34. Pommes rotweiß + Chlor = Sommer
Ich signalisierte Lauenstein, dass ich zu gehen wünschte. Er jedoch bat mich, einen noch Moment zu bleiben. Erneut nahm er Haltung an, indem er den Rücken durchdrückte, die Ellenbogen wieder auf den Tisch stützte und die Fingerspitzen aneinander legte.
„Lupo, eine letzte Frage bevor wir unsere kleine Unterredung hier beenden. Hattest du schon jemals das Gefühl jemand anderes zu sein?"
Ja, dachte ich, das kommt dir bekannt vor. Im Lateinunterricht von Frau Wiese kam ich mir vor wie ein Vollidiot, für Mara war ich mal der Prinz, auf Opas Weltkriegsmotorrad hatte ich mich wie Gott gefühlt und als Jugendlicher hatte ich ein paar Jahre fest geglaubt, ich sei in Wirklichkeit ein Außerirdischer, der zu Forschungszwecken in Grubenhagen ausgesetzt worden war und irgendwann wieder abgeholt werden würde.
„Ich meine, hast du dich eventuell schon einmal im Körper eines anderen wiedergefunden, oder hast du dich in jemand anderen verwandelt?"
Ich stutzte. Solch merkwürdige Fragen hatte mir noch nie jemand gestellt. Tausend Gedanken gleichzeitig schossen mir durch den Kopf. Keinen davon gelang es mir festzuhalten. Also glotzte ich Lauenstein einfach nur blöde an. Und er glotzte zurück. Wartete wahrscheinlich auf eine Antwort, die ich nicht für ihn hatte.
„ Keine Verwandlung, Herr Lauenstein, kein Körpertausch mit jemand anderem, und ehrlich gesagt möchte ich jetzt gehen!"
Lauenstein sprang auf, rieb sich die Hände und senkte dabei beschämt den Kopf, auf dem ich kahle Stellen erblickte. Fast schon unterwürfig streckte er mir die Hand entgegen. Seine Überheblichkeit von vorhin war wie weggeblasen.
„Entschuldige, dass ich dir deine Zeit gestohlen habe! Es war nur so, ich dachte, dass ..."
Bei diesen Worten legte er die linke Hand auf ein schmales Büchlein, das schon die ganze Zeit über neben den Versuchsgegenständen gelegen haben musste. Jetzt wurde ich doch neugierig.
„Was genau dachten sie, Herr Lauenstein?"
Er hielt sich die zur Faust geballte Hand vor den Mund und hustete hinein.
„Rebecca dachte es auch, und deshalb ... Ich muss ein ernstes Wort mit ihr sprechen!"
Pastor Lauenstein lief an mir vorbei aus dem Büro, durch den Flur ins dunkle Haus hinein. Seine Schritte polterten auf der Treppe. Weg war er. Ich wartete noch kurz, doch er kam nicht wieder. Die Situation war günstig. Ich griff nach dem Büchlein auf dem Schreibtisch, zog Das Necronomicum aus dem Buchregal, steckte mir beides in den hinteren Hosenbund, gerade rechtzeitig bevor Frau Lauenstein in der Bürotür erschien und mich zum Ausgang geleitete. Ich gab ihr brav die Hand. Sie sagte nicht, beehren sie uns bald wieder, sondern strich mir nur flüchtig über die Schulter. Dann trat ich hinaus in die warme Augustsonne, wo noch immer die Spatzen herumhüpften und zwischen den Pflastersteinen nach Futter suchten. Als ich auf sie zuging stoben sie davon und ließen sich in einem blühenden Busch am Rande des Pfarrgartens nieder.
Ich wollte Sven anrufen und ihn zu einem Besuch des Freibads einladen, denn ich hatte das Bedürfnis nach einem ganz normalen Sonntagnachmittag.
Mein Lieblingsplatz war schon immer der hinter dem Nichtschwimmerbecken, an der niedrigen Buchsbaumhecke und den Ahornbäumen gewesen. Hier gab es an heißen Tagen viel kühlenden Schatten und man hatte einen guten Überblick wer das Bad betrat und wer es verließ. Das war heute genau wie damals. Ich hatte mich nur ungern von der plötzlichen Ankunft der Mädchenclique überraschen lassen. Der weite Blick gab mir genügend Zeit meine Badehose zu richten, das verstrubbelte, nasse Haar zu ordnen und das Micky-Maus-Heft unter der Decke zu verstecken.
Näherten sich die Arschkrampen Udo, Tommi und Frank aus der Parallelklasse, von denen ich wusste, dass sie mich auf dem Kieker hatten, konnte ich rechtzeitig meine Klamotten in den Rucksack schmeißen und mich aus dem Staub machen, bevor sie sich grölend auf mich stürzten, mir die Badehose auszogen und sie in die Äste irgendeines Baumes warfen.
Heute wie damals lag ich auf meiner braun karierten Wolldecke, von der Mama Beauty nicht müde wurde zu erzählen, dies sei die Decke, auf welcher ich gezeugt worden war. Eine wunderbare Legende, die ich schon immer ein wenig ekelig fand, die mir jedoch auf eine unerklärliche Weise Kraft gab. Ich dachte an die Worte, die meine Mutter mir bei meinem letzten Besuch zugelallt hatte: dass es da noch einen anderen Kerl gegeben hätte, mein Vater nicht mein Vater und die Zeit reif für die Wahrheit sei. Dann war die Geschichte mit der Decke wahrscheinlich auch eine Lüge. Es ist sehr unangenehm wenn alte Gewissheiten von heute auf morgen zu Staub zerfallen, und weit und breit kein Ersatz in Sicht ist!
Eine gute halbe Stunde spät als verabredet kam Sven auf mich zugeschlendert. Wie immer trug er lange Jeans, ein weites, übergroßes Hemd, das seine Leibesfülle kaschieren sollte, obwohl jeder Blinde mit Krückstock sehen konnte, dass Sven stark übergewichtig war. Doch egal. Ich schätzte seine Gesellschaft und seinen wachen Geist. Er war mein Freund.
Sven schmiss seine Schwimmtasche auf die Decke. Beim Aufkommen klapperte es verdächtig. Bestimmt hatte er uns wieder ein luxuriöses Picknick in Tupperdosen kredenzt. Im Gegensatz zu mir verabscheute er Schwimmbad-Pommes rotweiß. Wenn der Duft des Friteusenfettes sich mit dem des Chlorwassers paarte, das war für mich Sommer!
Die Sonne stand noch immer beinahe senkrecht über uns. Ich hielt den angeleckten Zeigefinger in die Luft und schätzte die Lufttemperatur. Sechsundzwanzig Grad. Es war höchste Zeit, ins Wasser zu springen.
Im Nichtschwimmerbecken tauchten wir um die Wette, zum Ärger vieler Väter und Mütter, die sich um das Wohlergehen ihrer Kleinsten sorgten. Einmal tauchte Sven tatsächlich unglücklich auf und steckte plötzlich mit dem Kopf in einem rosafarbenen Schwimmreifen. Das Geschrei des Kindes und das Gezeter der Eltern hörte man bestimmt bis zum Kassenhäuschen.
Wir sprangen vom Einer, dann vom Dreier. Anschließend kletterten wir auf den Fünfer, von dem jedoch nur Sven sich in die Tiefe fallen ließ und mit einer gewaltigen Fontäne ins Becken tauchte. Ich hingegen musste einsehen, dass ich nicht schwindelfrei war und nahm den Weg zurück über die Leiter.
Der Applaus für Svens gigantische Arschbombe war so enorm, dass er gleich noch einmal sprang. Er beließ es nicht dabei und legte noch einen drauf, ergänzte eine Art Schraube, die zunächst überaus elegant aussah, im nächsten Augenblick aber für aufgerissene Münder und schreckgeweitete Augen am Beckenrand sorgte. Sven hatte sein Können überschätzt. Mit einem schrecklichen, weithin hörbaren Bauchklatscher schlug er auf der Wasseroberfläche auf.
Brust, Bauch, Oberschenkel und das Gesicht waren puterrot. Sven brauchte nichts zu sagen, sein schmerzverzerrtes Gesicht sagte alles. Ich machte ihn auf seine Badehose aufmerksam, welche ihm schief über dem Hintern hing, denn seine behaarte Pobacke wirkte wenig anheimelnd. Dann hakte ich ihn unter und wir trotteten mit Babyschritten zurück zu unserem Platz, wo Sven sich auf die Decke gleiten ließ, um in den kommenden zwei Stunden nicht mehr aufzustehen.
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