48. Plan ohne Plan
Doro Schlesinger hatte es eilig. Hektisch tippte sie mit dem Zeigefinger auf die Postkarte.
„Dieser Kerl, er ist mir nicht geheuer! Sie weiß nicht was sie tut, mein liebes Schwesterlein. Sie hat es übertrieben, sie hat es eindeutig übertrieben!"
Ich fragte Frau Schlesinger nach der Marke des Wohnmobils, dem Kennzeichen, und ob sie wüsste, in welcher Gegend sich ihre Schwester bevorzugt aufhalte, doch zu all dem konnte, oder wollte, sie mir nichts sagen. Sie drückte ihre Zigarette im Aschenbecher aus, zog einen Zwanzigmarkschein aus ihrer Geldbörse und schon ihn unter mein Glas.
„Alles das, lieber Herr Scholz, sollen sie für mich herausfinden. Bringen sie mir den Aufenthaltsort meiner Schwester, um alles andere kümmere ich mich. Kein Wort zu niemanden, das versteht sich von selbst, oder! Und wenn sie sie gefunden haben, sagen sie ihr nicht, dass ich sie schicke! Das wäre, nun ja, kontraproduktiv. Denken sie daran, sechstausend warten noch auf sie. Sechstausend!"
Mit diesen Worten erhob sie sich, nahm Handtasche und Apothekentüte und drückte sich an mir vorbei in Richtung Ausgang.
Sie drehte sich noch einmal um. Sie liebte den theatralischen Abgang.
„Melden sie sich sobald sie etwas wissen! Und, beeilen sie sich, es drängt!"
Ein, zwei, drei und sie war zwischen den umher wuselnden Menschen auf dem Marktplatz verschwunden. Verdattert blickte ich ihr nach. Was war das gewesen? Ich sah noch einmal in den Umschlag. Das Geld war noch dort, ebenso die Visitenkarte, das Foto, die Postkarte. Ich kniff mir in die Wange. Es tat weh. Ich hatte nicht geträumt.
Lisbeth dufte nicht erfahren, dass ihre Schwester sich sorgte und jemanden schickte, sie zu suchen? Sehr weit her konnte es mit der Schwesterliebe nicht sein! Gönnte die eine der anderen den Mann nicht? War es das? Oder steckte mehr dahinter? Hatten Lisbeth Schlesingers parapsychologische Forschungen sie wirklich in Gefahr gebracht? Das konnte sein. Nicht jede Erscheinung war so freundlich und zuvorkommend wie Mister Glüh-Scheck!
Ich musste dringend nach Hause, mich mit einem kühlen Getränk an den Küchentisch setzen, Amanda kraulen und einen Plan machen.
In der Grundschule hatte Frau Hampel mal so ein Spiel mit uns gespielt. Was würde wir mitnehmen, wenn wir für ein Jahr auf eine einsame Insel ziehen müssten? Die Antwort darauf war mir leicht gefallen. Jenny, die süße Jenny aus der ersten Reihe natürlich, mit ihren gestreiften Kleidern, den Zöpfen und der geblümten Haarspange. Denn mit Jenny wäre ich ja nicht mehr einsam auf der Insel und alles wäre in Ordnung.
Alles das sagte ich natürlich nicht laut, es wäre mir unsagbar peinlich gewesen, außerdem hätte Thomas mich in der nächsten Pause bestimmt wieder verdroschen, denn er mochte Jenny ebenfalls sehr gern.
Ich sagte also stattdessen: „Ich nehme meine Oma mit, die kann gut kochen, die macht aus Kacke Bonbon. Meinen Kompass, damit ich mich nicht verlaufe und mein Lieblingsbuch gegen Langeweile."
Mein Lieblingsbuch war damals Puckis Familienglück. Das war mir saupeinlich, weil die Pucki-Bücher als Mädchenlektüre galten. Also verheimlichte ich den Titel und sagte einfach Lieblingsbuch.
Das Gelächter in der Klasse war trotzdem gewaltig, da half auch Frau Hampels mitleidiger Blick und die Drohung mit dem Schulleiter nichts. Herr Schmittke, der Schulleiter, war klein und dick. Er hinkte stark wegen einer Kriegsverletzung. Seine Stimme war piepsig. Niemand fürchtete sich vor Herrn Schmittke. Er war zu allen nett und schenkte ihnen in der Pause Karamellbonbons, die er scheinbar säckeweise in seinem Büro hortete. Eines Tages war Schmittke weg. Erst hieß es: Autounfall. Dann: frühzeitige Pensionierung. Dann: hat sich an einem Schüler vergriffen. Zum Schluss: hat sich oben an der Mönchshöhe mit einem Jagdgewehr in den Mund geschossen. Doch das war letzten Endes eine ganz andere Geschichte.
In der nächsten Pause nahm Thorsten mich dann doch in den Schwitzkasten, und rief quer über den Schulhof, so laut, dass alle es hören konnten: „Was soll deine olle Omma denn kochen auf einer einsamen Insel? Da wächst doch nichts, außer vielleicht ne krumme Palme und verblödete Affen un dat Stroh in deinem Kopf! Aus Affenkacke Bonbon machen, dass ich nich lache! Kann nich ma deine Omma! Kann niemand! Nich mal Miraculix!"
Ich versuchte gar nicht erst ihm zu erklären, dass es sich bei meiner Aussage um eine Redewendung gehandelt hatte, dass sie nur im übertragenen Sinne zu verstehen sei und so weiter. Thorsten dachte eben nur von seinen verpopelten Nasenlöchern bis zur Nasenspitze, nicht weiter. Was für ein armer Willi!
Am Ende war Thorsten Realschullehrer geworden. Wie er das hingekriegt hatte war mir schleierhaft. Jenny hatte BWL studiert und arbeitete jetzt bei einem Computer-Unternehmen in den USA. Vor ein paar Monaten hatte sie mir überraschend eine Postkarte mit einer Stadtansicht von Boston geschickt. Die Karte ging an meine alte Adresse, meine neue hatte sie ja nicht. Mama Beauty überreichte sie mir feierlich bei einem meiner Kaffee-Kuchen-Besuche. Danach hing die Karte lange Zeit an meiner Kühlschranktür. Mara hatte sie irgendwann entdeckt und gelesen. Sie war nicht erfreut gewesen und hatte sich daraufhin eine Woche lang nicht bei mir gemeldet. Vielleicht nicht ganz zu Unrecht, denn Jenny hatte zwischen den Zeilen die Trennung von ihrem Freund und eine leichte Lebenskrise angedeutet, dass sie so gar niemanden hätte, dem sie sich anvertrauen könne. Ganz ehrlich, Boston fand ich als Stadt schon immer ziemlich interessant!
Bevor Mara die Karte zerreißen konnte, ließ ich sie in einer Schublade verschwinden.
Ich wollte meine Reise planen, doch wusste ich plötzlich nicht mehr wie das ging und weshalb ich es überhaupt wollte. Was hatte sich denn gegenüber meinem bisherigen Plan geändert? Fast nichts, bis auf die Tatsache, dass ich jetzt in höherem Auftrag das Weite suchte.
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