56. Walki-Talkie-Alptraum

Ich öffnete die Augen. Mein erster Gedanke: So kann ich Sven den Bus nicht zurückgeben! Graue Schleier waberten vor meinen Augen. Ich wischte sie mit einer Handbewegung davon. Amanda hatte ihren Kopf auf meinen Arm gelegt und leckte mir das Fell. Sie sah aus wie immer. Heller Kopf, dunkles Fell, zartrosa Zunge. Die Engelskatze war fort.
Ich richtete mich auf und sah mich um. Die Lauenstein-Brüder waren verschwunden, mit ihnen der schwarze Transporter. Das Lenkrad des Bullis war versengt, ein Stück fehlte, als hätte jemand davon abgebissen. Ich drückte auf die Hupe. Kaputt. Die Sitze sahen zerrupft aus. Überall klafften tiefe Brandlöcher. Die Frontscheibe auf der Beifahrerseite war geborsten. Ein milder Luftzug strich herein. Ich kletterte aus dem Wagen und überprüfte die Türen. Obwohl sie schief in den Scharnieren hingen, ließen sie sich schließen. Prima.

Und ich? Was war mit mir? Ich blickte an mir herunter. Ein paar Ascheflocken auf der Hose, ein Brandloch im Shirt. Das war alles. Ich griff mir an den Hals. Mein Talisman war wieder an Ort und Stelle. Die Stimme der weißen Katze klang mir noch in den Ohren.

„Im Schwinden dein Sein,
nimm rasch ab den Stein!
Verrühre das Grau, das Schwarz und das Weiß,
bilde den Kreis, forme die Kraft,
entfessele die Macht!"

Das musste ich mir dringend merken.
Vor dem linken Vorderreifen fand ich einen zerbrochenen Gehstock, daneben mehrere Stofffetzen. Ich hob beides auf und legte es in den Bulli. Relikte des Sieges. So ganz schadlos schienen die Lauensteins nicht davongekommen zu sein. Das freute mich und verschaffte mir mit etwas Glück eine Verschnaufpause. Bevor die Sonne unterging, wollte ich ein sicheres Versteck gefunden und vielleicht schon Lisbeth Schlesingers Spur aufgenommen haben.
Ich brauchte eine Straßenkarte, um die nächsten Schritte zu planen. Die Schiebetür des Bullis stand einen Spalt weit auf, was mich verwunderte. Hatte ich sie bei Mama Beauty nicht verschlossen? Hatten sich die Lauenstein-Brüder an meinen Sachen zu schaffen gemacht? Ich sichtete die zerwühlten Decken, die zur Seite geschobenen Reisetaschen. Der Beutel mit Lebensmitteln war ausgeleert worden. Dosensuppen, Packungen mit Müsli und Haferflocken, haltbare Milch, eine Mettwurst, alles lag im Wageninneren verteilt. Amanda, hast du das angestellt? Ich wühlte hier und da, hob dies und jenes an, schob es zur Seite, räumte es nach hinten und fand schließlich die abgegriffene Harzkarte.
Zurück hinterm Steuer faltete ich sie auseinander und suchte den schnellsten Weg durch die Wälder, hinauf zum nächstgelegenen Campingplatz Söseblick. Hier wollte ich meine Suche nach Lisbeth beginnen.
Amanda hatte sich auf dem Beifahrersitz zusammengerollt. Plötzlich wurde sie unruhig. Unter ihr begann es merkwürdig zu knarzen und zu knacken. Keine weitere Verwandlung, bitte! Kein Kraftfeld, keine Mutation, es reicht! Amanda erhob sich und kletterte auf meinen Schoß. Die Straßenkarte riss entzwei. Wieder ein Knarzen, gefolgt von einem Rauschen, dann eine Stimme. Sie kam aus einem Walki-Talki auf dem Beifahrersitz. Ich hatte es noch nie zuvor gesehen. Wer hatte das Gerät dort hingelegt?
Ein grünes Lämpchen begann zu leuchten.
„Hallo?"
Ich nahm das Gerät und hielt es mir ans Ohr. Ein Fiepsen, ein Quietschen und eine verzerrte Mädchenstimme bissen mir in die Hörmuschel.
„Hallo!", kreischte es erneut.
Ich kannte diese Stimme, doch woher? Und wollte ich mich damit überhaupt beschäftigen, nicht vielmehr auf dem schnellsten Weg verduften?
„Halloooo!"
Es fiel mir wie Schuppen von den Haaren. Das Mädchen mit den Eisenskulpturen und der Monsterzahnspange! Lyff, Frau Schecks Enkelin! Das konnte nicht sein!
„Lyff?"
Ein gedämpfter Freudenschrei am anderen Ende.
„Du lebst! Lupo, du lebst! Wie geil ist das denn? Ich fasse es nicht, du bist am Leben! Lichtball. Bumm. Bäng. Weiße Katze."
Ich probierte es mit Ernst in der Stimme.
„Hast du mir das Walki-Talki hiergelassen?"
„Klar! Echte Detektive machen sowas!"
„Aber wie, Lyff? Wann?"
„Dachte mir, du kannst vielleicht meine Unterstützung gebrauchen. Sitzt ja scheinbar ganz schön in der Klemme. Ich sage nur, drei Geistertypen im Anzug, Lichtball, Bumm, Zack, weiße Katze."
Ich spürte, wie ich die Geduld verlor.
„Weshalb warst du hier? Woher wusstest du ...? Weißt du eigentlich wie gefährlich ...!"

Dann plötzlich wurde mir alles klar. Die zerwühlten Decken, die nervöse Amanda, ausgeschüttete Lebensmittel. Lyff, die zukünftige Kriminalkommissarin, hatte sich in meinem Bulli versteckt. Blinde Passagierin. Das würde mir Frau Scheck niemals verzeihen.
„Ich habe jetzt keine Zeit für irgendwelche Spielchen, Lyff. Ich muss dringend weg. Das hier ist kein Räuber und Gendarm, das ist blutiger Ernst!"
Meine Worte klangen nicht mehr freundlich.
„Ich lege jetzt auf, hörst du, ich lege jetzt auf, und du sagst deiner Oma, dass du Mist gebaut hast und das nie wieder vorkommt, hörst du!"

Lyffs Stimme war nur noch ein Flüstern, als wolle sie unter keinen Umständen gehört werden. Im Hintergrund polterte es. Ich hörte einen Motor brummen.
„Die haben hier so Gitterzellen. Eine junge Frau und ein Junge sind da drin."
„Was meinst du damit?"
Keine Antwort.
Ich brüllte vor Verzweiflung.
„Lyff? Du bist nicht zu Hause? Wo verdammt nochmal steckst du?"
Ich krallte meine Hände in die zerrissene Straßenkarte.
Wieder ein Poltern. Gegenstände schlugen aneinander. Ich hörte jemanden wimmern. Und die ganze Zeit über: Motorengeräusch. Die Sache schien klar, Lyff saß in einem Fahrzeug, einem Fahrzeug mit Gitterzellen. Was sollte das? Wieder knisterte es im Walki-Talki, dann flüsterte jemand Lyff am anderen Ende etwas zu. Lyff gab die nachricht an mich weiter.
„Die junge Frau hier, kurzes blondes Haar, Stupsnase, sagt, sie kennt dich."
Wieder ein Wispern, gezischte, undeutliche Worte.
„Sie sagt, sie heiße Mara."

Ein Abgrund tat sich auf. Tief, dunkel, feucht, an den Wänden scharfe Klingen, Widerhaken, schnappende Mäuler. Alles um mich herum, der Bulli, der Bauwagen, die Straße, die Siedlung, der Himmel, alles stürzte mit einem ohrenbetäubenden Getöse hinein. Mara? Mara war auch in dem Fahrzeug?
„Lyff, du bist doch nicht etwa in den schwarzen Transporter geklettert!"
Schweigen am anderen Ende. Doch, genau das war sie. Lyff saß im Gefängnisbus der Gebrüder Lauenstein, wusste der Geier warum.
„Habe mich in einer Kiste versteckt. Kriege schlecht Luft. Muss eine Detektivin aber aushalten!"

„Lyff, du bist keine Detektivin, keine Ermittlerin! Verdammt, du bist ein 13-jähriges Mädchen auf Sommerurlaub! Was soll der Scheiß?"
War das ein Kichern am anderen Ende? Wer würde mir glauben, wenn ich behauptete, dass ich für den qualvollen Tod der kleinen Lyff Scheck nichts konnte, alles nur ein dummes Versehen war, dass sie sich den ganzen Schlamassel selbst eingebrockt hatte? Vermutlich niemand, nicht mal meine eigene Großmutter.
„Bleib, wo du bist, hörst du! Keine weiteren Alleingänge!"
„Aber ich musste doch rauskriegen, wohin die Typen ..."
Knister. Quietsch. Krissel.
„Nein, Lyff! Nein, nein, nein!"
„Du bist nicht mein Vater!"
„Trotzdem nein!"
„Auch nicht, wenn ich rauskriege, wohin sie fahren?"

Dieses kleine Miststück hatte mich in der Hand. Mara war bei ihr und natürlich musste ich wissen, wohin die Lauenstein-Brüder mit ihr fuhren. Warum und weshalb hatten sie sie eigentlich gekidnappt? Mein Verstand wehrte sich gegen die naheliegendste Lösung.
Nein, das konnte nicht sein!
Das hätte ich gewusst!
Ich hätte es mitbekommen, irgendwie, aber ich hätte es mitbekommen!

Mara war ein Wittich?

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