Kapitel 22
Lewis war überzeugt davon, dass er als erstes erkannt hatte, dass seine Kinder Seelenverwandte waren, doch dem war nicht so. Vance und Grace wussten schon lange, was für eine besondere Verbindung sie zueinander hatten. Sie wussten es beide, ohne jemals darüber geredet zu haben. Das brauchten sie auch nicht.
Als Lewis Grace holen wollte um sie wieder ins Bett zu bringen, wachte Vance direkt auf und knurrte seinen Vater bedrohlich an. Er wollte auf keinen Fall zulassen, dass irgendwer seine Schwester in ihrem tiefen Schlaf störte. Es kostete Lewis einiges an Mühe und Geduld, bis er Grace dann nach oben tragen konnte. Noch immer schlief sie tief und fest, was ihm jedoch alles andere als missfiel. Sie alle wussten, Grace konnte den Schlaf gut gebrauchen.
Er hatte sie gerade erst zugedeckt und öffnete erneut die Tür zu Vance, um sich Grace Wolldecke zu holen, als er seinen Sohn kraftlos und ausgelaugt auf der Matratze sitzen sah. Als Mensch wohl bemerkt.
„Na toll, ist es wirklich schon wieder Morgen? Ich habe nicht eine Sekunde die Augen zumachen können.“ beschwerte Lewis sich scherzhaft und überprüfte mit einem kurzen Blick ob Vance irgendwelche Verletzungen hatte, die er sich selber in seiner Wolfsgestalt zugeführt hatte.
Vance murrte nur und rieb sich über das Gesicht. Er war müde. Lewis brauchte als Dämon keinen Schlaf und legte sich nur hin, wenn er sonst nichts zu tun hatte. Es war ab und an mal ganz entspannend, aber stellte für ihn keine Notwendigkeit dar.
Doch Vance war da anders. Er musste schlafen, besonders jetzt, wo die Vollmondphase ihn sowieso schon einiges an Kraft kostete. Doch wirklich viel Schlaf hatte er die letzte Nacht nicht wirklich bekommen.
Olivia brauchte an sich auch keinen Schlaf, aber wie auch ihr Ehemann, hatten die Beiden sich daran gewöhnt. Ghule, Werwölfe und selbstverständlich auch Menschen brauchten schließlich Schlaf. Und was sollten die Beiden sonst die ganze Nacht tun während ihre Kinder schliefen.
„Geht's dir gut? Willst du nach oben-“ wollte Lewis gerade fragen, als Vance schon aufgesprungen war. Er lief an seinem Vater vorbei und verließ das Zimmer, um mit schnellen Schritten über den Flur und die Treppe nach oben zu gehen. Lewis blickte ihm hinterher.
„Ich muss zu Grace.“ hörte er Vance noch rufen, dabei hatte er gar nicht gefragt. Es war ihm schon klar, dass er zu ihr wollte. Langsam folgte er ihm nach oben. Auf dem Flur im Erdgeschoss stieß Olivia zu ihnen, welche wohl gehört hatte, dass Vance wieder raus konnte. Er ließ sich von ihr nicht aufhalten und lief bereits die Treppe in den ersten Stock hoch, als Lewis gerade auf den Flur trat.
Das Ehepaar sah sich nur kurz an. Beide wussten sie, wo Vance hin wollte. Sie hörten noch, wie er vorsichtig die Tür öffnete, bevor sie überhaupt die Chance hatten, mit ihm zu reden.
Auch Vance war noch immer schwach. Schließlich hatte er die letzten Tage nur im Keller gesessen und versucht die Tür zu zerstören. Aber niemand konnte ihn aufhalten, während er auf dem Weg zu Grace war.
Er konnte sich nicht erinnern was passierte, als er in seiner Wolfsgestalt war. Wenn er sich freiwillig verwandelte, hatte er die komplette Kontrolle über alles. Aber wenn er sich aufgrund des Vollmondes verwandelte, konnte er sich nur schleierhaft erinnern. Manchmal auch gar nicht.
Vance betrat leise den abgedunkelten Raum und trat vor den Stuhl, welcher am Kopfende zu Grace Bett stand. Seine kleine Schwester lag friedlich schlafend in diesem, so tief eingekuschelt, dass man nur noch die Spitzen ihres langen, roten Haares sehen konnte.
Lautlos ließ Vance sich auf dem Stuhl nieder und sah seine Schwester an. Was hatte sie alles durchmachen müssen? Das einzige woran er sich erinnern konnte war, wie verzweifelt sie war, als sie zu ihm in den Keller kam.
Er würde sich an Caleb rächen. Sein Vater und Matt hatten ihm beide verboten mitzukommen, als sie von Ivan eine Adresse bekommen hatten, wo Grace sich vermutlich aufhalten würde. Es wäre zu gefährlich. Vance hatte sich nicht mehr ganz unter Kontrolle war ihre Begründung. Von seinem Vater hatte er nichts anderes erwartet, aber seinem besten Freund nahm er es noch immer übel, auch wenn er tief in seinem Inneren wusste, dass er wohl die Wahrheit gesagt hatte. Es hätte einiges schief gehen können, wenn Vance mitgekommen wäre und dann die Kontrolle verloren hätte.
Vance malte sich schon den Moment aus, in dem er sich für alles an Caleb rächen würde. Wenn es sein musste würde er ihn eigenhändig umbringen. Er würde ihn so leiden lassen, wie Grace es auch getan hatte.
Seine düsteren Gedanken lösten sich erst auf, als Grace sich murrend aus dem Kissenhaufen befreite und sich müde aufsetzte. „Morgen, Ginger.“ sprach Vance, als Grace sich dann verschlafen aufsetzte. Sie erkannte in dem abgedunkelten Raum nur seine Umrisse, aber dank seiner ihr mehr als nur bekannten Stimme wusste sie sofort, dass er es war und fiel ihrem Bruder augenblicklich um den Hals. Vance lachte, erwiderte die Umarmung aber nicht weniger fest.
Es fühlte sich für die Geschwister so beruhigend und sicher an, im Arm des Anderen zu liegen. Keiner von ihnen wollte die Umarmung wieder lösen. Erst als Maddi ins Zimmer kam, um ihren Geschwistern zu sagen, dass es Frühstück geben würde, lösten sie sich widerwillig und gingen nach unten, wo die anderen schon auf sie warteten.
„Es ist Sonntag. Und bekannter Weise kommt nach einem Sonntag immer ein Montag.“ begann Grace, wurde aber direkt von ihrem Vater unterbrochen, als dieser laut zu Lachen anfing.
„Ja Süße, ich weiß schon worauf du hinaus willst.“ Er lehnte sich gegen die Arbeitsfläche und verschränkte die Arme vor der Brust. Bis eben hatte er noch das Abendessen vorbereitet welches nun ganz alleine weiter vor sich her köchelte. „Du willst fragen, wie es morgen mit der Schule aussieht.“
Grace nickte. Sie wollte ihre Freunde unbedingt wiedersehen und mal raus kommen. Ihr Handy war weg, sie gingen alle davon aus, dass Caleb es noch hatte, deswegen waren Grace Kontakte derzeit auf ihre Familie und Logan beschränkt, welcher täglich vorbei kam um ihr für ein paar Stunden Gesellschaft zu leisten.
Selbst Matt ließ sich nie blicken, auch wenn Grace wusste, dass ihr Vater und der Vampir in engem Kontakt zueinander standen.
„Bitte, ich weiß, es ist gefährlich, aber Matt ist ja da. Und Harper und die anderen ja auch. Ich verspreche dir, es wird nichts passieren. Sowieso denke ich, dass-“ begann Grace ihn überreden zu wollen und machte sich schon auf eine große Diskussion bereit, doch Lewis nickte nur, was sie direkt verstummen ließ. Bloß nichts Falsches sagen, solange der Vater noch einverstanden zu sein scheint.
„Von mir aus kannst du wieder hingehen. Ich habe schon mit Matthiew gesprochen und mit ihm abgemacht, dass er dich die ganze Zeit im Auge behalten und sichergehen wird, dass nichts passiert. Aber du musst auch kooperieren, kapiert?“ Grace nickte energisch. „Vance fährt dich zur Schule und ihr wartet im Auto, bis Matthiew dich abholt und zum Klassenzimmer bringt. In der Pause wird er dich dann auch vom Klassenraum abholen, Logan wird mit dir dort warten, damit du auf keinen Fall auch nur eine Sekunde alleine bist. Matthiew bringt dich dann auch zu deiner nächsten Stunde und nach Schulschluss begleitet er dich zurück zu Vance.“ wies Lewis an und Grace nickte.
Etwas unangenehm war es ihr schon, dass Matt sie wie ein Bodyguard überall hin begleiten würde, aber Grace verstand auch, dass es notwendig war. Caleb und Edward hatten auch nicht davor gezögert sie einfach vor der Schule zu entführen. Sie konnten davon ausgehen, dass die Beiden vor nichts zurückschrecken würden um sie zu bekommen.
„Okay, danke.“ Grace strahlte ihren Vater mit einem Lächeln an, welches sie schon seit Tagen nicht mehr zustande bekommen hatte. Auch Lewis lächelte sanft als seine Tochter ihm dann einen Kuss auf die Wange gab.
„Jetzt hilf mir endlich beim Tisch decken. Das Essen ist schon lange fertig.“
Schnell deckten Vater und Tochter den Tisch und riefen dann den Rest der Familie zum Essen. Mittlerweile war es für alle normal, zusammen zu essen. Nicht jeder nahm richtige Mahlzeiten zu sich, aber sie saßen alle zusammen und redeten.
Grace fühlte sich wohl und sicher. Sie war im Kreis ihrer Familie und zudem war es auch noch hell draußen, auch wenn die Dämmerung schon langsam einsetzte. Erst wenn die Sonne weg war und Grace alleine in einem dunklen Raum war, spürte sie wieder, was diese eine Woche mit ihr angestellt hatte. Ihre Panikattacken und Weinkrämpfe kamen seltener, aber nicht unbedingt weniger stark. Doch noch war alles in Ordnung und Grace konnte in Ruhe die Mahlzeit mit ihrer Familie genießen.
Nach dem Essen ging Grace in ihr Zimmer, um ihre Schulsachen für den nächsten Morgen zu packen. Sie war aufgeregt, fast so sehr wie vor ihrem ersten Schultag. Morgen konnte sie ihre Freunde endlich wiedersehen und diese würden sie sicherlich gut ablenken können. Außerdem würde sie Matt wiedersehen. Ihr Vater meinte, Matt würde ihr keine Sekunde von der Seite weichen. Grace erwischte sich selber dabei wie sie sich darauf freute, morgen Zeit mit Matt zu verbringen. Sie wollte den Gedanken verdrängen, er war schließlich noch immer der beste Freund ihres Bruders, aber es fiel ihr jedes Mal schwerer, wenn sie wieder ihren Gedanken verfiel.
Mittlerweile hatte Grace es kapiert und sogar akzeptiert. Sie hatte sich tatsächlich irgendwie in Matt verliebt.
„Hey.“ Grace sah zu ihrem Bruder, welcher in der Tür stand und sich gegen den Rahmen lehnte. „Soll ich dir Gesellschaft leisten?“ fragte er, betrat aber schon im selben Moment das Zimmer und ließ sich auf das Bett fallen.
„Woran hast du gerade gedacht? Du hast so gewirkt, als wärst du in einer anderen Welt.“ Vance grinste seine Schwester an, welche sich nur schnell wegdrehte. Sie würde ihm garantiert nicht sagen, wo ihre Gedanken eben wie so oft in letzter Zeit waren.
„Nirgends. Ich freu mich nur auf morgen.“ beendete Grace das Thema schnell und verschloss die Tasche dann, bevor sie sich neben ihren Bruder auf das Bett setzte.
„Du musst dir keine Sorgen machen. In der Schule bist du sicher. Es wird immer jemand bei dir sein. Nicht einmal Caleb kann so doof sein und dich da abfangen.“ Vance schien offensichtlich zu denken, dass Grace Gedanken eben bei Caleb waren, was sie aber gar nicht weiter störte. Besser so, als wenn sie ihrem Bruder die Wahrheit sagen musste. Für sie stand schon von Anfang an fest, dass Matt nichts weiter als ein kleiner Schwarm sein würde. Grace selber war noch immer ein Mensch, sie würde irgendwann alt genug sein um als seine Mutter durchzugehen. Matt war jemand, den sie nur von weitem etwas anhimmeln konnte. Nichts weiter.
„Ich weiß. Jeder erinnert mich oft genug daran.“ Sie sah auf ihre Hände. Sie hatte sich eigentlich mit der Zeit abgewöhnen können, immer an ihren Fingerstumpen zu spielen, aber irgendwie hatte sie es sich dann in der letzten Zeit wieder angewöhnt. „Ich bin trotzdem ein wenig nervös. Das ist doch aber auch normal.“
Vance schloss sie in eine Umarmung und nahm ihre linke Hand in seine. „Es wird alles wieder gut werden. Ich bin ja da.“ Es waren die gleichen Worte wie er auch früher gesagt hatte. Damals, als Grace mit zehn Jahren ihre Finger verloren hatte und immer in Panik verfiel, wenn sie Maddi sah. Alles hatte sich so sehr verändert.
„Du wirst keinen einzigen Schritt alleine machen. Immer wird jemand bei dir sein, kapiert.“ Grace nickte. Zum wievielten Mal sie sich das ganze gerade anhören durfte wusste sie nicht, aber irgendwie hielt ihre ganze Familie es für nötig, sie jede Minute darüber zu informieren, dass sie heute wieder in die Schule ging und somit wieder unter Menschen war. Das keiner von ihnen hier war um sie zu beschützen, sollte Caleb doch plötzlich auftauchen.
„Ich hab dich auch lieb.“ sie gab ihren Bruder einen kurzen Kuss auf die Wange, bevor sie dann schnell ausstieg und auf das große Eingangstor zulief. Sie hatte Matt schon dort stehen sehen und wollte ihn nicht noch länger warten lassen.
„Ich hol dich heute um drei Uhr ab. Sollte was ausfallen schreibst du mir gefälligst, haben wir uns verstanden.“ rief ihr Bruder noch mit ernster Stimme zu ihr doch Grace konnte ihn Lachen sehen, bevor er dann mit dem knallroten Porsche 991 Turbo davon fuhr.
„Undankbarer Hund. Grüßt er mich nicht einmal.“ maulte Matt, als Grace ihn erreichte und sah dabei Vance hinterher, bevor er sie dann ansah und anbot ihre Tasche zu tragen.
Grace wollte direkt ablehnen, aber sein Angebot schien keine richtige Frage zu sein, da er einfach wortlos die Tasche an sich nahm und über die Schulter warf.
„Ich denke, ich kann davon ausgehen, dass Lewis dir gesagt hat wie für's Erste der Plan aussieht.“ Matt lief voran in Richtung Schulgebäude und sah dabei über seine Schulter zu Grace, welche seufzte.
„Ich bin mir noch nicht ganz sicher. Aber kann man auch erwarten, dass ich eine so komplizierte Abfolge nach nur tausend Erklärungen direkt verstehe? Für wie schlau haltet ihr mich?“ scherzte Grace.
Matt fing an zu Lachen und hielt ihr gleichzeitig die Tür auf. Freudig schlüpfte sie unter seinem Arm hindurch um in die warme Schule zu gelangen. Schon diese paar Minuten an der kalten Winterluft hatten sie zum Zittern gebracht. Grace freute sich jetzt schon wieder in der warmen Cafeteria zu sitzen und einen Kakao zu trinken.
„Keine Sorge. Wenn dir etwas entfallen sollte, werde ich dich gerne erinnern. Ich habe mir extra Notizen gemacht.“ ging Matt darauf ein und lehnte sich kurz darauf an die Wand, gegenüber von Grace' Klassenraum.
Sie waren früh. Bisher waren kaum Menschen in der Schule und auf dem ganzen Flur sahen sie noch niemanden. Matt machte einen entspannten Eindruck, wie eigentlich immer in der Schule, aber dennoch erwischte Grace ihn immer wieder dabei, wie er sich prüfend umsah. Doch auch Grace war sichtlich angespannt. Sie versuchte ruhig zu bleiben und sich keine Sorgen zu machen, aber dennoch spielte sie schon seit sie das Haus verlassen hatte an den Fingerstumpen ihrer linken Hand. Die Schule war riesig. Überall könnte Caleb sein und nur darauf warten, dass Grace auch nur eine Sekunde alleine war.
„Wahrscheinlich bist du das ganze schon langsam satt, aber kurz muss ich nerven.“ Matt hatte ihre Schultaschen vor sich auf den Boden gestellt und die Arme verschränkt. Er sah zu Grace, sie aber dennoch nicht genau an. Einige Zeit wanderte sein Blick umher, bis auch er dann ihre Finger fixierte und diese als seinen Anhaltspunkt nutze.
„Wenn es etwas gibt, über das du reden möchtest, dann kannst du gerne zu mir kommen. Ja, ich gehöre nicht zu deiner Familie, aber dein Bruder ist mein bester Freund. Ich würde deiner ganzen Familie, und somit natürlich auch dir, bei allem helfen, wo ich nur kann. Wenn es also irgendwas gibt, vielleicht etwas, womit du deine Familie nicht belasten willst, dann kannst du es gerne mir erzählen. Du kannst mir vertrauen. Ich werde Caleb für das büßen lassen, was er dir angetan hat.“ Grace sah ihn an und als auch Matt seinen Blick hob um sie anzusehen, fing ihr Herz an wie wild gegen ihre Brust zu hämmern. Sie lief rot an und sah weg. Sie hielt ihren Blick gesenkt, während sie ihm antwortete und bemerkte somit nicht, dass Matt's Reaktion ihrer bis ins kleinste Detail glich.
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