62. Misstrauen und Gestammel
Ich rutschte vom Bett und taste mich durch das Innenleben des Wohnmobils, das nach meiner Auffassung nichts mehr mit einem gewöhnlichen Wohnmobil zu tun hatte. So gut wie alles Wohnliche war daraus verschwunden. Ein Herd, ein Kühlschrank, eine Spüle, ein Klo, eine gemütliche Sitzecke, Vorhänge und so weiter. Stattdessen herrschte die Technik. Bildschirme, Kabel, Steckdosen, Schaltknöpfe, Regler, Displays, Anzeigefelder. Das alles erinnerte mich an eine geheime Einsatz- oder Überwachungszentrale, und wenn ich mich richtig erinnerte, passte das ganz gut zu Lisbeths selbstgewählter Mission, dem Aufspüren und Jagen übernatürlicher Wesen. Da hatte sie sich mit der Mönchshöhe ja genau den richtigen Ort ausgesucht.
Was würde ich finden, auf was würde ich stoßen, fragte ich mich, wenn ich all diese Ordner in den Regalen durchblätterte, die Schubladen aufzog und durchwühlte, die Magnetbänder abhörte und sichtete? Würde ich danach jemals wieder ruhig schlafen können? Ich dachte an Filmaufnahmen und Geräusche von Geistern, Dämonen, zwergartigen Gestalten und Trollen, Fotos und Stimmen von Waldelfen, Riesenzecken, Giganto-Würmern und Baumgespenstern, und ich war mir sicher, dass meine Fantasie nicht ausreichte, um mir auch nur im Entferntesten auszumalen, welche anderen Höllenwesen aus den Untiefen der Mönchsklippen zu uns herauf gekrochen waren und es in Zukunft weiterhin tun würden.
Meine Geschichte mit Feuer-Scheck musste ich Lisbeth unbedingt erzählen, das würde sie beeindrucken, ihr die Skepsis nehmen, ihr endgültig klar machen, dass wir auf derselben Seite kämpften. Ich konnte ihn, sobald sich die Gelegenheit dazu ergab, für ihn heraufbeschwören und sie konnte ihn filmen, abhören, vermessen, Proben nehmen, was auch immer sie für ihre Forschungen benötigte.
Das meiste der im Wagen verbauten Technik hatte ich vorher noch nie gesehen. Dabei kannte ich mich ein bisschen aus. Ich fotografierte schon seit vielen Jahren, reparierte meine Kameras eigenständig, entwickelte alle Filme und Bilder selbst und hatte mir ein Nachtsichtgerät mit integriertem Fotoapparat aus Schrottteilen vom Flohmarkt gebaut. Gern hätte ich auch eine Filmkamera integriert, doch das war preislich und letzten Endes auch technisch nicht drin gewesen.
Lisbeth hingegen schien Lösungen für ihre Ansprüche gefunden zu haben. Oder verfügte sie über das nötige Kleingeld und musste den Finger nicht rühren, was ich mir bei ihrem Job ehrlich gesagt nicht vorstellen konnte? Welche Funktion erfüllten diese riesigen dunklen Kassetten dort im Regal, feinsäuberlich in Kartonschubern verstaut, jede mit einem Aufkleber versehen, auf denen kryptischen Zeichen und eine mir unverständliche Nummerierung vermerkt waren? Groß wie Backsteine waren sie. Ich zog eine davon heraus und betrachtete sie genauer.
Schwarzer Kunststoff, in der Mitte ein Sichtfenster, durch das ich zwei Spulen erkannte. Unten eine Art Klappe mit einer Inschrift. Insert this side into the recorder. Do not touch the tape inside. VHS. Das machte mich neugierig. Die Klappe war schwer zu öffnen, doch als ich ein winziges Knöpfchen an der Seite drückte, schnappte sie auf und gab den Blick auf das Innenleben frei. Ich erblickte das breiteste Magnetband, das ich je gesehen hatte. VHS. VHS. Irgendwo in meinem verwirrten Hirn begann etwas zu läuten. Hatte Sven nicht neulich was von einer Neueröffnung am Markt gefaselt, einem Geschäft, in dem man VHS-Kassetten leihen konnte? Was hatte er damit gemeint? Es fiel mir nicht ein.
Ich war gerade dabei, die Klappe wieder zuzudrücken, als ich das Surren des Türschlosses hörte. Vor Schreck ließ ich die Kassette zu Boden fallen, wo sie mit einem scheppernden Splittergeräusch aufschlug. Geistesgegenwärtig schon ich sie mit der Schuhspitze unter eins der Regale. Eilig hastete ich zurück zum Bett und fläzte mich so unauffällig es ging neben die schlafende Amanda.
Die Eingangstür schwang auf und schlug mit einem ohrenbetäubenden Knall gegen die Außenhaut des Wohnmobils. Eine wütende Lisbeth wuchtete sich zu mir herein, auf dem Rücken meinen mit Walderde beschmutzten Rucksack. Mir rutschte das Herz in die Hose, warm, weich, pulsierend. Lisbeth verharrte regungslos in der Türöffnung, ließ mich ihre Präsenz spüren und spielte mit meiner Angst. Hasserfüllt starrte sie auf mich herunter. Der Zigarrenstummel hing erloschen in ihrem Mundwinkel. Ich sah das Tarnmuster ihrer ausgebeulten Hose und die frisch gefetteten Springerstiefel.
Wie um alles in der Welt hatte ich glauben können, dass Lisbeth die zartere, freundlichere, zugänglichere der beiden Schwestern war? Pustekuchen. Wenn ich dieser fiesen Geschichte auch nur annähernd lebendig entkam, so würde ich jeden Pfennig, jeden Groschen meines Honorars einzeln abküssen, täglich mehrmals polieren und in einer eigens dafür angefertigten Vitrine zur Schau stellen. Als Erinnerung. Als ewige Mahnung.
Lisbeth zog die Tür mit einem Scheppern ins Schloss, verriegelte sie (wieder entging mir, wie sie das vollbrachte), stieß mir mit der Pranke gegen die Stirn, so dass mein Kopf zurückflog und mein Genick leise knackte und stiefelte zurück zu ihrem Drehstuhl, ohne mich auch nur einen einzigen Moment aus den Augen zu lassen. Wie Captain Kirk saß sie da, breitbeinig, den Kopf leicht nach hinten gebeugt, die Siegesgewissheit ins Gesicht gemeißelt, auf dem Weg zu unbekannten Welten. Wie passend.
Sie zog den Rucksack auf ihren Schoß, klopfte ein wenig Dreck ab und zog den Reisverschluss auf. Nacheinander zog sie das zerbrochene Walki-Talki, die Taschenlampe, meine Nahrungsreserven und die Wanderkarte heraus und legte alles sorgfältig neben sich auf den Schreibtisch.
„Ein Wanderer willst du also sein! Ein Wanderer mit Katze. Nachts. Ungewöhnlich. Wahrscheinlich hast du dich verlaufen, bist aus Versehen hier hinaufgelangt, zur Mönchshöhe, diesem sehr unschönen Ort!"
Ich wagte ein Lächeln.
„Ja, verlaufen. So ist es. Habe eigentlich den See gesucht. Wollte baden."
Jetzt grinste Lisbeth, nahm den Zigarrenstumpen aus dem Mund und legte ihn auf einer fleckigen Untertasse ab.
„Baden? Ohne Badehose? Im Dunkeln?"
„Allein bade ich ganz gern nackt!"
Wieder lächelte sie. Ob aus Belustigung oder Arroganz, konnte ich aus der Entfernung nicht erkennen.
„Keine Angst vor dem geist des ertrunkenen Mädchens? Ach, wie hieß sie denn noch?"
„Melanie!"
„Wie aus der Pistole geschossen! Nicht schlecht. Weißt du etwa mehr darüber?"
„Nein."
„Verstehe. Und das Handtuch? Im Rucksack ist kein Handtuch!"
Sie legte die Hände über einander. Einer ihrer Ringe reflektierte das Licht des Monitors. Smaragdgrüne Blitze. Klein und fies. Ich merkte, wie ich zu haspeln begann. Oh, wie ich mich selbst hasste!
„Bei der Wärme, äh, der Wärme draußen ist man im Nullkommanichts trocken!"
Lisbeth presste ihre Kiefer aufeinander und ließ die Zähne knirschen. Sie beugte sich nach vorn und ich rechnete schon damit, dass sie aufspringen und mir Amanda erneut entreißen würde. Doch sie tat es nicht.
„Verarsch mich nicht! Verdammt, verarsch mich bloß nicht!"
Sie versenkte ihren Arm bis zum Ellenbogen in meinem Rucksack, zog ihn wieder heraus und hielt mir die Postkarte zwischen Zeige- und Mittelfinger entgegen. Sie zitterten keinen Millimeter. Ihre Nasenlöcher blähten sich, die Kiefer mahlten.
„Wer bist du? Was willst du hier? Und was bedeutet diese bescheuerte Karte?"
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