31. Drei zu zwei für Rebecca Lauenstein

Lauensteins Büro erschien mir so groß wie meine gesamte Wohnung. Ein riesiger Eichenschreibtisch, in dem sich Tradition und Geschichte dieses Ortes geradezu manifestierten, bildete das Zentrum seines Gemaches. An den Wänden wuchsen dunkle Bücherregale bis an die Decke, vollgestopft mit Manuskripten, alten Folianten und einer unendlichen Anzahl theologischer Fachliteratur. Einige der Titel sprangen mir ins Auge, weil ich sie hier nicht erwartet hatte: Kraftorte des Harzes; Geisterglaube; Von unaussprechlichen Kulten; Heidnische Bräuche; Das Necronomicum; Der Hexenhammer.

Was hatte Lauenstein damit am Hut? Das alles passte viel eher in die Silva-Mystica-Welt, nicht aber in ein Pfarrhaus!

An das Necronomicum erinnerte ich mich. Bis zur zehnten Klasse saß ich neben einem Mitschüler, der sommers wie winters einen langen schwarzen Mantel, welcher stets nach abgestandener Luft, Schweiß und Mottenkugeln roch, dazu schwarze, löchrige Jeans und Springerstiefel aus dem Nato-Shop trug . Konstantin nannte sich selbst einen Grufti. Wirkliche Freunde hatte er nicht in der Klasse. Montags erzählte er mir immer von seinen Saufgelagen, bei denen er und seine Dorfkumpel es wieder richtig hatten krachen lassen. Er prahlte damit wie viel er vertrug, und dass er quasi schon alles getrunken und eingenommen hatte, was legal als auch nicht legal zu kriegen war. Eines Tages brachte er ein abgegriffenes, speckiges Buch mit schwarzem Umschlag in die Schule und legte es mir auf den Tisch. Ich las den Titel und fuhr mit dem Finger über das eingeprägte, silberfarbene Pentagramm, und verstand. Ein paar Tage später erfuhren wir von unserem Klassenlehrer Herrn Pinke, dass Konstantin nicht mehr zur Schule kommen würde. Die Polizei hatte ihn und zwei Mitstreiter aufgegriffen, als sie auf dem Hauptfriedhof nächtens eine Katze geopfert und dabei satanische Verse rezitiert hatten. Einige Tage später ging ich in die Stadtbücherei, weil ich mehr über dieses Necronomicum wissen wollte. Ich erfuhr, dass es sich um eine Sammlung von Zaubersprüchen und Verschwörungsformeln handelte, mit denen man unter anderem Geister beschwören konnte, auch Feuergeister!

Wo immer zwischen den Büchern Platz war, hatte Lauenstein kleine Kostbarkeiten platziert. Ringe, Engelsfiguren, Kruzifixe aus Holz, Metall oder Elfenbein, in allen erdenklichen Ausführungen und Größen, kleine Heiligenbilder in eckigen, runden und verschnörkelten Rahmen, Tierfiguren, und diverse Krippenarrangements mit Stall, Königen, Maria, Josef und Jesuskind.

Pastor Lauenstein schloss die hohe Tür hinter uns, umrundete den mächtigen Schreibtisch und ließ sich in einen breiten, hölzernen Armlehnstuhl fallen.

„Setzen sie sich, Lupo, und nehmen sie Kaffee und Kekse!"

Das war zwar keine Mandarinentorte, und der Kaffee am Sösedamm war unübertroffen, doch ich griff trotzdem zu. Ich bekam ja nicht alle Tage die Gelegenheit aus solch feinem, heiligen Porzellan zu trinken.

Während ich die trockenen Kekse kaute und sie mit großen Schlucken Kaffee hinunter spülte, musterte Lauenstein mich eindringlich. Als müsse er sich jedes Detail meiner Erscheinung einprägen, um nach unserem Gespräch eine detaillierte Zeugenaussage machen zu können.

Theatralisch stützte er die Ellenbogen auf die Lehnen und legte die Fingerspitzen aneinander, so dass die Hände ein perfektes Dreieck bildeten. Gott Vater, Sohn und heiliger Geist.

„Weshalb hast du neulich im Copyladen nichts gesagt?"

Dazu äußerte ich mich lieber nicht. Und, so schnell waren wir beim Du? Ich entschied mich für eine Gegenfrage, um die Situation ein wenig aufzulockern.

„War das da neulich ein Pferd auf unserem Parkplatz?"

Lauenstein lächelte. Er schien amüsiert. Hatte ich ihn jemals so freundlich gesehen?

„Und da es das dritte Siegel auftat, hörte ich das dritte Tier sagen: Komm! Und ich sah, und siehe, ein schwarzes Pferd. Und der darauf saß, hatte eine Waage in seiner Hand ..."

Rätsel, nichts als Rätsel. Was wollte er mir mitteilen?

„Censor, mein treuer Hengst. In der Tat, ich nehme gern das Pferd. Sie sind so erhaben, stehen über den Dingen. Wie gemacht für mich ..."

Es fehlte nicht viel und ich hätte ihm den Kaffee vor lauter Abscheu auf den Schreibtisch gespuckt.

„Ich erinnere mich recht gut an dich, Lupo! Du bist doch derjenige, der immer diese lustigen Strichmännchen mit du weißt schon in die Bibeln gemalt hat!"

Gesangsbücher, es waren die Gesangsbücher gewesen, welche ich verschönert hatte! Erwartete er ernsthaft, dass ich mich vierzehn Jahre später dazu äußerte? Das waren Jugendsünden, ewig verjährt. Wenn es jedoch das einzige war, was Lauenstein über mich im Gedächtnis behalten hatte, dann konnte er keine hohe Meinung von mir haben. Für ihn war ich ein Dödel, mehr nicht.

Ich schenkte mir Kaffee nach, weißte ihn mit reichlich Milch, nahm mir aus Mitleid gegenüber seiner Frau noch ein paar Ingwerkekse und ließ meine Blicke erneut über die Bücherregale schweifen. Weshalb genau hatte Lauenstein mich eigentlich hergebeten? Je länger er schwieg und mich musterte, je länger ich an meiner Tasse nippte und Löcher in die Buchrücken starrte, desto unerträglicher wurde die Situation.

Denn es war ja so: die ganze Zeit über schwebte dieser Verdacht im Raum, ich, Lupo Scholz, könnte Rebecca, der Pastorentochter, etwas angetan haben. Entweder erfolgte Lauensteins Tobsuchtsanfall in allernächster Zeit, oder der Boden tat sich unter mir auf, um mich mit Haut und Haar zu verschlucken, oder aber ein Blitz fuhr vom Himmel herab durchs Dach und spaltete meinen Schädel in zwei saubere Hälften.

Doch es kam völlig anders.

Lauenstein schob seine Tasse und den Teller mit Keksen zur Seite und lümmelte sich, so lässig es ihm in seinem Talar möglich war, in seinen Stuhl. Dann begann er sehr entspannt und beinahe schon euphorisch von seiner Tochter zu erzählen.

„Ich habe keine Ahnung was ihr beiden gestern Abend getrieben habt, woher Rebeccas Brandblasen, Hautabschürfungen und Prellungen stammen, aber ich muss dir sagen, dass ich verdammt stolz auf meine Tochter bin!"

Mir klappte die Kinnlade herunter und spürte wie mir eine kleine Menge Speichel aus dem Mundwinkel lief. Was war das hier? Eine Finte? Ein riesiges Täuschungsmanöver? Mir fiel wieder ein was man sich noch über Pastor Lauenstein erzählte. Dass er nicht alle Tassen im Schrank habe, was mir durchaus schon aufgefallen war, und dass er unter einer gespaltenen Persönlichkeit leide, sich aber nie habe behandeln lassen, weil ein echter Kerl so etwas nicht nötig hatte.

„Drei zu zwei für Rebecca!", rief er plötzlich aus, und seine Wangen nahmen einen roséfarbenen Ton an.

Worum ging es hier eigentlich, einen Wettbewerb? Wer wieviele ekelige Ingwerkekse verdrücken, oder wer wieviele achtundzwanzigjährige, junge Männer ans Bett fesseln konnte?

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