37. Bernsteinzauber
Ich saß auf der Bettkante, meine nackten Füße spielten mit den Flusen des angekokelten Flokatis. In der Hand hielt ich das Lederband mit dem geschliffenen Bernstein. Ein schönes Stück. Durchsichtig, klar, mit kleinen Einschlüssen. Wenn ich den Stein gegen das Licht hielt und hindurch sah, wurde die Welt um mich herum honiggelb. Ich hielt ihn an die Nase, roch daran. Nichts. Ich hielt ihn an die Wange. Er war körperwarm. Alles normal also.
Während Lauenstein seine Versuche durchgeführt hatte, war der Bernsteinaber nicht körperwarm, sondern heiß, glühend heiß gewesen. Noch immer war auf meinem Brustbein der kreisrunde Brandfleck zu sehen. Der Stein hatte mich davor bewahrt, auf Lauensteins Fragen wahrheitsgemäß zu antworten. Hätte ich gesagt was ich wusste, wäre ich zweifellos auf seiner Jagdliste gelandet.
Was war dieser Stein, dieses uralte Stück Baumharz? Ein Talisman, ein mächtiger Schutzzauber? Woher hatte Mama Beauty ihn? Hatte ich ihn überhaupt von ihr bekommen, oder von jemand ganz anderem, jemand, der wusste wer ich war, jemand, der wusste, dass ich einen Schutzstein nötig hatte?
Ohne den Stein um den Hals fühlte ich mich unwohl, irgendwie leer, Körper und Seele kamen nicht zueinander. Die Farben um mich herum verblassten, wichen einem traurigen Schwarzweiß, die Gegenstände glänzten feucht, der Boden unter meinen Füßen verwandelte sich in einen brackigen Tümpel voll stinkenden Wassers.
Ich konnte mich nicht erinnern, das Band jemals abgelegt zu haben. Der Drang, es mir wieder um den Hals zu hängen war übermächtig, gleichzeitig wollte ich versuchen, ihm so lange wie möglich zu widerstehen.
Doch meine Erinnerung trog. Wenn ich genauer nachdachte stimmte es nicht, dass ich den Stein nie abgelegt hatte. Ich erinnerte mich an einen Streit in der sechsten oder siebten Klasse. Es war um irgendein Mädchen gegangen, wie oft zu jener Zeit, vielleicht auch um zwei Mädchen. Mein Gegner war der starke aber dumme Klaas gewesen. Irgendwann während der Keilerei, als er merkte, dass er unterliegen würde, war er mir brutal an den Hals gegangen, hatte das Lederband zu fassen gekriegt, es mir mit einem Ruck herunter gerissen und war aus der Klasse gerannt.
Klaas war schnell, schneller als ich. Schon nach zwei Sekunden hatte ich ihn aus den Augen verloren. Genau in diesem Moment geschah das Unfassbare: Auch wenn ich Klaas nicht sah, wusste ich doch ganz genau wohin er rannte, konnte exakt benennen wo er sich verstecken würde. Als ich ihn kurze Zeit später in der Sporthalle hinter dem Mattenwagen aufspürte und ihm den Stein entriss, konnte unser gegenseitiges Erstaunen nicht größer sein.
Und dann waren da diese Träume. Ich allein in einem leeren, dunklen Haus. Die Wände schwarz, der Boden feucht, modriges Wasser tropft von den Decken. Ich weiß, dass ich etwas finden muss, ohne sagen zu können was.
In einem anderen Traum lasse ich Dinge mühelos, ohne Kraftanstrengung, nur mit Hilfe meiner Gedanken durch die Luft fliegen. Gläser, Teller, Bücher, Tafelkreide, meine Lehrer, Mama Beauty, Nachbars Hund. Irgendwann beginnt es wie aus Eimern zu schütten. Ein schwarzer, nach Teer stinkender Regen ergießt sich über mich. Ich schreie, schlage um mich und erwache.
Ich hängte mir den Stein wieder um. Die Schatten krochen zurück in ihre Ecken, das Wasser, die Feuchtigkeit auf den Gegenständen verschwand, die Farben kehrten zurück, die Leere in meinem Brustkorb löste sich in Wohlgefallen auf.
Der Bernstein schützte mich nicht bloß vor den Einflüsterungen finsterer Zeitgenossen, er beschützte mich auch vor meinen eigenen Dänonen. Ihm verdankte ich es, dass ich die vergangenen achtundzwanzig Jahre mein Leben unbehelligt hatte leben können.
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