8. Katzen- & Karrieresprung

Nichts geschah. Keine kalten Finger an meinem Hals, keine Nebelhand in meinem Gesicht. Langsam öffnete ich die Augen und sah mich um. Die Küche war leer. Ich stand allein im Flur. Aus dem Spiegel glotzte mir mein verstörtes Gesicht entgegen, bleich wie eine Zuckerschaummaus.

Auf dem Küchenboden lag der umgefallene Stuhl, die Plastikdecke war halb vom Tisch gerutscht. Von der nebligen Erscheinung war jedoch nichts mehr zusehen.

Wo war Amanda?

Ich rief nach ihr. Einmal, zweimal. Hier in der Küche war sie nicht. Auch nicht im Flur. Ich sah im Wohnzimmer nach, dann im Bad, im Schlafzimmer und der Besenkammer.

Nichts. Keine Amanda.

Ich betrachtete meine Hände. Sie zitterten. Die zarte Bräune der letzten Tage war verschwunden. Zurück geblieben war nichts als käsige Blässe, unter der sich deutlich das Adergeflecht abzeichnete. Als sei ich auf einen Schlag um fünfzig Jahre gealtert. Ich brauchte dringend eine Verschnaufpause und musste mich setzen, nicht zuletzt weil ich spürte wie meine Knie weich wurden. Den Stuhl bekam ich gerade noch aufgehoben. Dann setzte ich mich an Frau Schecks Küchentisch, genau an die Stelle wo vor wenigen Minuten noch die Erscheinung gekauert hatte.

Ich hörte wie die Wohnungstür aufgeschlossen wurde und kurz darauf wieder ins Schloss fiel. Stoppelnde Schritte auf dem Flurteppich. Frau Scheck steckte das faltige Köpfchen in die Küche. Kalter Zigarettenrauch stieg mir in die Nase.

„Und ...?"

Was und, dachte ich. Was wollte sie hören?

„War er es?"

Ihr Göttergatte? Meinte sie das?

Ich deutete auf den zweiten Stuhl. Frau Scheck setzte sich zögerlich. Wir sahen uns an. Meine Zitterhände hielt ich unter dem Tisch verborgen, doch ich spürte auch, wie sie allmählich zu alter Ruhe zurückfanden. Schließlich hatte ich eine Rolle zu spielen.

Ellenbogen aufgestützt, Finger aneinander gelegt, wissende Miene aufgesetzt. Es konnte losgehen.

„Frau Scheck", ich blickte sie ernst, mit zusammengekniffenen Augen an. „Ich glaube wir müssen hier einmal ganz grundsätzlich etwas klären ...!"

Es fiel mir schwer die Haltung zu bewahren, denn was ich gesehen hatte, hatte ich gesehen, und konnte es nicht mit einem Fingerschnips aus meinem Hirn verdammen. Wirklichkeit gewordene Horrorfantasien aus dem Crypto-Magazin und Silva Mystica. Erst jetzt fiel mir ein, dass ich meinen Fotoapparat vergessen hatte. Ein leibhaftiger Geist auf Filmmaterial gebannt, das wäre der Kracher des Jahrhunderts gewesen. Ich hätte auf Jahrtausende als unumstrittener Gott der Crypto-Nerds gegolten.

„Sie locken mich in ihre Wohnung und lassen mich dann mit diesem Ding ...", ich schlug mehrmals mit der flachen Hand gegen meinen Stuhl, „einfach allein?"

Frau Scheck glotzte mich ratlos an und presste die Lippen verlegen aufeinander. Sie wand sich sichtlich.

„Ihre Katze war verschwunden, als ich sie füttern wollte. Vorgestern. Ich habe sie gesucht. Sie war in diesem dunklen Raum ohne Fenster ..."

„Sie meinen die Dunkelkammer. Da entwickele ich meine Fotos."

Frau Scheck nickte, sah mich aber nicht an, sondern schien die Blümchen auf der Tischdecke zu zählen.

„Ich war eben neugierig."

Holla, dachte ich, die Scheck interessiert sich für Fotografie und ist ausnahmsweise mal ehrlich. Es wäre ein Leichtes gewesen, sie weiter auszuquetschen und auf ihrem wackeligen Küchenstuhl schmoren zu lassen, doch ich wollte es gut sein lassen.

Ich sah auf ihren mageren Hals, sah wie ihr Schildknorpel beim Schlucken hüpfte. War das ein Hauch von Schamesröte auf ihren Wangen?

Völlig unerwartet griff sie nach meiner Hand und begann sie zu drücken. Frau Schecks Stimme hatte einen Ton angenommen, der mich entfernt an das Krächzen einer Saatkrähe erinnerte, die sich mit einer Artgenossin um ein Stück Aas stritt.

„Aber er war es doch, oder Herr Scholz! Er war es doch! Sie haben ihn doch auch gesehen! Sagen sie mir, dass sie ihn auch ...!"

Ich sah hinunter auf die Sitzfläche zwischen meinen Beinen.

„Gesehen habe ich was. Ob das jedoch ihr Mann ..."

Ich schluckte. Das Wort wollte mir nur schwer über die Lippen kommen.

„Wollte sagen, ob also sein Geist hier ..."

Noch immer fiel es mir unendlich schwer einzugestehen, dass ich genau das gesehen hatte. Eine rätselhafte Nebelerscheinung, die die Form eines Menschen angenommen, und sich nach Amandas beherztem Sprung in Luft aufgelöst hatte.

Mir fiel dafür kein anderes Wort ein. Das war Spuk in seiner reinsten Form. Blieb die Frage was ich damit anfangen sollte. Auch wenn mir der Hintern auf Grundeis ging, es war schlau dieser alten Frau zu helfen, denn das bedeutete ein ruhiges Dasein in diesem Haus und eine lebenslange Befreiung vom Treppendienst.

Ich bat Frau Scheck um ein Glas Wasser, das sie mir spontan an der Spüle abfüllte, verzichtete jedoch auf die Frage, ob das Pilsglas mit dem Bitburger-Aufdruck ebenfalls ihrem Mann gehört hatte. Ich stellte mir vor wie ich es mit dem Ellenbogen vom Tisch stieß, und kurz darauf der Nebel-Scheck aus dem Waschbeckenabfluss stieg und mir an die Gurgel ging.

Ich wischte die Bilder beiseite und begann mit der Fallbearbeitung.

„Haben sie eine Idee was ihr Mann gewollt hat?"

Offenbar musste Frau Scheck nicht lange über diese Frage nachdenken.

„Naja, er hat sich wahrscheinlich darüber beschweren wollen, dass ich seine Lieblingstasse, die mit dem Hirschen im Wald, weggeschmissen habe."
Die Sache mit der Tasse war mir bekannt, das mit dem Hirschen jedoch neu. Ich blickte unter den Tisch, betrachtete die Scherben und ließ meinen Blick weiter ziellos durch die Küche schweifen. Jetzt mal ehrlich, nicht mal ein Gespenst betrieb solch einen Aufwand für einen dämlichen Kaffeebecher mit Brüllhirschaufdruck!

„Die Schränke flogen auf, das ganze Geschirr auf den Boden ... Gesehen habe ich ihn da aber noch nicht!"

Irgendwo hatte ich mal was über die Materialisation von Geistern gelesen, über schwarze Schwingungen, Muster, sirupartige Gebilde. Insgeheim war ich froh, dass ich es nicht mit gallertartigen Fäden zu tun hatte, sondern der alte Scheck so schlau war sich in menschlicher Gestalt zu zeigen. Er hatte den Nebel gewählt, hatte sich für den Rauch entschieden. Das machte ihn als Spukgestalt ein Fünkchen sympathischer.

Erst jetzt entdeckte ich den großen siebenarmigen Kerzenleuchter im Fensterbrett. Hatte er schon die ganze Zeit über dort gestanden? Alle zehn Kerzen waren erloschen, mussten vor kurzem aber noch gebrannt haben, denn um die Dochte herum glänzte flüssiges Wachs.

Die Scheck hatte meine Blicke bemerkt.

„Hier haben wir gern gesessen. Abends, bei Kerzenschein, und haben uns eine Zigarette geteilt ..."

Ach du heiliger Bimbam, Frau Scheck war ja eine richtige Romantikerin! Harte Schale, butterweicher Kern. Womöglich vermisste sie ihren Gatten doch ein wenig!

Also der Kerzenrauch war es gewesen, den der alte Scheck sich zunutze gemacht hat. Nicht blöd! So viel Kreativität hatte er wahrscheinlich sein ganzes Leben lang nicht an den Tag gelegt.

Noch immer hielt Frau Scheck meine Hand umklammert.

„Er soll nicht wieder kommen, Herr Scholz! Auf keinen Fall soll er noch einmal ...!"

Mit eingezogenem Kopf und herausquellenden, rotgeränderten Augen sah sie sich in ihrer Küche um. Ihr Blick huschte an die Decke, auf den Boden, zur Tür und wieder zurück, als würde ihr Mann jederzeit erneut hereingeschwebt kommen, ihr eine Backpfeife verpassen und die Hirschtasse zurück verlangen.

Jetzt stierte sie mich an, Mitleid heischend.

Nein, auf gar keinen Fall. Kam gar nicht in Frage! Nie und nimmer würde ich die alte Scheck bei mir in der Wohnung übernachten lassen. Das konnte sie sich abschminken!

Wie sie jedoch so dahockte, geschah etwas mit mir. Etwas, das ich bei dieser Person nie und nimmer für möglich gehalten hatte.

Die Alte tat mir Leid. Ich bedauerte sie. Und plötzlich formten sich diese Worte in meinem Mund und fielen einfach so heraus, schneller als ich denken konnte.

„Ich kümmere mich darum, Frau Scheck!"

Und damit war es raus. Ganz offiziell. Ich war der gute Nachbar, der Retter in der Not. Es fühlte sich super an.

Frau Scheck griff nun auch noch nach meiner anderen Hand und drückte jetzt beide, immer abwechselnd und kräftiger als zuvor, ganz so als wolle sie Saft herauspressen.

In dieser Situation hätte ich sie bitten können, mir den Job des Hausmeisters zu übertragen, mir ihre Wohnung zu überschreiben oder ihr Dauerwellen-Abo bei Fritsch, dem Friseur, mit mir zu teilen, und sie hätte es anstandslos getan. Ein dankbareres Gesicht konnte man sich kaum vorstellen.

Na gut, vielleicht noch das Gesicht von Beauty, meiner Mutter, als ich ihr an meinem dreizehnten Geburtstag versprach, die süße Helga mit den blonden Zöpfen und den versoffenen Eltern nicht zu meiner Party einzuladen. Weshalb sie so dermaßen dagegen war, wusste ich nicht. Vielleicht hatte sie Angst, dass Helgas Eltern bei uns auftauchten und die Feier sprengten. Ich jedenfalls verabredete mich ein paar Tage später mit Helga hinter dem Fahrradschuppen unserer Schule, um noch einmal richtig mit ihr Geburtstag zu feiern. Noch heute erinnere ich mich an ihre köstlichen Küsse.

„Ich werde zu meiner Schwester gehen bis ..."

Was, von der Scheck gab es noch ein weiteres Exemplar?

„Sie wohnt am Rollberg. Ich rufe sie an!"

Munter sprang sie von ihrem Stuhl, wobei ihr der linke Hausschuh vom Fuß glitt und sie beinahe gestürzt wäre. Im letzten Moment hielt sie sich an der Tischkante fest. Das Blumenmuster der Plastikdecke verknautschte unter ihrem Gewicht.

Mit einem gequälten Grinsen wackelte sie aus der Küche hinüber ins Schlafzimmer, wo sie damit begann sich am Kleiderschrank zu schaffen zu machen. Wahrscheinlich packte sie sich eine Übernachtungstasche. Ich ging zur ihr.

„Kommen sie zurecht?" Ich wollte freundlich sein. Doch wenn Blicke töten könnten!

„Herr Scholz, den Wohnungsschlüssel lasse ich ihnen hier! Und die Nummer meiner Schwester, Moment!"

Sie ging zum Telefontischchen im Flur und schrieb etwas auf den kleinen Notizblock, ein Werbegeschenk von Fritsch, dem Friseur.

„Hier! Falls was sein sollte ...!"

Sie reichte mir den Zettel mit der Nummer ihrer Schwester. Ilse Bleckenstedt. 5254.

Ich verstand die Botschaft. Wenn die Luft hier wieder rein war, sollte ich sie anrufen und sie konnte zurück kommen. Gern durfte ich auch ab und zu einen Zwischenstand übermitteln.

Aber Amanda, wo war Amanda?

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