39. Schließfachschlamassel
Auf dem Weg zur Post ging ich bei Portofino vorbei. Enrico machte das beste Stracciatella weit und breit.
„Heute keine Arbeit, Lupo? Kannst meiner Tochter bei Mathe helfen, sie muss nachholen,weißt du! Nächste Woche geht die Schule wieder los."
Ich sagte Enrico, dass es gerade schlecht sei, vielleicht ein andermal. Nicoletta war ein freundliches, lebhaftes Mädchen, aber Vierzehnjährige hatten so ihre Eigenarten, auf die ich heute überhaupt nicht konnte. Im letzten Jahr hatte ich ihr bereits in Deutsch und Geschichte geholfen und dafür den ganzen Sommer lang Eis umsonst bekommen. Dieses Jahr standen für mich andere Dinge an! Ich ließ mir drei Kugeln in eine Waffel drücken, bezahlte und verabschiedete mich von Enrico.
Um diese Zeit war auf dem Marktplatz nicht viel los. Auf den Bänken saßen drei, vier Rentner und hielten ein Schwätzchen, Mütter und Väter schoben Kinderwagen über das Pflaster. Am Springbrunnen hüpften zwei Kinder in Unterhosen zwischen den Fontänen herum und wurden von ihren Eltern ermahnt, die Hosen anzulassen. Ich freute mich über den geschenkten Tag, auch wenn der Schließfachschlüssel in meiner Hosentasche schwer wie Blei wog, und mich schmerzlich an das erinnerte, was ich für Hieronymus erledigen sollte.
Der hohe Raum mit den Schließfächern befand sich am Ende eines langen Korridors, etwas abseits des Publikumsverkehrs. Das sollte mir nur recht sein. Mindestens fünfhundert Fächer gab es hier, sauber durchnummeriert, drei Reihen übereinander, mit blank geputzten Türchen. Sie sahen alle gleich aus. Ich kam mir vor wie der Hauptdarsteller in einer Kafka-Erzählung, planlos und überfordert. Ich zog den Schlüssel aus der Tasche und besah ihn mir noch einmal genauer, drehte ihn hin und her, fand jedoch nichts was mir Aufschluss über die Schließfachnummer gab. Probehalber steckte ich ihn in Schloss Nummer eins. Er glitt mühelos hinein, ließ sich aber nicht umdrehen. Wenigstens hatte ich jetzt die Bestätigung, hier nicht ganz falsch zu sein. Ich wusste nun wo ich den Rest des Vormittags verbringen würde.
Nachdem ich die Fächer eins bis dreißig durchprobiert hatte, musste ich eine Pause machen. Eine ältere Dame mit lilafarbenem Kleid kam hereingeschwebt und machte sich an einem Schließfach am anderen Ende des Raumes zu schaffen. Ich tat so als würde ich mir die Nase putzen. Da ich kein Taschentuch bei mir hatte, benutzte ich für meine kleine Vorstellung einen Einkaufsbon, den ich in der Hosentasche fand.
Die Frau war genau so schnell fertig wie ich es erhofft hatte. Als sie die Schließfachtür verriegelte und sich zur Seite drehte, versuchte ich die Nummer zu erkennen. Dreihundertzehn. Dieses Fach konnte ich schon einmal ausschließen.
Über vierhundertfünfzig Fächer hatte ich noch vor mir. Wenn es stimmte, was Hieronymus mir mit Mimik und Gestik hatte klarmachen wollen, dass ich mich beeilen musste, dann dauerte die Suche, so wie ich sie anging, einfach zu lange. Wie ich Hieronymus kannte hatte er sich bestimmt nicht irgendein Schließfach ausgesucht, sondern hatte es bewusst gewählt. Sein Geburtstag passte schon einmal nicht. 7.12. Vielleicht anders herum. 127. Ich probierte es aus. Nichts. Seine Schuhgröße vielleicht. Quatsch! Seine Körperlänge? Die kannte ich nicht. Seine Hausnummer? Nein. Eine Lieblingszahl? Hatte er so etwas? Keine Ahnung. Ich konnte mir den Bernstein vom Hals nehmen, alles um mich herum in ein nasses, düsteres Schwarzweiß verwandeln, meine geheimen Kräfte wirken lassen, doch bei meinem letzten Versuch war mir dermaßen schlecht geworden, dass mir nichts an einer Wiederholung lag.
Hier drin war die Luft schlecht und das Licht der Neonröhren schmerzte mir in den Augen. Ich beschloss draußen weiter über mein Problem nachzudenken. Unter einem schattigen Bäumchen fand ich eine freie Bank. Von hier aus konnte ich den ganzen Marktplatz überblicken. Links das Portofino, Enrico sortierte gerade die Außenbestuhlung, daneben die Drogerie mit den Drahtkörben voller Sandkastenspielzeug und Körperlotionen, auf der anderen Seite des Platzes die Parfümerie, der Blumenladen und die neu eröffnete Videothek mit den Menschenfresserplakaten an der Eingangstür, daneben der Salon von Fritsch dem Friseur. Er hatte geschlossen, weil heute Montag war. Hinten rechts war der Plattenladen, daneben die Sparkassenfiliale, welche mal ausgeraubt worden war, als ich noch in den Kindergarten ging. Alles hier wirkte so friedlich, so ruhig und beschaulich. Nichts von alldem schien mit dem zu tun zu haben, was ich den vergangenen Wochen erlebt hatte, und ich dachte bei mir, das sind alles nur Fassaden, potemkinsche Dörfer, die jederzeit, einfach so einstürzen können.
Zwei Schritte von meinen Füßen entfernt setzte ein schmutziger weißer Pudel ein Häufchen auf das Pflaster. Der Besitzer merkte nichts davon. Er hielt den Hund an der langen Leine, schaute dabei einem Mädchen mit kurzem Rock hinterher und paffte an seiner Zigarette. Eine rothaarige Frau mit Blumenkleid und Baby auf dem Arm sprach ihn an.
„Ihr kleiner Teufel hat da hingeschissen! Wollen sie, dass die Kinder da reinlaufen, wollen sie das nicht mal wegmachen?"
Der Pudelmann drehte sich um und sah die Frau von oben bis unten an. Sein Blick war an Geringschätzung nicht zu überbieten.
„Kümmern sie sich mal um ihren eigenen Scheiß, sie Ökotante! Das einzige was hier stinkt ist die vollgeschissene Hanfwindel von ihrem kleinen Kacker da!"
Das Gesicht der Frau lief rot an. Haare und Gesicht hatten jetzt dieselbe Farbe. Ehe sie etwas erwidern konnte, hatte der Mann seinen Pudel bereits weggezerrt und lief schnurstracks in Richtung Marktkirche davon. Die Frau ließ jedoch nicht nach. Sie sprang ihm hinterher, wobei sie um ein Haar über einen herausstehenden Pflasterstein gestolpert und das Kind ihr aus den Armen geglitten wäre. Etwas fiel mit einem Klimpern auf das Pflaster, und noch bevor ich es aufheben konnte, war die Frau auch schon weg. Ich stand auf und bückte mich nach dem Gegenstand. Es war ein Ansteckbutton, darauf eine rote Sonne mit freundlichem Gesicht und gereckter Faust und dem Spruch „Atomkraft, nein danke!". Das Ding gefiel mir und ich steckte es mir spontan ans T-Shirt.
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