Kapitel 18
Grace sah gar nicht mehr auf, als sich die Tür zu ihrem Gefängnis wieder öffnete. Sie wusste wer es war. Es konnte nur er sein. Die Hoffnung auf Rettung hatte sie schon lange aufgegeben.Um sie darüber in Kenntnis zu setzen, dass sie nun noch einen Tag länger hier war, erzählte Edward ihr das jeden Tag, wenn er zu ihr kam. Jeder Tag war einen Tag länger, an welchem niemand von ihrer Familie oder ihren Freunden gekommen war, um sie zu retten. Wenn Edward die Wahrheit gesprochen hatte und sie nicht die ganze Zeit anlog, dann war sie jetzt bereits seit fast einer Woche hier. Eine Woche, die sich wie ein Jahr anfühlte.„Ist das nicht bedenklich? Es ist schon Sonntagabend, aber von deiner ach so tollen Familie ist weit und breit nichts zu sehen." Edward hockte sich vor Grace und sah sie mit einem durchdringlichen Blick an. Sie versuchte so gut wie möglich, ihn zu ignorieren. Das Gefühl welches sie bekam, wenn sie ihn ansah gefiel ihr nicht. Ihr war klar, dass sie weitaus schwächer und ihm definitiv unterlegen war. Es war so, als würde er auf sie herab blicken. Sie wollte ihm nicht noch die Genugtuung geben, die er bekam, wenn sie ihn vom Boden aus ansah. Er konnte jederzeit tun was auch immer er wollte, während sie hier in diesem kalten Raum eingesperrt war. Hilflos und schwach.
Wenigstens hatten Caleb und Edward so viel Einsicht gehabt, dass Grace nun nicht mehr komplett bewegungsunfähig auf dem Boden liegen musste. Ob das Glück war oder nicht, da war Grace sich unsicher. Zwar war nur noch ihr rechtes Bein an der Kette und hielt sie somit davon ab, einfach den Raum zu verlassen, aber dafür hatte Grace auch immer dieses widerliche Gefühl nach Machtlosigkeit und Schwäche, wenn Edward kam, um so wie jetzt auch von ihr zu trinken.Wie die letzten Tage auch immer zog er sie problemlos an sich ran und legte ihren Hals frei. Grace versuchte jedes Mal sich zu wehren. Sie wusste zwar, dass sie keine Chance hatte, aber sie wollte wenigstens nicht das Gefühl haben, als hätte sie verloren und aufgegeben, weil sie ihm nicht wenigstens deutlich zeigte, dass sie all das was er ihr antat nicht wollte.Sie hatte schon lange aufgehört ihn darum zu bitten, wenigstens etwas vorsichtig zu sein. Er würde sowieso auf nichts hören, was sie sagte. Zudem hatte sie sich eine Erkältung eingefangen, musste die ganze Zeit Husten und spürte deutlich, wie rau ihr Hals war. Sie würde wohl nicht einmal ein Wort herausbekommen und nur irgendwas Unverständliches vor sich her krächzen.Somit musste Grace zulassen, dass Edward sich problemlos an ihrem Blut bediente. Schmerzerfüllt schrie sie auf, als sie spüren konnte, wie sich die langen Fangzähne ihres Peinigers in ihr Fleisch bohrten. Ihre Haut brannte um die Stelle herum und sie konnte seinen warmen Atem auf ihrer kalten Haut spüren. Grace versuchte noch sich zu wehren und um sich zu schlagen, aber er hielt sie fest an Ort und Stelle.Irgendwann verließ sie langsam die Kraft und so versuchte sie nur noch kraftlos, sich nicht unterkriegen zu lassen und ihn von sich fern zu halten. Edward war natürlich um Längen stärker und so sah man ihm nicht einmal an, dass Grace gerade mit aller Kraft versuchte sich zur Wehr zu setzen.Es fühlte sich für sein Opfer wie eine Ewigkeit an, bis er wieder von ihr abließ. Desinteressiert ließ er Grace plötzlich los und sie fiel kraftlos auf den Boden, da sie nicht die Kraft hatte, ihren eigenen Körper zu halten.Es interessierte sie nicht mehr, dass Edward auf sie herab sah. Das hatte er die letzten Tage schon mehr als genug getan. Allgemein hatte Grace in den letzten Tagen festgestellt, dass wenn sie versuchte unauffällig zu sein und nichts tat, was ihren Entführern missfallen könnte, sie eigentlich immer ganz gut durch kam. Also sah sie ihn auch nicht an und blieb still liegen.Und während sie auf dem Boden lag und versuchte wieder zu Kräften zu kommen während Edward ohne ein weiteres Wort den Raum verließ, gingen Grace' Gedanken wie in den letzten Tagen so oft, zu ihren Eltern. Doch nicht zu Lewis und Olivia, welche Grace immer noch als ihre Eltern ansah, was sich auch nie ändern würde. Sie dachte an das, was Caleb ihr über ihre menschlichen, ihre leiblichen Eltern erzählt hatte. Grace hatte zuvor nicht einmal ihre Namen gekannt. Und jetzt wusste sie alles. Sogar, wieso ihre Eltern sie im Wald ausgesetzt hatten.
Ihre Eltern, Sophie und Callum Morgan, waren beide von blauem Blut, doch auch wenn Caleb Grace all das erzählt hatte, weigerte er sich partout ihr, einem gewöhnlichen Menschen, zu erzählen was das genau bedeutete. Alles was Grace also wusste war, dass Menschen wie ihre Eltern oder sie selber besonderes Blut hatten, welches viele übernatürliche Wesen, besonders Vampire, begehrten.Sophie und Callum waren beide Jäger, sie wussten von der Existenz der übernatürlichen Wesen und wollten diese bekämpfen, um eine sichere Welt für die Menschen zu schaffen. Sie wünschten sich ewig ein Kind, doch kurz nach der so lange erhofften Geburt ihrer ersten Tochter Emma bekamen sie dann von Kollegen mitgeteilt, dass sie flüchten mussten, da jemand aufgrund ihres Blutes hinter ihnen her war.Es war Caleb, welcher ihre Eltern durchs ganze Land verfolgte. Sophie und Callum waren bereits einige Zeit mit ihrem Neugeborenen auf der Flucht und versteckten sich in einem nur selten besuchten Wald. Als sie dann feststellten, dass sie nicht mehr weiter kamen und früher oder später in Calebs Arme rennen würden, beschlossen sie wenigstens ihre Tochter vor dem Leid zu bewahren, welches ihnen bevorstand.Sie wollten ihre Tochter Emma umbringen.Doch keiner der beiden stolzen Eltern brachte es übers Herz, ihrem geliebten Baby, welches erst so kurz auf der Welt war, das Leben zu nehmen. Nur mit Mühe und nach langem Zögern schafften sie es dann, ihr Baby zumindest zurück zu lassen. Auch wenn sie es selber nicht für realistisch hielten hofften sie dennoch, dass irgendein Mensch, vielleicht ein Wanderer oder Jäger, durch Zufall dem Pfad folgte, auf welchem sie ihr Baby ablegten, und sich der Kleinen annehmen würde.Sie wussten wie unwahrscheinlich das war, doch während sie weinend in die entgegengesetzte Richtung liefen, kam tatsächlich jemand den Pfad entlang. Doch es war kein Mensch.Es war Vance, ein Werwolf in seiner Wolfsgestalt, welcher das weinende Baby gehört hatte und es neugierig beäugte. Ohne zu wissen, was der Hintergrund hinter der Tatsache war, dass dieses Baby hier in der Kälte lag, war er direkt verzückt von ihr und nahm Emma an sich.Unter dem Namen Grace lebte das Mädchen bei Vance, welcher neben ihrem Lebensretter nun auch noch ihr großer Bruder war, zusammen mit seinen Eltern und Geschwistern, unwissend, was in ihrer Vergangenheit lag.Sophie und Callum lebten derweil hier unten, im selben Kellerraum, in welchem nun auch Grace festsaß und dienten die letzten 17 Jahre als Buffet für Edward. Vor einem halben Jahr starb Sophie dann kurz nach ihrem Ehemann, unwissend darüber, dass ihre Tochter, an deren Überleben sie gar nicht mehr glaubten, tatsächlich von jemandem gefunden und aufgenommen wurde und glücklich mit einer großen Familie aufwuchs.
Grace schluckte schwer und fixierte den Boden, darauf konzentriert jetzt nicht zu weinen. Hätte sie gewusst, dass ihre leiblichen Eltern noch lebten, hätte sie alles daran gesetzt, dass diese gerettet wurden. Ihr ganzes Leben lang hatte sie gedacht, ihre Eltern hätten sie nicht gewollt. Aber woher hätte sie auch die Wahrheit wissen sollen? Grace wusste, sie sollte sich keine Vorwürfe machen, aber doch tat sie es.Erneut fingen ihre Augen an zu Tränen und Grace beschloss, ihnen freien Lauf zu lassen. Was sollte schon passierten? Es würde sowieso niemand kommen, um sie zu retten. Wie auch schon ihre Eltern würde sie hier festsitzen, bis sie irgendwann sterben würde.Vielleicht würde ihre Erkältung schlimmer werden und sie würde an einer Lungenentzündung sterben. Natürlich konnte sie sich besseres vorstellen, aber in Angesicht ihrer momentanen Lage, würde ein früher Tod gar nicht mal so schlecht sein.Grace schüttelte ihren Kopf. Schnell ermahnte sie sich selbst, ihre dunklen Gedanken nicht in ihren Kopf zu lassen. Würde sie an so was denken, dann würde ihr Geist früher oder später aufgeben. Das musste sie verhindern. Grace kannte ihre Familie und auch ihre Freunde und wusste, dass diese sie nicht so einfach im Stich lassen würden. Wahrscheinlich brauchten sie nur noch ein wenig um sie zu finden. Irgendwann würden sie kommen, sie musste nur geduldig warten.Grace setzte sich langsam und noch immer recht schwach auf und rutschte an die Wand. Sie kauerte sich zusammen und legte ihre Arme um die Beine. Sie zitterte. Alles was sie gerade wollte war eine Umarmung. Eine der liebevollen, festen Umarmungen ihrer Mama, von Olivia. Und ihrem Papa, Lewis. Am besten auch von Vance, Maddi und Flo. Selbst Ethan zählte sie nach dieser kurzen Zeit schon zur Familie dazu und wünschte sich auch von ihm eine Umarmung.Grace vermisste diese Familie. Ihre echte Familie. Egal ob sie genetisch verwandt waren oder nicht, Familie war Familie. Außerdem vermisste sie ihre Freunde. Sie vermisste die unbeschwerten Gespräche mit ihren Freunden in der Schule, die lustigen Pausen und sogar den Unterricht. Sie würde alles dafür tun, um wieder bei Mrs. Blyth in einer der langweiligen Mathestunden zu sitzen. Gerne auch den ganzen Tag. Hauptsache weg von hier.Grace vermisste ihr altes Leben. Als die Tür plötzlich aufgerissen wurde, zuckte Grace stark zusammen, so sehr war sie in ihre Gedanken versunken. Und doch sah sie nicht auf als sie den Hall der Schritte hörte, welche der Person in den Raum folgten.Es stand sowieso außer Frage, wer es war. Niemand anderes kam hier her. Schon seit ihrem ersten Tag hier sah Grace nur Edward und das auch nur, wenn er wieder ihr Blut wollte. Wieso er jetzt schon wieder her kam, nachdem er doch gerade erst von ihr getrunken hatte, war Grace zwar ein Rätsel, aber sie wollte ihre Gedanken nicht mit ihm verschwenden. Sie wollte an ihre Familie denken. Daran, wie man sie retten würde und sie wieder zu ihrer Familie zurückkehren konnte.
Die Schritte traten weiter in den Raum hinein und die Person schien sich umzusehen. Grace blieb still und bewegungslos an ihre Wand gelehnt da und schloss die Augen. Sie wollte sich vorstellen, dass sie wieder bei ihrer Familie war. Und bei ihren Freunden.„Hey!" hörte sie die Stimme und Grace zuckte stark zusammen. Die Stimme war so laut, sie hallte durch den ganzen Raum. „Hey! Grace?" rief die Stimme fragend, aber auch fast schon erleichtert.Angesprochene hob langsam und vorsichtig den Blick. Sie kannte diese Stimme. Und es war nicht die von Edward oder Caleb. Es war eine Stimme mit der sie nur gute Erinnerung verband.Als die Person in das Blickfeld von Grace trat, wurden ihre Augen groß. Das konnte nicht sein. Ihr Gehirn musste ihr einen Streich spielen.Immer noch voller Unglauben ließ Grace sich in die Arme von der Person fallen. Ihr ganzer Körper zitterte, während sie den schützenden Arm der Person um sich spürten konnte. Noch immer wollte sie dem Hirngespenst nicht glauben, welches sie sah. Und doch spürte sie, wie die Fessel sich löste, welche sie noch immer an der Wand hielt, bevor sie dann vorsichtig hochgehoben wurde um aus ihrem Gefängnis befreit zu werden. Schützend im Arm von Matthiew liegend.
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