66. Come on, let's go to Sagapark!

Im Nebel längst vergessenen Wissens tauchten sie plötzlich auf, Bilder eines sich wild drehenden Kettenkarussells, die Gleise einer Kindereisenbahn, welche sich um Märchenfiguren aus Fiberglas schlängelten. Schneewittchen, Dornröschen, der weiße Hirsch, Rübezahl, Frau Holle, Rumpelstilzchen. Ein begehbarer Zwergenstollen, eine Wasserrutsche, eine kleine Achterbahn, in der man bis zu den Baumspitzen hinauffuhr, einen Moment über sie hinaus ins Tal hinab blicken konnte, um kurze Zeit später in rasantem Tempo wieder zur Erde hinabzustürzen. Eisbuden, Würstchenstände, ein riesiger Spielplatz, unheimliche, geheimnisvolle Trampelpfade durch den Wald, in dem sich Sagen- und Märchenfiguren aus Holz und Stein verbargen. Trolle, Riesen, Waldgeister, ein Drache, Riesenspinnen, Monsterameisen und manches mehr. Möglich, dass ich damals auf die Idee gekommen bin, eigene Pappmonster zu bauen.

Mein Herz schlug wie wild vor Aufregung und Ungeduld.

»Es gibt da einen Park, einen verlassenen Märchenpark, nicht weit von hier, eine halbe Stunde vielleicht. Ich war gerade eingeschult worden, als man ihn schloss. Lange her. Ein gespenstischer Ort! Als Jugendliche sind wir da manchmal ...«

Lisbeth legte mir ihre nach Asche duftenden Finger auf die Lippen und drückte mir einen feuchten Schmatzer auf die Stirn. Amanda maunzte leise, ob aus Zustimmung oder Eifersucht, wusste ich nicht zu sagen. Lisbeth jedenfalls war kaum noch zu halten. In einem Affenzahn faltete sie die Karte zusammen und drückte sie mir in die Hand. Dann spurtete sie nach vorn in die Fahrerkabine, wobei sie mit dem Ellenbogen einen Bücherstapel umwarf und ihre vollgeaschte Untertasse vom Tisch fegte, und klemmte sich hinter das Lenkrad. Unwirsch winkte sie mich zu sich.

»Na los, husch husch, keine Zeit verlieren! Du sagst mir, wo ich langfahren soll!«

Den Hinweis auf meinen Bulli, der noch immer auf dem Parkplatz stand, die darin verstauten Lebensmittel, Werkzeuge und Ausrüstungsgegenstände ignorierte sie geflissentlich.

»Brauchen wir nicht! Haben doch alles hier! Dies ist ein rollendes Haus inklusive Totalüberwachung. Alles drin, alles dran. Was wollen wir mehr? 90 PS, Outdoor-Bereifung, Spezialfederung, die allerneueste Bild- und Videotechnik. Damit könnten wir zum Mond fliegen, vielleicht sogar zum Mars!«

Ja, dachte ich, vielleicht sogar auf die andere Seite, in eine Welt, die keiner von uns beiden kennt, für die dieses kuriose Fahrzeug aber wie geschaffen scheint.
Ruckartig setzte Lisbeth den Wagen zurück. Ich traute mich kaum, in den Rückspiegel zu sehen. Die Kiste rumpelte in einem Affentempo aus dem Wald und hielt geradewegs auf die Plateaukante zu. Gerade als ich den Mund zu einem Schrei öffnete, bremste sie ab, legte den Vorwärtsgang ein und brauste über einen schmalen Forstweg, der mir bis eben völlig unbekannt war, ins Tal hinab. Hinter uns im Wagen piepte und surrte es. Ich blickte wieder in den Rückspiegel und sah, wie die Kameras, Abhörgeräte und Antennen eingefahren wurden. Lisbeth sah zu mir herüber.

»Da staunste, was! Alles vollautomatisch, alles vom Feinsten! Erkläre ich dir später, wenn wir diese Geschichte hinter uns haben!«

Ja, wenn es uns dann noch gibt, gerne. Lisbeths Optimismus tat mir gut. Er brachte ein wenig Licht in meine düsteren Gedanken. Irgendwann würden wir diese Geschichte hinter uns haben, an einem weit entfernten Tag, und dann würden wir die Sektkorken knallen lassen. Ich räusperte mich, lauter als es notwendig gewesen wäre.

»Und Sie haben, also Sie haben ...«

»Lisbeth, nenn mich einfach Lisbeth! Wir sind doch jetzt ein Team, Lupo!«

Sie lachte heiser, verschluckte sich fast dabei. Hätte bloß noch gefehlt, dass sie mir die Hand zum brüderlichen Schlag entgegenstreckte. Der Weg war uneben und voller Schlaglöcher, Lisbeth hatte schon Mühe, das Lenkrad bei dem Tempo mit zwei Händen unter Kontrolle zu halten.

»Also, du hast, was ich sagen will, du hast deiner Schwester die Karte doch geschickt?«

Tiefes Luftholen. Ein Husten. Typische Übersprungshandlung.

»Ja, mein Gott, ich habe ihr diese verdammte Karte geschickt. Schwesterlicher Leichtsinn. Dachte mir, so unter Verwandten, du weißt schon. Ist aber Monate her. Ist schon lange nicht mehr so harmonisch zwischen uns! Wo lang?«

Wir fuhren aus dem Wald heraus und gelangten auf eine breite Teerstraße. Wir konnten nach rechts oder links weiterfahren. Geradeaus ging es steil bergab. Ich sah auf die Karte.

»Rechts lang.«

Lisbeth beschleunigte so stark, dass die Räder durchdrehten und der Kies unter die Karosserie prasselte. Beinahe wäre Amanda mir vom Schoß geflogen.
Die Straße war schmal, viel zu schmal für ein Wohnmobil dieser Größe. Sollte uns ein anderes Auto entgegenkommen, würde es eng werden. Wir fuhren an einem Wasserfall vorbei, der sich über rabenschwarze Felsen ins nächtliche Tal hinabstürzte, überquerten knarzende Brücken, unter denen dunkles Wasser strudelte. Die Straße vollzog eine steile Kurve nach links, gewann zunehmend an Steigung und führte uns höher und höher, wie auf einer Spirale, um einen bewaldeten Berg. Der Motor des Wohnmobils röhrte und röchelte, tat aber sein Bestes. Trotz seiner beachtenswerten Ausstattung, für solches Gelände war dieses Fahrzeug nicht konstruiert.
Wir erreichten Schritttempo. Lisbeth begann zu knurren. Ich entschuldigte mich dafür, dass ich die Karte nicht richtig gelesen, unter Umständen sogar den falschen Weg angegeben hatte. Sie sagte nichts dazu, fuhr einfach weiter. Ich wertete das als Verzeihung.

»Und, kannst du Lyff noch hören? Will sie uns nicht noch ein paar Hinweise schicken?«

Ich sah hinaus. Der Wald lichtete sich. Ich sah die Sterne, sah neblige Wolkenfetzen, die am Mond vorbeifegten. Wiederholt versuchte ich, das Walki-Talki wieder zum Sprechen zu bringen, während Lisbeth das Wohnmobil am Laufen hielt, sich bemühte, den Motor nicht absaufen zu lassen, bevor wir den Berggipfel erreicht hatten.
Ich drückte wild auf irgendwelche Knöpfe, drehte an Reglern, öffnete das Batteriefach, klopfte die Batterien heraus, setzte sie wieder ein, drehte noch einmal hier, drückte noch einmal dort. Nichts. Das Gerät war im Eimer. Lisbeth war alles andere als begeistert.

»Na, du Kartenleser, dann sag mal an, wie's weitergeht!«

Wir hatten die Kuppe des Berges erreicht. Unter uns dunkle Täler und Schluchten, Abermillionen schwarzer Baumkronen. Das Mondlicht tauchte die Umgebung in ein unwirkliches, knochenbleiches Licht. Lisbeth bremste den Wagen auf einer Kreuzung, stellte den Motor ab und schaltete die Scheinwerfer aus.
Dunkelheit. Stille. Unendliche Ruhe.
Ich öffnete die Tür und lies ein wenig Luft herein. In der Tiefe des Waldes schrie ein Käuzchen. Rechts von uns stand eine grob gezimmerte Schutzhütte, daneben ein Wegweiser. Lisbeth beugte sich zu mir herüber und schaltete die Innenbeleuchtung über meinem Kopf an.

Der Ort, nach dem ich suchte, war auf der Karte nicht verzeichnet, auch wenn sie schon ein paar Jahre auf dem Buckel hatte. Es war über 20 Jahre her, dass der Sagapark seine Pforten schloss. Als Jugendliche hatten wir das verlassene Gelände noch einmal besucht, zusammen mit Sophie und Kristin, denen wir mal zeigen wollten was echte Kerle sind.
Jeder in der Gegend wusste, weshalb der Park schließen musste und jeder erzählte eine andere Version der Geschichte. Eine Version handelte von katastrophalen hygienischen Zuständen im Parkrestaurant. Käfer im Salat, Asseln in der Pommessauce. Eine andere Version drehte sich um Missmanagement, Unterschlagung, Streit zwischen den Mitgliedern der Inhaberfamilie. Man erzählte sich wilde Geschichten über die Schönborns, die so sehr mit dem Park verwachsen waren, dass sie sich sogar ein Wohnhaus am Rande des Geländes errichten ließen.
Eine dritte Version handelte von verschwundenen Kindern. Mindestens drei sollten es gewesen sein, damals, Mitte der Sechziger Jahre. Die Schuld schob man den Schönborns in die Schuhe. Beide Söhne, Martin und Michael, sollten angeblich nicht alle Tassen im Schrank gehabt haben.
Summa summarum, es geisterten diverse Geschichten über den Park durch die Welt. Die Besucherzahlen sanken von Monat zu Monat, stürzten schließlich ins Bodenlose. Irgendwann war Schluss.

Ich mochte übrigens die dritte Version am liebsten.

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