55. Die stärksten Bäume von allen

Mit 80 Stundenkilometern durch ein Wohngebiet, das war grenzwertig. Mein schlechtes Gewissen meldete sich zu Wort. Doch was blieb mir anderes übrig? Sollte ich mich von den psychopathischen Lauenstein-Brüdern einfangen lassen? Amanda verkrallte sich in ihrer Decke und maunzte vor sich hin. Der Bulli ächzte und stöhnte. Ich konnte noch so sehr auf dem Gaspedal herumtreten, es bis zum Anschlag und darüber hinaus malträtieren, Svens Kiste gab einfach nicht mehr her.
Die staubige Straße vor mir war von tiefen Schlaglöchern durchzogen. Ich musste ihnen ausweichen, wollte ich keinen Unfall riskieren. Das verlangsamte meine Fahrt, was mir nicht passte. Kein anderer Wagen vor mir. Sehr gut. Noch drei Seitenstraßen, alle ohne Vorfahrt, auch gut. War ich an ihnen vorbei, hatte ich es geschafft, dann rein in die letzte Kurve und raus aus der Siedlung.
Am linken Straßenrand tauchte plötzlich ein Mann auf. Er war betrunken, das sah ich an seinem Gang. Ich fuhr näher heran und erkannte Horst, Mamas Lover. Um den Hals trug er einen Fan-Schal des SV Grubenhagens. Einen winzigen Moment lang erwog ich, Horst nach Hause zu bringen, da er sich kaum noch auf den Beinen hielt, als er plötzlich stolperte und auf die Straße fiel. Ich riss das Steuer nach links. Hinter mir hörte ich ein Aufstöhnen. War das Amanda gewesen? Der Bulli schlingerte von der Fahrbahn, rumpelte über ein Stück Wiese, durchfurchte einen Haufen Baukies, als ich endlich meinen Fuß auf die Bremse hämmerte und den Wagen kurz vor einem alten Bauwagen zum Stehen brachte.
Ich sprang aus dem Bus und sah zur Straße hinüber. Horst hatte sich schon wieder hochgerappelt und torkelte nun zurück zum Straßenrand, wo er sich auf einen Zaunpfahl stützte. Was sollte ich tun? Ich konnte Horst mitnehmen und ihn später, wenn die Luft rein war, nach Hause bringen. Ich konnte ihn aber auch laufen lassen und darauf hoffen, dass er heil bei Mama Beauty ankam. Soweit ich wusste, war es nicht das erste Mal, dass Horst nach einem Fußballspiel ein paar Bierchen zu viel gekippt hatte.
Was hatte meine Oma immer gesagt? Wer viel denkt, den holt der Teufel. Was war meine Oma, eine Prophetin? Ein Motor heulte auf, Kies knirschte. Wo kam der schwarze Transporter plötzlich her? Weshalb bremste er nicht ab, sondern raste mit dieser affenartigen Geschwindigkeit auf mich zu? Ich sprang zur Seite, knallte dabei mit der Schulter gegen den Bauwagen, ging zu Boden, rappelte mich wieder hoch und rannte, so schnell es irgend ging, zurück zum Bulli.
Amanda war auf den Beifahrersitz gesprungen und fauchte, als gäbe es kein morgen. Ihr ganzer Kopf bestand aus aufgerissenem Maul und gefährlich blitzenden Fangzähnen. Ich versuchte den Motor zu starten, doch meine Hand zitterte zu sehr. Ich versuchte es wieder. Amanda stierte nach draußen und fauchte jetzt noch heftiger. Ihr feindseliger Atem fegte mir über die Wange.
Der schwarze Transporter schlitterte mit einer Vollbremsung vor den Bulli und versperrte mir den Weg. Drei käsebleiche Gesichter starrten mir voller Hass entgegen. Die drei Horror-A's. Adam, Absolom und Abraham. Die Lauenstein-Brüder.
Langsam und bedächtig, als müssten sie sich erst auseinanderfalten, kletterten sie aus dem Wagen, schlossen sorgfältig und ohne Hast die Türen, ohne mich bei all dem auch nur ein einziges Mal aus den Augen zu lassen. Was waren das für Wesen? Waren sie menschlich? Hätte ich sie nicht schon als kleine Jungen um Pastor Lauenstein herumwuseln sehen, ich hätte es bezweifelt.
Hektisch stocherte ich mit dem Autoschlüssel im Zündschloss herum, versuchte ihn wieder hineinzuschieben. Es gelang mir nicht. Die Fahrertür wurde aufgerissen, eine bleiche Hand griff nach meinem Arm. Ich riss mich los, hechtete auf den Beifahrersitz, stieß dort die Tür auf und fiel einem weiteren Lauenstein-Bruder direkt in die Arme. Amanda sprang aus meinem Blickfeld. Ich hörte messerscharfe Krallen in Anzugstoff schlagen und schrie dabei blödes, verzweifeltes Zeug.
„Was wollt ihr von mir? Finger weg! Welche Anmaßung!"
Als Antwort nichts als ein eiskaltes Rauschen, der größtmögliche Kontrast zu einem so warmen Sommertag wie dem heutigen.
„Wir sind im Namen des Herrn unterwegs, Lupo Scholz, das solltest du wissen. Heute ist Otte-Tag, heute ist Wittich-Jagd!"
Der Lauenstein-Bruder hechelte mehr, als dass er lachte. War es Adam oder Abraham? Sie sahen sich alle so ähnlich! Plötzlich begannen sie z dritt Ottes dummdreistes Holpergedicht zu rezitieren.

„Einer hinein, ein andrer hinaus,
so ist es schon seit ew'gen Zeiten."

Ein schwarzer Gehstock mit Silbergriff sauste an meinem Gesicht vorbei und traf mich kurz darauf mit voller Wucht in die Magengrube. Ich krümmte mich nach vorne, saure Soße stieg mir durch die Speiseröhre. Ich röchelte.

„Der Wittich greift nach deinem Haus,
will Einfluss seines Reiches weiten."

Wieder ein Hieb. Dieses Mal in den Nacken. Die Sinne schwanden mir. Ich kippte zur Seite. Weiche Pfoten auf meinem Arm, eine kleine feuchte Nase an meinem Hals. Zartes Knabbern an meinem Talisman. Das Lederband, der Bernstein, sie rutschen über meinen Kopf, sind plötzlich verschwunden. Amanda, was tust du!

„Komm zu mir Wittich!
Kriech unter meinen Fittich!"

Ich lag noch immer im Fahrerraum des Bullis. Die Füße zwischen den Sitzen, der Kopf merkwürdig verrenkt im Fußraum, gleich neben Bremse, Gaspedal und Kupplung. Doch ich sah mich von außen in einer Welt aus Schwarz und Weiß und Grau, grellen Lichtern und scharfen Schatten.
Ascheland.
Die faltigen Schemen der Lauenstein-Brüder prügelten auf meinen Körper ein, schwangen wieder und wieder ihre heiligen Gehstöcke, ließen nicht ab. Schmerz spürte ich keinen.
Rauer Wind in den Ohren, der niemals nachlässt, Bildstörungen in der Luft, unwirkliches Zittern im Augenwinkel. Amanda hockte vor mir, schneeweiß vom Kopf bis zur Schwanzspitze, ein friedliches Leuchten umgab ihren schlanken Körper. Im Maul trug sie den Talisman. Sie sprach mit einer zuckersüßen Stimme, die süßer klang als Maras Stimme.

„Im Schwinden dein Sein,
nimm rasch ab den Stein!
Verrühre das Grau, das Schwarz und das Weiß,
bilde den Kreis, forme die Kraft,
entfessele die Macht!"

Ich hatte Kunst studiert, ich wusste wie man Farben mischt. Also griff ich hierhin und dorthin, in diese Fläche und jene Kontur, zog Schatten heran, mischte Licht hinzu. All das tat ich ohne nachzudenken, intuitiv, wie ferngesteuert. Gleichzeitig wusste ich in jedem Moment genau, was ich wie zu tun hatte. Vor meinen Augen bildete sich ein Kreis aus Staub und Grau und Licht, klein zunächst, dann größer, rotierend um sich selbst. Der Kreis wölbte sich, stülpte sich aus wie eine Seifenblase, wuchs weiter bis er als gleißender Lichtball den Fahrerraum des Bullis ausfüllte.
Ich sah Amanda die Krallen ausfahren und nach oben strecken. War das ein Grinsen in ihrem Katzengesicht?

Spitzes Funkeln. Entsetzte Lauenstein-Grimassen, vor Überraschung verzerrte Gesichter.

Dann ein Blitz, heller als alle Sonnen, ein lautloses Bersten, ein mächtiges Auseinanderstreben, pure Explosion. Und mittendrin ich, neben mir die weiße Amanda. Alles um uns herum fliegt, zerspringt, wird zu Boden gedrückt, in die Weite geschleudert, nur wie beide bleiben, wo wir sind, eingewurzelt wie die stärksten aller Bäume.

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