52. Limo, Waffeln und verdrängte Wahrheiten
Im Koffer mit dem Campingkocher und dem Blechgeschirr fand ich meine abgegrabbelte Wanderkarte. Sie war schon sieben Jahre alt oder älter, doch konnte ich mir nicht vorstellen, dass sich in dieser Zeit grundsätzliches an den Wegen, den Wäldern und der Bebauung geändert hatte. Ich wusste, Lisbeth Schlesinger fuhr mit einem Wohnmobil durch die Gegend, doch weder kannte ich die Marke, noch das Modell, die Farbe oder das Nummernschild. Ich stand quasi nackig da. Null Infos. Das gestaltete den Auftrag nicht gerade einfacher, machte ihn aber kniffliger und daher spannender, genau das Richtige für meine unterforderten Hirnzellen. Es lag nah, zuerst die Zeltplätze in der Umgebung abzuklappern. Dort gab es Strom, Wasseranschlüsse und Entleerungsmöglichkeiten fürs Campingklo, alles das, was Lisbeth dringend benötigte, es sei denn, sie zündete abends Kerzen an, trank aus Waldbächen, wusch ihre Wäsche im Fluss und grub sich fürs Geschäft ein Loch im Waldboden (alles Praktiken, die ich auf Grund jahrelangen Herumpirschens in der Wildnis perfekt beherrschte).
Mit etwas Glück hatte ich den Fall im Handumdrehen gelöst. Im umgekehrten Fall stand Lisbeth mit ihrem Mobil auf irgendeinem Parkplatz oder schlimmer noch auf einem abgelegenen Forstweg weit weg von jeder Zivilisation. Abgetaucht. Versteckt. Unsichtbar. In diesem Fall würde ich sie vermutlich niemals finden, auch wenn ich mein ganzes restliches Leben nach ihr suchen würde.
Konnte der bärtige Typ auf dem Foto ein Hinweis sein? Dass es sich bei dem Kerl um einen wahrhaftigen Waldgeist handelte, wollte ich noch immer nicht akzeptieren. Er sah wild aus, okay! Seine Augen leuchteten gelblich, in Ordnung! Kopf und Gesicht schienen vom selben, dichten schwarzen Haar bewachsen, geschenkt! Der Bursche konnte genauso gut ein ungepflegter Zeitgenosse und Waldläufer sein. Selbst wenn es sich bei dem Kerl um ein gemeingefährliches Fabelwesen handelte, es gehörte nicht zu meinem Auftrag, ihn aufzuspüren, zu fangen und zu Koteletts zu verarbeiten! Ich sollte lediglich Lisbeth Schlesinger finden und ihrer Schwester den Aufenthaltsort mitteilen, tataa, schon war ich um 8000 Mark reicher. Einfacher ging es nicht.
Ich besah mir den vollgestopften Bulli und musste lachen. Wozu brauchte ich nochmal den ganzen Kram? Wenn ich jedoch Lisbeth Hand in Hand mit diesem Zotteltyp fand, was dann? Sollte ich dann nicht doch beherzt dazwischengehen, den Burschen niederstrecken und Prinzessin Lisbeth befreien? Wenn der Kerl ihr wirklich Böses wollte, konnte ich dann tatenlos zusehen, wie er sie in düstere Schonungen verschleppte, um ihr dort ganz fürchterliche Dinge anzutun, die ich mir lieber nicht ausmalen wollte, war Lisbeth andererseits nicht alt genug, selbst zu entscheiden, was ihr guttat und was nicht? Ich war hin- und hergerissen, wusste nicht, was ich unternehmen sollte, dabei war noch gar nichts passiert!
Ich faltete die Karte wieder zusammen und legt sie auf den Beifahrersitz. Plötzlich fiel mir Mama Beautys Ansprache auf dem Anrufbeantworter wieder ein und dass es eine gute Idee wäre, mich vor meiner Abreise bei ihr zu verabschieden, schließlich hatten mir ihre Karten Verderben, Pech, vielleicht sogar den Tod vorausgesagt. Ich hatte auch noch die eine oder andere Frage zu der Bernsteinkette, also zuerst zu Mama und Horst und dann konnte die Reise losgehen!
Horst war nicht zuhause, er war im Stadion und sah sich ein Fußballspiel an. Kreisklasse, Abstiegskampf. SV Grubenhagen gegen SG Kaltenbach. Meine Mama freute sich, mich zu sehen. Sie nahm mich in den Arm und drückte mehrmals kräftig zu. Ich wusste, dass sie mich gern viel häufiger bei sich haben wollte, doch sie akzeptierte meine Eigenständigkeit (meistens jedenfalls). Mama Beauty hatte offenbar das Schlimmste befürchtet. Sie strahlte mich an und tätschelte mir das Haar wie einem totgeglaubten Sohn. Auf der Terrasse goss sie mir selbstgemachte Zitronenlimonade in ein Glas und warf große Eiswürfel hinein. Sie hatte Waffeln gebacken, die herrlich dufteten und erstaunlich gut schmeckten. Ich erinnerte mich an die brettharten Dinger meiner Kindheit, mit denen man locker Tischtennis spielen konnte, weil Mama sich strikt geweigert hatte, Eier zu kaufen.
„Die kommen aus einem Hühnerarsch, Lupo! Wie ekelig ist das denn bitte!"
Ich wusste nicht viel von den fürchterlichen Dingen, die meine Mutter während des Krieges erlebt hatte, doch es führte offenbar dazu, dass sich ihr schon bei dem Gedanken an Hühnereier der Magen umdrehte. Meinem Vater war es nach jahrelangem Zureden gelungen, ihr die Gesprächstherapie bei Dr. Börnsen schmackhaft zu machen, der selber auch kriegsversehrt war und nur noch ein Auge und einen Arm sein Eigen nennen konnte. Dr. Börnsen war jedoch landauf landab der beste Psycho-Onkel, spezialisiert auf Kriegstraumata. An dieser Stelle muss ich die traurige Tatsache erwähnen, dass die meisten Bewohner Grubenhagens nicht bei Dr. Börnsen in Behandlung waren und es auch nie sein werden, obwohl sie es dringend nötig hatten! Doch das nur so nebenbei.
Dr. Börnsen jedenfalls befreite Mama von ihren Ängsten, die da zahlreiche waren, was sich unter anderem in Geschmack und Lockerheit ihrer Waffeln niederschlug. Wir saßen unter dem großen Sonnenschirm mit Nivea-Aufdruck, ich schlürfte meine Limonade, die Vögel hüpften über den Rasen und der leichte Wind kühlte unseren Schweiß. Mama saugte an einer Zitronenscheibe, dabei blickte sie mich ernst an.
„Und ich dachte schon, sie hätten dich geschnappt!"
Stille.
Ich fischte einen Eiswürfel aus meinem Glas und lutschte daran herum.
„Geschnappt? Wie, geschnappt? Wer sollte mich denn schnappen?"
Mama legte die Zitrone weg, rollte ein Waffelherz zusammen und biss hinein.
„Na, die Lauenstein-Brüder, diese komischen Bibelprediger. Schon seit Tagen fahren sie in der Gegend herum, schleichen um mein Haus. Ihren Wagen, so einen schwarzen Transporter, parken sie immer am Ende der Straße. Gestern Abend hat's mir gereicht. Ich bin rausgerannt und habe ihnen gesagt, dass sie sich zum Teufel scheren sollen."
Zum Teufel scheren, wie passend! Mein Puls beschleunigte sich.
„Du weißt, womit sie sich in ihrer Freizeit beschäftigen, und du weißt, weshalb sie es auf mich abgesehen haben?"
Mama Beauty nickte und nahm sich ein weiteres Waffelherz, dann stand sie auf und stieg hinauf in ihr Arbeitszimmer. Kurz darauf kam sie mit einem prallen Aktenordner unter dem Arm zurück.
Ich kochte vor Wut.
„Erst jetzt, beim Limoschlürfen und Waffelknuspern offenbarst du mir, dass du die ganze Zeit über im Bilde warst? Bis dahin keinerlei Warnung, kein Polizeischutz, kein Kampfhund zum Geburtstag?"
Mein Stimme schraubte sich höher und begann sich zu überschlagen.
„Ich hätte draufgehen können, Mama, verdammt ich könnte bereits modernd in der Kiste liegen!"
Ich übertrieb maßlos, das wusste ich, denn spätestens seit Rebeccas Kidnapping-Versuch war mir klar wie der Hase lief. Ich hatte die Wahrheit die ganze Zeit über sträflich verdrängt, doch Mütter wissen genau, wo sich die roten Knöpfe ihrer Kinder verbergen und wann man sie drücken muss. Ich war ein Wittich, und es existierten Menschen, die es auf mich abgesehen hatten.
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