47. Zweitausend auf Mystik Park

Ich versuchte vergeblich die Gesichtszüge meiner Auftraggeberin durch den dichten Zigarettenrauch hindurch zu lesen. Sie verrieten nichts. Nur ihre roten Lippen zuckten nervös. Was hatte sie nur, die Sache war doch eindeutig.

„Ihre Schwester hat sich in einen Kerl verknallt, bis über beide Ohren. Entschuldigen sie die Frage, aber wo genau ist das Problem?"

Sie beugte sich über den Tisch zu mir herüber. Jetzt sah ich ihre Augen, ihre Nase und ihren Mund deutlicher als mir lieb war.

Halbgott, sie schreibt von einem Halbgott! Klingelt es da nicht bei ihnen? Bei mir schon, bei mir schon, Herr Scholz! Alle Alarmglocken klingeln da bei mir, alle Alarmglocken!"

Nun gut, offenbar wusste ich noch zu wenig über ihre Schwester. Es war Zeit, mehr über Lisbeth zu erfahren.

„Ihre Schwester hat ein Männerproblem?"

Frau Schlesinger dachte nach, zog an ihrer Zigarette, fuhr sich mit dem kleinen Finger über die Unterlippe.

„Sie sucht sich immer die Falschen aus. Schläger, Alkoholiker, Egoisten, Narzissten."

Ich verstand. Das hörte sich nicht gut an.

„Dieses mal ist es aber anders."

Anders? Was hieß das? War es diesmal schlimmer? Ging es denn überhaupt noch schlimmer? Ich spürte, dass es Doro Schlesinger schwer fiel, mir gerade heraus zu sagen, worum es wirklich ging. Die Wahrheit sickerte nur langsam, Silbe für Silbe, zwischen ihren feuerroten Lippen hervor.

„Es hat mit dem zu tun, was Lisbeth beruflich macht."

„So, was macht sie denn?"

„Sie ist Psychologin. Doktor der Psychologie, und Physikerin."

Eine interessante Fächerkombination. Was fing man denn damit an?

„Bis '79 hat sie an der Uni Göttingen gelehrt."

Irgendetwas am Tonfall meiner Auftraggeberin ließ mich aufhorchen.

„Ist sie freiwillig gegangen?"

Wilde Bilder zogen an meinem inneren Auge vorbei. Lisbeth Schlesinger, die Männerfresserin verführt einen ihrer Studenten, zieht Kollegen in dunkle Putzkammern und spielt dort wilde Spiele mit ihnen.

„Nein, das nicht. Sie hat sich, gewissermaßen, spezialisiert, hat sich einen anderen Schwerpunkt gesucht. Die Uni hat ihr dafür keinen Platz geboten und wollte es vermutlich auch nicht."

Ich verstand immer weniger.

„Ich meine, sie hat sich auf das spezialisiert, was sie auch, naja, womit sie sich, sie wissen schon ..."

Da war er wieder der Satz. Sie kennen sich doch mit sowas aus. Ich hörte ihn in meinem Kopf. Womit in Gottes Namen beschäftigte sich Lisbeth Schlesinger? Mit der Vertreibung und Beschwörung von Feuerdämonen, der Bestattung vertrockneter Katzen, der Wittichjagd?

„Parapsychologische Forschung, Herr Scholz, sie erforscht Spukhäuser, jagt Poltergeister und weiße Frauen. Sie sagt, die inneren Erregungszustände eines Menschen können sich auf Materie übertragen und diese verändern, sie sagt, die physikalischen Gesetze sind ein Irrtum. Spuk ist menschengemacht. Finde den Auslöser und du beseitigst den Spuk. Sie ist verrückt Herr Scholz, komplett plemplem, und jetzt die Geschichte mit diesem Kerl, diesem Waldgeist. Ich habe Angst, Herr Scholz, ich habe Angst um meine kleine Schwester! Finden sie sie, bitte finden sie sie!"

Jetzt war es raus. Halbgott. Waldgeist. Ja, wahrscheinlich war das hier genau mein Ding. Frau Schlesinger packte meine Hand und grub ihre lackierten Fingernägel hinein, ihre Augen füllten sich mit Tränen.

„Sie hat sich in ihr Forschungsobjekt verknallt, Herr Scholz! Sie wissen was da oben in den Wäldern lebt, ich sage bloß Mönchshöhe, sie wissen was diese Wesen Menschen antun können!"

Nein, das wusste ich ehrlich gesagt nicht. Bei Mönchshöhe dachte ich zuerst an Otte, an Lauenstein, an all die namenlose Wittiche, die sie fangen und in die nassen Höhlengänge treiben wollten, und das waren beides Menschen, gemeingefährliche Menschen. Einen Waldgeist hatte ich noch nie gesehen, außer auf diesem Postkartenfoto. Die bloße Aussicht, ein solches Wesen leibhaftig zu Gesicht zu bekommen, jagte mir einen wohligen Schauer über den Rücken.

Doro Schlesinger drückte ihre Zigarette aus, nahm einen winzigen Schluck von ihrem Wasser und zog anschließend einen weißen Briefumschlag aus ihrer Handtasche. Auch wenn die Sicht über dem Tisch getrübt war, erkannte ich deutlich das Bündel Geldscheine darin.

„Finden sie sie und teilen sie mir mit, wo sie sich aufhält, nur das. Sagen sie ihr nicht, dass ich sie schicke! Sind 8000 Mark in Ordnung für sie? 2000 als Anzahlung, den Rest bekommen sie, wenn sie Lisbeth gefunden haben."

Sie schob mir den Umschlag herüber. Ich schluckte und bemühte mich cool zu bleiben, doch meine Stimme war nur noch ein jämmerliches Krächzen.

„Ich muss sagen, das hört sich sehr, sehr fair an!"

Innerlich grinste ich wie ein Honigkuchenpferd, nach außen hin machte ich einen auf abgehalfterten Ermittler. Ich verlogener Sack! Aber das hier war ja kein Stelldichein, bei dem Authentizität wichtig war. Das hier war ein knallhartes Geschäftstreffen.

Vor mir sah ich meine Küche, den Schrank, die aufgezogene Schublade, darin den zerknitterten Umschlag mit den 2000 Mark Falschgeld. Kurt, wie er mit triumphierendem Grinsen die Scheine gegen das Licht hält, Armbrecht, wie er sich mit seinem Winzbleistift Notizen macht.

Meinen Job war ich los, mein Erspartes war futsch, ich musste Miete zahlen, Futter für Amanda kaufen. Diese Zahl, diese Zahl, 2000, sie verfolgte mich, sie war ein Zeichen, ein Geschenk des Himmels. Was auch immer mit Lisbeth Schlesinger geschehen war, wie mörderisch riesig, tödlich verwachsen, grindig und brutal der Waldgeist auch immer sein mochte, ich konnte den Auftrag nicht ablehnen. Niemals! Nie! Er war mir, quasi auf einem silbernen Tablett, vor die Füße gefallen, das Schicksal und Frau Scheck hatten es gut mit mir gemeint. Es war verdammt lange her, dass jemand es gut mit mir gemeint hatte. Ich durfte das Universum nicht unnötig herausfordern.

Ich knete meine Oberlippe und kraulte mir den Bart.

„Haben sie ein Foto ihrer Schwester dabei?"

Doro griff in ihr Portemonnaie und zog ein Passfoto hervor. Ihre Hand zitterte leicht, als sie es mir gab. Dann griff sie erneut hinein und reichte mir ihre Visitenkarte.

„Auf der Rückseite steht meine Privatnummer. Rufen sie bitte dort an!" Aha, ich verstand. Niemand im Tierpark sollte von der Ermittlung erfahren. Na gut, mir sollte es recht sein.

„Das Bild ist vom letzten Jahr. Lisbeths Aussehen hat sich aber nicht verändert."

Was wusste sie schon? Wer sich ernsthaft mit einem Waldwesen einließ, der veränderte sein Aussehen unfreiwillig rasch, sehr, sehr rasch, so rasch, dass kein Mensch ihn wiedererkannte, nicht einmal die Schwester, der Bruder, der Vater oder die Mutter, und schon lange kein dahergelaufener Möchtegern-Privatermittler. Kannte sie nicht die Geschichten von Krokonos, genannt Rübezahl, wie er Menschen verwandelte, verführte, sie auf den falschen Weg, den Weg der Verdammnis schickte? Jedes Kind in Grubenhagen inhalierte diese Geschichten mit der Muttermilch, da bildete ich keine Ausnahme. Nur hatte ich mir bis vor wenigen Wochen nicht im Traum vorstellen können, dass sie offenbar der Wahrheit entsprachen.

Ich betrachtete das Foto. Unterschiedlicher konnten Schwestern nicht aussehen. Doro Schlesinger war hager, hatte dunkles langes Haar, schminkte sich auffällig. Lisbeth hingegen trug ihr hellblondes, fast weißes Haar streichholzkurz, sie hatte ein kräftiges, freundliches Gesicht mit runden Wangen, doch genau wie ihre Schwester schien sie knallroten Lippenstift zu lieben. Auf dem Bild lächelte sie, so dass ich ihre Zahnlücke neben dem oberen rechten Schneidezahn sah. Lisbeth schien jünger als ihre Schwester zu sein. Ich schätzte sie auf Mitte Vierzig. Wenn ich mich hätte entscheiden müssen mit welcher der beiden Schwestern ich lieber einen Spaziergang durch den Tierpark machen wollte, dann hätte ich mich eindeutig für Lisbeth entschieden. Sie sah aus wie eine, mit der man Pferde stehlen konnte. Nicht die alten Klepper, die Horst oder Elmar hießen, sondern die teuren Reitgäule wie zum Beispiel Mystik Park.

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