Jungen im Leben ihrer Tochter als gut genug ansehen. Alleine schon die Vorstellung davon, dass sie mal jemanden ihren Eltern vorstellen würde, ließ sie nervös werden. Das könnte überhaupt nicht gut gehen.
„Das war mein Bruder. Ich hab keinen Freund." gestand sie und wurde leicht rot, als sie die entsetzten Blicke ihrer Freunde sah.
„Du? Keinen Freund?" Tyson fielen fast die Augen aus dem Kopf. „So süß wie du bist würde selbst ich dich beinahe nach einem Date fragen."
„Tyson!" schrie Liz enttäuscht und schlug auf ihren Freund ein. Grace wusste nicht was sie antworten sollte und drehte sich schnell weg.
„Ey, Babe! Ich hab doch gesagt fast." versuchte Tyson sich zu retten und fing an vor seiner wütenden Freundin wegzulaufen während Marje und Logan ihn nur auslachten. Auch Grace stieg mit ein. Und als Liz ihr dann auch noch versicherte, dass sie nicht wütend auf sie war, konnte Grace sich auch wieder beruhigen.
So lustig wie die Pause war, war der Unterricht jedoch nicht. Mrs. Blyth schien noch schlechter drauf zu sein als gewöhnlich als sie die Klasse betrat. Sofort war alles still und die meisten trauten sich kaum zu atmen.
„Ms. Lycras!" wandte sich Mrs. Blyth direkt an Grace und diese schluckte.
„Ja?" fragte sie vorsichtig nach und Mrs. Blyth sah sie mit stechendem Blick an. „Packen Sie Ihre Sachen. Sie auch Mr. Wood." Grace drehte sich schräg nach hinten und sah zu Logan, welcher sie nur genauso unsicher ansah, wie sie auch ihn.
„Es wurde darum gebeten, dass Sie beide Ihren Sitzplatz tauschen. Ich halte nicht viel von diesem ganzen Wünsch-dir-was, aber es galt als Anordnung vom Schulleiter. Ich weiß auch nicht wieso, aber Sie nehmen es jetzt einfach so hin und setzten sich um." sprach sie, während Grace schnell ihre Tasche provisorisch packte und mit Logan Plätze tauschte.
Die Klasse fing an zu tuscheln, wurde aber auch schnell von Mrs. Blyth ermahnt leise zu sein. Aus Angst heraus, Mrs. Blyth noch komplett zum ausrasten zu bringen, hörten alle auf sie und so wurde die Klasse schnell wieder still.
Grace konnte sich denken, dass ihr Papa ein paar Kontakte hatte spielen lassen, damit sie ihren Platz an der Wand bekam. Aber das sie jetzt nicht mehr bei Marje und Liz sitzen durfte, fand sie dann doch etwas schade.
Es war ungewohnt für sie auf einmal so weit hinten und dann auch noch alleine zu sitzen, aber an der Wand sitzen zu dürfen erleichterte sie dennoch ungemein. Sie war sich sicher, dass es ihr jetzt um einiges leichter fallen wird, am Unterricht teil zu nehmen, schließlich musste sie ihre Hand nicht mehr durchgehend verstecken.
Sie bekamen eine Aufgabe an die Tafel geschrieben und sollten diese lösen. Ganz alleine fiel es Grace zwar etwas schwer einen Anfang zu finden, aber sobald sie eingestiegen war, kam sie überraschend gut voran.
Mrs. Blyth lief durch die Klasse und sah auf die Bögen der Schüler, gab aber keine Kommentare ab, sondern notierte sich nur die Lösungswege und Rechnungen in einem kleinen Buch, welches sie mit sich führte. Kurz bevor sie bei Grace ankam, riss sie dann aber ihre Schüler alle aus der stillen Lernphase.
„Mr. Charter! Was ist das?" fragte sie laut und voller Zorn. Ein Schüler, welcher, wenn Grace sich richtig erinnerte, Nik hieß, zuckte zusammen und wurde direkt kreidebleich. Er sah nervös zu seiner Klassenlehrerin und gab ihr dann den kleinen Zettel, welcher zuvor durch die Klasse ging.
Mrs. Blyth faltete ihn auseinander und lief vor Zorn direkt rot an. „Wer war das!?" fauchte sie und schlug mit Kraft auf den Tisch von Nik.
Niemand sagte ein Wort oder versuchte die Aufmerksamkeit von Mrs. Blyth auf sich zu ziehen. Grace musste dieser Klasse ihr größtes Lob aussprechen. Sie alle hielten zusammen. Trotz der typischen Grüppchenbildung konnte man sich auf jeden verlassen. Irgendwer schien einen Brief an jemanden geschrieben zu haben. Und auch wenn die den Blicken ihrer Mitschüler nach viele zu wissen schienen, von dem dieser kam, würde niemand diese Person verraten.
„Schön!" fauchte Mrs. Blyth. „Mr. Charter!" Nik schluckte und sah seine Lehrerin voller Furcht an. „An wenn sollte dieser hübsche Brief denn gehen?" fragte sie zornig.
Nik sah durch die Klasse, so als suche er selber nach dieser Person. Flehend sah er zwischen den Leuten umher. So als würde sich gleich alles aufklären, Mrs. Blyth hatte sich verlesen oder vielleicht war das auch alles nur ein Albtraum.
Doch dann blieb Nik's Blick auf einer Person liegen. „Grace." sprach er dann entschuldigend aus und angesprochene schluckte schwer.
„Nachsitzen!" donnerte Mrs. Blyth wütende Stimme durch die Klasse und Grace zuckte zusammen. Sie wollte etwas sagen, sich beschweren, dass sie jetzt Nachsitzen musste, obwohl sie selber doch gar nichts getan hatte. Doch sie wusste nur zu genau, dass sie es damit nicht besser machen würde. Ganz im Gegenteil, es würde definitiv nur noch schlimmer werden.
„Will sich der Verfasser freiwillig zu zeigen geben?" fragte Mrs. Blyth, doch nichts rührte sich. „Letzte Chance. Sonst sitzt die ganze Klasse nach!"
„Ich war es." langsam hob sich eine Hand. Die gesamte Klasse starrte die Person an, welche sich eben offenbart hatte während diese nur entschuldigend lächelte. „Es tut mir Leid. Ich weiß nicht was ich mir dabei gedacht habe."
„Grace Lycras, Liz Moore, Sie beide werden heute Nachmittag schön bei den Aufräumarbeiten im alten Archiv der Schulbibliothek helfen!"
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