36 Herzchentuch

Einige der Begriffe und Namen, die Otte verwendete, kannte ich nicht oder konnte sie nicht zuordnen. Wer war Krokonos? Was meinte Otte mit dem eingesperrten Bergwerkssittich? Meines Wissens hatte man in die Bergstollen früher keine Sittiche, sondern Kanarienvögel mitgenommen, die bei dünner werdender Luft zu zwitschern begannen, und so den Bergmännern das Leben retteten.

Ich blätterte zum Ende des Buches, wo ich einen kurzen Text zu Ottes Biografie fand. Lauensteins Vorgänger war ein glühender Nazi gewesen. Das abgedruckte Schwarzweißportrait zeigte einen Mann um die Fünfzig. Fleischige Nase, niedrige Stirn, Segelohren, helle Augen, der Mund nicht mehr als ein Strich. Eine winzige Textzeile unter dem Bild verwies auf den Fotografen: Siegfried Holzer. In der Nähe des Cartoons gab es ein Fotostudio gleichen Namens. Gut möglich, dass jener Siegfried dort noch immer durch seine Dunkelkammer schlich und an vermeintlich bessere Zeiten dachte.

Nun war ich im Bilde. Ich wusste, dass Otte seine lebensfeindliche Art zu denken nach 1945 nicht abgelegt, sondern ihr bloß eine anderen Anstrich verpasst hatte. Nicht mehr das Undeutsche, sondern die Wittiche bereiteten ihm jetzt schlaflose Nächte. Und Lauenstein, dessen Söhne und Rebecca, glaubten die wirklich an das was Otte in seiner Hetzschrift behauptete? Offenbar ja, denn was Lauenstein an mir ausprobiert hatte, entsprach exakt den im Buch beschriebenen Testmethoden. Schaurig. Er hielt mich für einen Wittich, und Rebecca war seine Erfüllungsgehilfin. Plötzlich bekam ihr Vergewaltigungsversuch eine völlig andere Dimension. Schlagartig wurde mir klar weshalb sie die Magmalampe mitgebracht hatte, mich mit ihrem Höllenfeuer hatte betören wollen und ans Bett fesseln wollte. Was hätte sie als nächstes getan wäre Feuerscheck mir nicht zur Hilfe gekommen? Mich an Ort und Stelle ins Jenseits befördert, per Schuss, per Stich, per Kissen auf's Gesicht?

Mir wurde schwindelig. Alles um mich herum wurde unscharf und begann sich zu drehen. Die Schwimmbadwiese, die herumlaufenden Kinder, die kreischenden Teenager. Hatte ich einen Sonnenstich? Ich sollte ins Wasser springen und mir den Kopf kühlen. Als ich gerade aufstand erwachte Sven aus seinem Arschbombenkoma. Er schmatzte. Seine rechte Wange trug das Faltenmuster der Decke, sein Mundwinkel war spuckenass. Ich deutete auf seinen sonnenverbrannten Nacken während er mich entgeistert anstarrte.

„Wie lange habe ich gepennt? Du bist ja käseweiß im Gesicht. Alles gut mit dir?"

Ich schüttelte den Kopf. Dann griff ich in meinen Rucksack und zog Ottes Buch heraus, mit dem ich Sven vor der Nase herumwedelte.

„Alter Kumpel, du wirst es nicht glauben! Rebecca Lauenstein war mitnichten scharf auf mich, sie wollte mich ausschalten, in die ewigen Jagdgründe schicken, denn ich bin ein Wittich, ein Halbgott, und du solltest dich besser vor mir in acht nehmen!"

Ich holte aus und schlug Sven scherzhaft auf den Rücken. Als er aufschrie war es schon zu spät. Er grinste gequält. Ob nun wegen des Sonnebrandes, oder dem was ich gerade gesagt hatte, wusste ich nicht.

Sven begann seine Tasche auszupacken. Am Ende standen mindestens zwölf Behältnisse, gefüllt mit allerlei Köstlichkeiten vor uns. Melone, Weintrauben, mit Zartbitterschokolade überzogene Erdbeerspieße, Frikadellen, Kartoffelsalat, Marmorkuchen, Donauwellen, kleine belegte Weißbrotscheiben, eingelegte Gürkchen und Silberzwiebeln, alles schon etwas warm und angeschmolzen, dennoch lecker wie sonst nichts auf der Welt.

Leider bekam ich nicht viel davon herunter. Ich dachte an Ottes Buch, an Lauenstein, an die schreckliche Rebecca, an das, was sie mir antun wollte. Eine Stunde saß ich noch mit Sven auf der Decke und aß, dann verabschiedete ich mich.

Wieder zu Hause versorgte ich zunächst Amanda bevor ich von Zimmer zu Zimmer lief, auf der Suche nach etwas, das Rebecca dagelassen hatte. Einen Stoffbeutel, einen Rucksack, irgendeine Tasche mit einem Messer, einem Knebel, einem Seil oder einem Revolver darin. Es hatte schon etwas Makabres, den Spuren des eigenen möglichen Todes nachzuspüren.

An der Garderobe im Flur hatte sie nichts hängen lassen, auch nicht auf der Lehne des Küchenstuhls. Auf dem Sofa und den Sesseln im Wohnzimmer: nichts. Auch nicht im Badezimmer. Blieb nur noch das Schlafzimmer, mein persönlicher Schandfleck, den ich seit dem Vorfall nicht mehr betreten hatte. Behutsam öffnete ich die Tür und streckte den Kopf hinein. Noch immer roch es nach verbranntem Teppich und versengter Bettwäsche. Hinzugekommen war ein stockiger Duft nach verbrauchter Luft. Ich öffnete die Tür ganz und kniete mich auf den schmutzigen Boden, um unter das Bett sehen zu können. Bis auf die alten Zeitungen und eines meiner lange schon vermissten Bücher war dort nichts. Dasselbe Bild im Kleiderschrank, im Nachttisch und unter den angeschmorten Kopfkissen und Bettdecken.

Amanda kam in federndem Lauf durchs Wohnzimmer gelaufen. Auf der Schwelle zum Schlafzimmer blieb sie jedoch abrupt stehen als beträte sie vermintes Gelände. Ich verstand sie gut, schließlich hatte sie keine guten Erfahrungen mit Feuer-Scheck gemacht, und Katzen besaßen ein feines Näschen!

Ich wollte das Zimmer schon wieder verlassen, als mein Blick auf den schmalen Spalt zwischen Bett und Wand fiel. Eines der Kissen war hineingerutscht. Ich krabbelte über die Matratze und zog es heraus. Darunter fand ich eine kleine, bunte Mädchenhandtasche, nicht größer als eine Frühstücksdose. Da war es also, das Corpus Delicti, und was ich darin fand ließ mich schwer schlucken. Darüber nachzusinnen wie Rebecca mich hätte unschädlich machen können war das eine. Das bevorzugte Tatwerkzeug in der Hand zu halten war etwas völlig anderes. Ich starrte auf die braune Glasflasche mit der durchsichtigen Flüssigkeit. Das Etikett ließ keinen Zweifel offen. Chloroform, ich hielt eine Flasche Chloroform in den Händen. Das passende Tuch, welches sie mir auf's Gesicht drücken wollte lag gleich daneben. Weiß, mit kleinen roten Herzen darauf.

Sie wollte mich in die Ohnmacht verabschieden. Und dann? Was wäre danach passiert? Hätte sie einen ihrer durchgeknallten Laufburschen angerufen, mich zusammen mit ihm aus der Wohnung in ihr Auto geschleppt, um mich anschließend hinauf zur Mönchshöhe zu bringen? Was wäre dann geschehen? Hätten sie mich in einen der Gänge gebracht und mich dort liegen gelassen, oder schlimmer noch, weiter hinein in das felsige Labyrinth gezerrt und mich in eines dieser finsteren Wasserlöcher geworfen, angebliche Verbindungslöcher zur Welt der heidnischen Waldwesen?

Ich sah mich schon nach dem Telefonhörer greifen und die Polizei anrufen. Versuchte Entführung, versuchter Mord, wie viele Jahre Knast gab es dafür? Bestimmt nicht wenig. Welcher Beamte, der noch ganz bei Trost war, würde mir jedoch glauben, wenn ich ihm erzählte, dass eine Siebzehnjährige versucht hatte, mich aus dem Weg zu räumen? Ich hatte, bis auf Amanda, keine Zeugen. Wie sollte ich mein verbranntes Schlafzimmer erklären? Am Ende war ich wahrscheinlich derjenige, der in Bedrängnis geriet, weil er ein unschuldiges Mädchen verführen und ungesunde Spielchen mit ihm hatte spielen wollen. Der ganze Lauenstein-Clan würde sich auf mich stürzen, mich in tausend Fetzen zerreißen. Das konnte und wollte ich nicht riskieren. Ich hielt besser die Füße still und wartete ab. Rebecca lag angeschlagen danieder, ihr Vater hatte sich einen Irrtum eingestehen müssen, seine Testreihe war bei mir ins Leere gelaufen. Den Zorn würde wahrscheinlich die Tochter abbekommen. Das konnte mir nur recht sein. Vielleicht erledigte sich das ganze Problem am Ende ganz von selbst. Das jedenfalls dachte ich, bis ich in Gedanken an meinem Bernstein herumzuspielen begann, den ich seit achtundzwanzig Jahren um den Hals trug.


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