Kapitel 1

Vance wurde nur wach weil irgendwer im Stockwerk über ihm andauernd hin und her rannte. Müde setzte er sich auf und streckte sich, wobei seine Schulterblätter laut knackten. Barfuß und nur in Jogginghose bekleidet ging er dann nach oben, wo er auch direkt als er aus der Tür trat von seiner Schwester über gerannt wurde.
„Guten Morgen." rief Grace, während sie ihm mit unglaublichen Reflexen auswich und im Wohnzimmer verschwand. Der Ältere folgte ihr und beobachtete amüsiert, wie sie lauter Sachen zusammensuchte, welche sie heute brauchen würde.
„Mama? Wo bist du?" rief Grace durch das Haus und ging mit ihrer neuen Schultasche in der Hand aus dem Wohnzimmer. Vance drehte sich zu ihr und lehnte sich an den Türrahmen. Es war kalt und Vance bekam eine Gänsehaut auf seiner nackten Haut, doch es störte ihn nicht. Ganz im Gegenteil, es war angenehm. Ihm war schon die ganze Nacht unglaublich warm gewesen, der kalte Rahmen kühlte seinen Körper etwas ab.
„Wieso bist du so nervös? Ist doch nicht der erste Schulwechsel?" Grace schien ihn nicht gehört zu haben, da im selben Moment ihre Mutter aus der Küche kam.
„Du hast gerufen?" fragte sie und reichte ihrer Tochter ihr Pausenbrot, bevor sie Vance dann begrüßte.
„Mama, ich weiß nicht was ich anziehen soll." erzählte Grace von ihrem Problem und griff nach zwei Jacken, welche an der Garderobe standen. „Und wie warm ist es heute? Welche Jacke soll ich anziehen?"
„Ach, Süße." Olivia kam auf ihre Tochter zu und nahm das nervös durch die Gegend laufende Mädchen in den Arm. Ihre Hände waren eiskalt, genauso wie der Rest ihres Körpers. „Du siehst toll aus. Es ist egal was du trägst, du bist wunderschön und alle deine Mitschüler werden dich mögen." Sie gab ihrer Tochter einen Kuss auf den Haaransatz. Sie
sah, dass Grace schon wieder ihre linke Hand knetete. Eine Angewohnheit, die immer deutlich zeigte, dass Grace nervös oder ängstlich war. Olivia nahm die Hände ihrer Tochter in die ihren und drückte diese fest.
„Ja, das sagst du immer." antwortete Grace dann und grinste ihre Mutter an. „Aber ich bin mir mit meinen Klamotten unsicher. Das ist mein erster Tag an der Schule, an welcher ich auch meinen Abschluss machen werde. Ich möchte den richtigen ersten Eindruck machen. Nett und verantwortungsbewusst, damit die Lehrer mich mögen. Aber auch nicht so brav und kostümiert, dass meine Mitschüler denken ich bin irgendein Streber."
Olivia lachte auf. Es war normal für ihre Tochter, dass so was sie beschäftigte, aber dieses Mal war es extremer als sonst.
„Ich will schnell Freunde finden. Ich hab in San Francisco so viele zurücklassen müssen, ich hab das Gefühl nie wirklich was mit Freunden machen zu können, weil ich einfach immer nur die Neue bin."
„Keine Sorge, mein Schatz." Grace drehte sich um und sah ihren Vater, mit ihrer kleinen Schwester auf dem Arm, die Treppe nach unten kommen. „Wir bleiben wie immer um die zwei Jahre. Wenn es Zeit wird wieder umzuziehen hast du deinen Abschluss gemacht. Wenn du aufs Collage gehst musst du nicht mehr umziehen."
Die Worte von Lewis beruhigten Grace in keinster Weise. Sie schob schmollend die Unterlippe vor und verschränkte die Arme vor der Brust. „Aber dann kann ich gar nicht mehr hier wohnen. Ich will euch nicht verlassen müssen."
Lewis lachte und ließ die kleine Madison von seinem Arm runter. „Also willst du wie Vance hier leben bleiben?" Grace grinste breit und nickte.
„Selbstverständlich, ich werde die Nachbarin von meinem Bruder. Im Keller ist noch ein freies Zimmer."
„Bitte was?" Vance streckte den Kopf aus dem Badezimmer, welches direkt am Fuß der Treppe lag. „Der Keller gehört mir, verstanden?" Er kam aus dem Badezimmer, dieses Mal auch angezogen, und lehnte sich wieder gegen den Türrahmen. Dieses Mal war dieser nicht so kalt auf seiner Haut, da diese gut geschützt unter einem dunkelroten Sweatshirt und einer schwarzen Lederjacke lag.
„Och komm schon, das Zimmer ist doch sowieso frei. Du willst ja nur nicht das jemand hört wenn-"
„Ich brauch das Zimmer! Und das weißt du auch ganz genau." Wo seine Stimmung in der einen Sekunde noch entspannt und zufrieden war, machte er jetzt den Eindruck, als würde er seine Schwester jeden Moment anspringen. Diese sah ihn zuerst leicht überrascht an, doch dann umarmte und knuddelte sie ihn einmal durch.
„Ist es schon wieder soweit?" fragte sie und er nickte, während er sich langsam wieder entspannte. „Zwei Tage noch."
„Ich störe nur ungern, aber ich denke ihr solltet euch langsam mal auf den Weg machen." Olivia lief zum Kleiderschrank und reichte Grace die Jacke, welche sie ihrer Meinung nach anziehen sollte. Es war die wärmere.
„Ich hole den Wagen, kommst du in zwei Minuten raus?" fragte Vance und zog sich ein paar Schuhe an. Grace nickte und band sich dabei einen Schal um. Ihr Bruder wählte einen Autoschlüssel von dem Schlüsselbrett und trat dann raus in die morgendliche Kälte.
Lewis und Olivia gingen in ihr Schlafzimmer zurück und Grace sah sich noch einmal im Spiegel an. Konnte sie so wirklich raus gehen? War es jetzt zu spät um noch einmal kurz nach oben zu gehen und doch den anderen Pulli anzuziehen?
„Grace." Angesprochene erwachte aus ihrer Gedankenstarre und sah runter zu ihrer kleinen Schwester. Madison stand neben ihr, noch immer im Nachthemd, und zog an dem Jackenzipfel ihrer Schwester.
„Ja, was möchtest du?" fragte Grace und hockte sich runter, um der sechsjährigen die Möglichkeit zu geben mit ihr zu sprechen, ohne dass diese die ganze Zeit zu ihr rauf sehen musste.
„Ich finde du siehst wunderschön aus. Wie ein Engel, auch wenn Papa sagt, dass Engel nicht schön sind." Grace lachte und nahm ihre Schwester in den Arm.
„Danke, dass du das sagst bedeutet mir viel." Sie stand wieder auf und schulterte ihren neuen Rucksack. „Ich werde dann mal gehen. Und wenn ich wieder zuhause bin puzzeln wir weiter an dem Bild im Wohnzimmer, ja?"
„Ja! Bitte beeile dich."
Grace verabschiedete sich noch mit einem Rufen von ihren Eltern, welche jedoch nicht antworteten. Ihre Mutter schlief wahrscheinlich schon wieder. Wahrscheinlich würde sich ihr Vater heute über den Tag mit Maddi beschäftigen, bis Grace dann am Abend die Rolle des Babysitters übernehmen würde.

Auf der Fahrt schwiegen sich Vance und Grace wie fast immer nur an. Es gab zwischen den beiden noch nie so etwas wie ein unangenehmes Schweigen. Sie gingen einfach beide ihren Gedanken nach und gerade heute, wo Grace ihre neue Heimat zum ersten Mal bei Tageslicht sah, hatte sie für Gespräche gar keine Zeit.
Riesige Hochhäuser zogen an ihnen vorbei, volle Schulbusse standen an den Ampeln neben ihnen, die Straßen waren voll von Autos und überall waren Menschen. Toronto war doch auch nur eine Stadt wie jede zuvor. Würden die Schulwege keine anderen sein, würde es Grace gar nicht auffallen, ob sie sich jetzt noch in ihrer alten Schule in San Francisco oder sogar an der Schule davor, in New Orleans, befand. Nur die Menschen, mit welchen sie ihre Zeit täglich verbringen würde, änderten sich. Nicht vom Wesen her, es gab immer diese typischen Gruppenbildungen, aber niemand kannte sie. Grace würde die Neue in einer Gruppe aneinander abgestimmter Teenager sein. Sie konnte sich schöneres vorstellen, als jedes Mal aufs Neue diese Schulwechsel mitzumachen, aber sie wusste auch, dass es so sein musste.
Vance hielt vor einem großen, grauen Kasten, auf welchen die Schüler nur so zuströmten. Beide nahmen sie die Schule in Augenschein. Wahrscheinlich eine der größeren, die Grace bisher besucht hatte.
„Und, noch immer Nervös?" fragte Vance und drehte seinen Kopf zu seiner Schwester. Diese schüttelte den Kopf, log ihren Bruder dabei aber an, und sah auf die Tasche in ihrem Schoß. Für jede neue Schule hatte sie von ihren Eltern eine neue Schultasche bekommen. Dies war nun schon die Fünfte in ihrer Sammlung.
„Ich geh dann mal. Ich möchte ja nicht gleich am ersten Tag zu spät kommen."
„Hey", Vance schnallte sich ab, um sich besser zu ihr drehen zu können „pass auf dich auf. Sollte sich irgendwer an dich ranmachen oder so, dann schreib mir einfach. Ich brauch höchstens fünf Minuten um ihn komplett auseinander zu nehmen."
Grace nickte und lächelte ihren Bruder an. „Du bist so ein lieber großer Bruder."
„Alles für mein Lieblingsschwesterchen." lachte er und nickte dann in Richtung der Schule. „Aber ich meine es Ernst. Ich hab schon auf den ersten Blick eine vierköpfige Gruppe von Schülern gesehen, die du meiden solltest. Oder zumindest nicht ihren Zorn auf dich ziehen solltest." Vance deutete auf eine Gruppe aus zwei Schülerinnen und zwei Schülern, welche lachend in einer Ecke bei den Fahrradständern standen. Grace sah sie einen Moment lang genau an und nickte dann.
„Ich werde aufpassen."
„Auch vor Menschen!" erinnerte ihr Bruder sie und Grace nickte.
„Auch vor normalen Menschen. Alle können schlechtes wollen und man kann es ihnen nicht immer direkt ansehen." zitierte sie ihre Mutter, welche ihren Kindern das schon erzählte, seit Grace sich erinnern konnte.
Sie verabschiedete sich von ihrem Bruder und stieg dann aus dem Wagen aus. Dass sie die Blicke von wohl ausnahmslos jedem auf sich spürte hatte genau einen Grund, und der war nicht der, dass sie Neu hier war. So groß wie diese Schule war, würde es wahrscheinlich niemandem auffallen. Nein, es war der Wagen, mit welchem ihr Bruder sie gefahren hatte. Der dunkelblaue Lamborghini Huracan war nicht gerade der unauffälligste Wagen den ihre Familie besaß. Aber natürlich musste Vance angeben. So war er halt einfach.
Den Blick ihrer neuen Mitschüler meidend lief Grace auf das Schultor zu und machte sich dann schnellstmöglich auf den Weg zum Sekretariat.

Nervös lief Grace wenig später hinter ihrer neuen Klassenlehrerin her. Die Finger ihrer linken Hand, insbesondere den Mittelfinger und Ringfinger, knetete sie seit sie das Sekretariat betreten hatte durchgängig. Kurz sah sie auf ihre Finger und dann wieder zu ihrer Lehrerin.
„Entschuldigen Sie." fragte Grace vorsichtig, darauf achtend, dass sie ihrer Vorweg sprintenden Lehrerin noch hinterher kam.
Obwohl Grace keine Reaktion bekam, sprach Sie dennoch weiter. Es war schließlich unmöglich, dass ihre Lehrerin sie nicht gehört hatte. Auf dem Flur herrschte Totenstille. Die Türen zu den Klassenzimmern waren geschlossen und es schien so, als würden bereits jetzt, zwei Minuten nach Unterrichtsbeginn, alle im Lernmodus sein.
„Wäre es vielleicht möglich-" Grace verstummte, während sie versuchte die richtigen Worte zu finden „Könnte ich eventuell einen Platz links an der Wand bekommen? Das... ähm... hat persönliche Gründe."
Ihre Lehrerin blieb abrupt stehen und Grace schaffte es gerade noch so stehen zu bleiben, bevor sie in sie rein gelaufen wäre.
Grace wurde etwas nervös. Hatte sie einen Nerv getroffen? Keine Ahnung wie, aber so wirkte ihre Lehrerin gerade.
„Wir werden sehen, wo ein freier Platz für Sie ist Ms. Lycras." gab die alte Frau mit dem strengem Dutt zurück. Sie war wirklich eine Lehrerin wie sie im Buche stand.
Sie griff nach der Türklinke zu dem einzigen Klassenraum, aus welchem man Stimmen hören konnte. Grace zupfte ihren Pullover zurecht und versteckte ihre Hände in den Taschen ihrer Strickjacke. Während ihre Lehrerin mit einem lauten „Ruhe!" die Tür öffnete konnte Grace an nichts anderes mehr denken, als das doch hoffentlich ein freier Platz an der Wand war.

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