54. Otte-Tag


Draußen, vor den Scheiben des Wintergartens, war es bereits dunkel geworden. Eine Amsel hüpfte über das gemähte Gras, blieb stehen, rammte den Schnabel in die Erde, hob den Kopf, glotzte blöd zu uns herein und sprang plötzlich aus meinem Blickfeld, so schnell, als hätte ein Loch sie verschluckt.
Ich spürte die Wirkung des Kaffees. Vier Tassen nach fünf Uhr nachmittags, das war zu viel für mich! Ich fühlte mich kribbelig, gleichzeitig schläfrig. War es in Ordnung, bei Mama Beauty herumzuhocken und sich Fantasiegeschichten über Grubenhagen, Nazis und Monster-Wunder-Waffen anzuhören? Sollte ich nicht längst wieder im Bulli sitzen und nach Lisbeth Schlesinger suchen? Ach, beruhigte ich mich, nur noch ein halbes Stündchen, dann breche ich auf. Lisbeth ist schnell gefunden. Leicht verdientes Geld, wie gehabt. Wenn sie tatsächlich jemanden kennengelernt hat, wie es aussieht meinen leiblichen Waldgeistvater, dann ist doch alles in Ordnung. Er ist bestimmt ein prima Kerl. Schließlich bin ich nicht schlecht geraten. Meiner Mutter hat er kein Haar gekrümmt, dann wird er auch Lisbeth gut behandeln! Mein Vater, ein modriger Stecher von der anderen Seite. Ich versuchte diese Tatsache so gut es ging zu verdrängen.

Mit welch hanebüchenen Erklärungen ich mich zu beruhigen versuchte! Verrückt! Innerhalb eines Monats war mein so wunderbar gefügtes Weltbild in sich zusammengestürzt. Geblieben war mir nicht viel mehr als ein rauchender Trümmerhaufen.
Mir fiel Amanda ein, die ich schon viel zu lange im Bulli hatte warten lassen. Bestimmt war sie durstig und musste ihr Geschäft verrichten.

Ich ging hinaus und lugte durch das Seitenfenster des Busses. Amanda stand kerzengerade auf dem Deckenberg und starrte mich an. Ihre Beine waren durchgedrückt, mir war als höre ich sie knacken, ihr Rücken war zu einem schrecklichen Buckel verformt. Sie fauchte mich an. Das hatte sie noch nie getan. Ihre weißen Eckzähne blitzten in der Dunkelheit. Mein schlechtes Gewissen meldete sich schmerzhaft zu Wort. Ich hatte Amanda zu lange allein im Wagen gelassen, zudem war ihr Kopf war schwarz angelaufen. Das bedeutete nichts gutes!
Hatten die Decken vorhin nicht woanders gelegen? Hatte Amanda sie so zerwühlt? Ich lief zurück ins Haus. Es war Zeit aufzubrechen.
Mama Beauty kam mir mit einer großen Frischhaltebox entgegen.
„Ein paar Waffeln für unterwegs!"
Sie blickte mich traurig an, als wollte sie sagen: Bleib lieber hier, ist besser, ich habe dir in deinem Zimmer das Bett frisch bezogen, eine Wärmflasche und warmen Kakao bringe ich auch gleich.

„Heute ist der Otte-Tag, pass gut auf dich auf, Lupo!"
Otte-Tag? Was meinte sie?
„Hat der was mit Hermann Otte, dem Nazi-Pastor, zu tun?"
Mama Beauty nickte stumm.
„Leider. Was weißt du von ihm?"
„Genug, um zu wissen, dass er ein echter Unhold war. Hat ein Buch geschrieben und hasste Wittiche."
Ich zitierte den Titel. Sie sind unter uns! Wittiche erkennen, testen und unschädlich machen. Ein praktischer Ratgeber von Pastor Hermann Otte.

Mama schob mich in Richtung des Bullis.
„Du weißt, ich hätte dich gern länger bei mir, doch du musst los. Am Otte-Tag lassen sich die Lauensteins gern fiese Aktionen einfallen. Fackelzüge, nächtliche Feiern an der Mönchshöhe, oder sie stehen nachts einfach so vor deiner Tür. Der Tag verlief bisher ruhig, doch das muss nicht so bleiben. Mach, dass du loskommst. Ich habe ein mulmiges Gefühl, auch die Karten sagen nichts gutes."
Mama öffnete für mich die Fahrertür, legte die Waffelbox auf den Beifahrersitz und drückte mir einen Schmatzer auf die Wange.
„Pass auf deinen Talisman auf, lege ihn nicht ab, behalte ihn immer um den Hals, er wird dich beschützen, und wenn du wissen willst, wie du ihn gebrauchen kannst, suche nach Tonja, der Kräuterfrau."

Tonja, die Kräuterfrau. Ging es nicht genauer?
Ich ließ Amanda aus dem Bus springen und sah sie in einem nahen Gebüsch verschwinden. Wenig später kam sie zurück, der Kopf noch immer rabenschwarz. Meine Mutter beugte sich zu Amanda hinunter und streichelte ihr das Köpfchen.
„Na, meine Süße, pass gut auf Lupo auf, hörst du! Und wenn ihm etwas passiert, dann kommst du zu mir!"
Amanda sah Mama Beauty an und maunzte leise, als hätte sie verstanden.

Tausend Fragen brannten mir auf der Zunge, doch jetzt war es Zeit aufzubrechen. Otte-Tag, Familie Lauenstein, die irgendwas im Schilde führte, Amandas verfärbter Kopf, Mamas sorgenvolle Blicke. Alles deutete darauf hin, dass ich hier nicht sicher war und mich so schnell es ging aus dem Staub machen sollte.
Amanda lag wieder auf ihrem Deckenberg. Ich zog die Tür zu und startete den Motor, als am Ende der Straße zwei Scheinwerfer aufleuchteten. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Jemand hatte das Haus beobachtet, hatte gewartet bis ich es verließ und in den Wagen stieg. Wer dieser Jemand war, daran gab es für mich keinen Zweifel. Die Lauenstein-Brüder. Sie begingen den Otte-Tag mit einer Wittich-Jagd. So ruhig der Tag begonnen hatte, so turbulent würde er enden.

Ich warf Mama Beauty eine Kusshand zu und fuhr die Straße in entgegengesetzter Richtung hinunter, weg von den Scheinwerfern, weg von den Lauenstein-Brüdern. Ich wusste nicht, wie schnell ein Bulli fahren konnte, doch ich hoffte, vor meinen Verfolgern auf die Hauptzufahrtsstraße zu gelangen und vor ihnen die Siedlung zu verlassen. Wenn das nicht klappte, dann sah es finster für mich aus. Amandas Krallen würden nicht ausreichen, meine Kampfkünste hielten sich in Grenzen. Alle anderen Optionen schieden von vornherein aus. Es gab nur eine Lösung: Gas geben bis zum Anschlag, hoffen, dass mir kein Kind, Kaninchen oder Fuchs vor den Wagen lief, ich nicht aus der Kurve flog und das Schicksal auf meiner Seite stand.

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