33. Schwarze Liste, Hokuspokus
Pastor Lauenstein war viel zu sehr mit seiner schlafenden Tochter beschäftigt, um zu bemerken wie ich die handgeschriebene Namensliste von der Wand nahm, sie faltete und mir geräuschlos in die Hosentasche schob. Lauenstein sah auf und blickte mich über das breite Bett hinweg an. Ich fühlte mich bemüßigt, etwas zu sagen und grinste dabei unbeholfen.
„Auch ich hoffe, dass es Rebecca bald wieder besser geht!"
Lauenstein nickte, sah auf seine Hände und erhob sich. Ich deutete das als Aufbruchssignal. Endlich! Geschafft! Raus aus der Schneewittchen-Gruft!
„Gehen wir wieder in mein Büro!"
Also zurück in den Flur, die Treppe hinunter, raus aus dem Bauch des Hauses. Erst jetzt wurde mir bewusst wie hell es in Lauensteins Arbeitszimmer war. Das Leben hatte uns wieder. Erneut ließ er sich in seinen Stuhl fallen, auch ich setzte mich wieder. Und jetzt? Was kam jetzt?
Der Pastor rutschte mit dem Stuhl nach hinten, beugte sich dann nach vorn, öffnete eine Schublade seines Schreibtisches und entnahm ihr nacheinander eine Reihe von Gegenständen. Eine kleine, dunkelblaue Schmuckschatulle, einen Lederbeutel, in dem es geheimnisvoll klapperte, ein handgroßes Bronzekreuz und sechs Spielwürfel. Sorgfältig legte er die Sachen auf die Schreibtischplatte, schloss die Schublade wieder und rutschte mit dem Stuhl zurück an seinen alten Platz.
„Ein pfiffiges Mädchen habe ich!"
Das hatte ich doch schon öfter gehört! Entweder neigte Lauenstein zu Wiederholungen, oder er litt unter einem löchrigen Kurzzeitgedächtnis.
„Ihr habe ich zu verdanken, dass du heute hier bist! Sie hat den richtigen Riecher und findet einen Wittich noch tausend Meter gegen den Wind!"
Ich musste widersprechen: „Scholz, ich heiße Scholz. Lupo Scholz!"
Lauenstein wedelte mit der Hand in der Luft herum.
„Ich weiß, ich weiß! Nur die Ruhe! Lass uns ein paar Versuche machen, vielleicht wird dann einiges klarer!"
Versuche? Welche Versuche zum Donnerkeil? Wie bescheuert war ich eigentlich gewesen, mich auf diese Einladung einzulassen! Ich saß hier mit einem Reiter der Apokalypse bei Kaffee und Keksen, plauderte mit ihm über seine verzogene Tochter und ließ ihn Zaubertricks vorführen? Was kam als nächstes? Sollte ich die Arme hochreißen und applaudieren? Noch hatte ich die Gelegenheit aufzuspringen, Lauenstein freundlich den Mittelfinger zu zeigen und auf Nimmerwiedersehen zu verschwinden. Weshalb ich das nicht tat? Weil ich wusste, dass irgendwo in den Tiefen des Lauensteinschen Hauses die drei Söhne lauerten, bewaffnet mit Spazierstöcken, jederzeit bereit mir hinterher zu springen und mich zurück ins Pfarrhaus zu zerren.
Also beschloss ich Lauenstein einen Gefallen zu tun, indem ich blieb und seine Spielchen erduldete. In zwanzig Minuten, so hoffte, ich würde der Spuk hier ein Ende haben.
Lauenstein legte Beutel, Würfel, Schatulle und Kreuz feinsäuberlich nebeneinander und strich sanft mit der Handfläche darüber. Als erstes griff er nach dem Beutel, schüttelte ihn ein wenig, so dass es erneut zu klappern begann.
„Ich möchte, dass du mir sagst was sich hier drin befindet!"
Ich streckte die Hand aus, in der Erwartung, dass er mir den Beutel geben würde und ich hineinsehen könnte.
„Nein, Lupo! Reingucken kann jeder Trottel! Ich will, dass du mir ohne nachzusehen sagst was hier drin ist!"
So lief das also. Nicht er führte mir irgendwelche Tricks vor, sondern ich ihm. Es war erstaunlich. Schon bevor Lauenstein mir die Aufgabe gab, hatte ich gewusst was sich in dem Beutel befand. Tierknochen. Der Oberschenkelknochen eines Hasen, der Schädel einer Spitzmaus, mehrere Rippen einer Amsel und die Wirbelknochen einer Katze. Ich wollte gerade den Mund öffnen und stolz verkünden was ich wusste, als ich spürte wie es warm wurde auf meiner Brust.
Ein kleiner warmer Punkt auf Höhe des Brustbeins. Mein Bernstein-Medaillon, ich hatte es beinahe schon vergessen. Seit ich denken konnte trug ich es um den Hals, und vielleicht war ich damit schon zur Welt gekommen! Zu keinem Zeitpunkt in meinem Leben hatte ich es abgenommen, nicht beim Schwimmen, nicht beim Arzt, nicht in der Badewanne, nicht im Bett. Wenn ich es als kleiner Junge doch einmal versucht hatte, dann hatte ich immer mächtig Ärger mit meiner Mutter bekommen. Das Medaillon war ein Teil von mir. Es war mit mir verwachsen und ich mit ihm.
Die Wärme, welche es abstrahlte war jedoch etwas Neues! Sie wurde zunehmend unangenehmer, steigerte sich zu einer Hitze und begann sich anzufühlen, als würde jemand eine Zigarette auf meiner Brust ausdrücken. Eine unbekannte Kraft ließ meinen Mund wieder zuklappen, bevor ich auch nur eine Silbe sagen konnte, gleichzeitig flüsterte mir eine innere Stimme zu: „Sag ihm, dass in dem Beutel Playmobilfiguren, Matchboxautos und Legosteine sind. Behalte die Sache mit den Knochen bloß für dich!"
Eine Menge merkwürdiger Dinge waren in den letzten Tagen geschehen. Ich hatte gelernt, allem zu vertrauen, was man nicht sehen, nicht hören, nicht anfassen konnte. Was also sprach dagegen, mich auf das Brabbeln in meinem Kopf zu verlassen!
Ich straffte mich, stellte die Kaffeetasse auf den Schreibtisch und sagte selbstbewusst: „Legosteine sind da drin! Gelbe, schwarze, rote. Set-Nummer 6365. das Sommerhaus!"
Die Enttäuschung stand dem Pastor ins Gesicht geschrieben. Was war ich doch für ein durchtriebener Bursche! Mit schlaffen Bewegungen legte Lauenstein den Beutel zurück an seinen Platz. Dann griff er nach dem nächsten Artefakt. Ich sollte die Summe eines Würfelwurfs voraussagen. Meine innere Stimme, ich hatte sie unterdessen Maras Vögelchen genannt, sagte: „Vierundzwanzig". Mein Mund jedoch sprach: „Dreiunddreißig".
Aus der Schmuckschatulle zog er einen länglichen, schwarzen Stein, der die Form eines blank polierten Raubtierzahns hatte. Lauenstein bat mich, ihn in die Hand zu nehmen und ihm zu sagen was ich spürte.
Der Schmerz war unerträglich. Ein Brennen als hielte ich meine Hand in Magma-Schecks Glutwampe, doch gelang es mir cool wie ein Einsblock zu bleiben.
Lauenstein glotzte mich ungläubig an. Unter seinen Augen zeigten sich dunkle Schatten.
„Nichts? Nicht mal ein Zwirbeln?"
Ich kniff den Mund zusammen und schüttelte den Kopf. Jetzt kam das Bronzekreuz. Lauenstein kam um seinen Tisch herum und presste es mir ohne Vorwarnung auf die Stirn. Ich spürte die angenehme Kühle des Metalls, weiter nichts. Müde kehrte Lauenstein zurück zu seinem Stuhl. Er griff sich in den Kragen seines Talars, zog mit einem Ruck das Beffchen heraus und schleuderte es hinter sich auf einen Büchertisch. Dann drehte er den Kopf von mir weg und starrte auf den sonnenbeschienenen Kirchhof. Spatzen hüpften über das Pflaster und pickten zwischen den Pflastersteinen herum. Ich spürte es, die Unterredung kam zu ihrem Ende.
Schweiß stand ihm auf der verwachsenen Oberlippe. Plötzlich wirkte Pastor Lauenstein gar nicht mehr wie ein Reiter der Apokalypse, sondern nur noch wie ein blasser und gedemütigter Vater. Beinahe hatte ich Mitleid mit ihm.
„Da hat sich mein Töchterchen wohl geirrt. Doch nicht drei zu zwei. Nur zwei zu zwei. Gleichstand. Du bist also gar kein Wittich!"
Sagte ich doch! Ich war Lupo, Lupo Scholz, und ich hätte es unheimlich nett gefunden, wenn Rebecca meinen Namen von ihrer schwarzen Liste streichen würde!
Das Medaillon war nur noch lauwarm, Maras Vögelchen zwitscherte nicht mehr.
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