3. Dunkle Gedanken, Klebe-Layouts
Was die Schreiberlinge vom Crypto konnten, konnte ich auch. Seit Monaten berichteten sie über einen ungewöhnlich großen Wolf, der durch die Wälder des Harzes streifte. Und wie das bei diesen Typen so häufig der Fall war, hatte niemand ihn bisher fotografieren können. Genau das hatte jedoch auf merkwürdige Weise meinen Ehrgeiz geweckt. Wenn ich dieses Viech vor die Linse bekam und ich die Aufnahmen in meiner eigenen Zeitschrift veröffentlichte, würde ich in die Ruhmeshalle der Krypto-Nerds einziehen und hätte in der Szene zukünftig alle Narrenfreiheit.
Ich betete zu Gott, dass die Nächte im Wald nicht umsonst gewesen waren. An der Nachtsichtkamera hatte ich wochenlang herumgeschraubt bis sie endlich einsatzbereit war. Für manche Bauteile hatte ich dutzende Male die Flohmärkte der Umgebung abgegrast. Ein fertiges Gerät hätte ich mir niemals leisten können. Außerdem besaßen die meisten Nachtsichtgeräte keine Fotofunktion. Und die brauchte ich für mein Vorhaben.
Ich dachte an Mara. Wie sie um die Tische herumwuselte, Bestellungen aufnahm, fremde Menschen anlächelte. Ich sah ihre wunderschöne Handschrift vor mir, die ich so liebte und die immer noch der eines Mädchens glich, mit ganz vielen Schlaufen und abgerundeten Buchstaben.
Verdammt. Diese Fotos hatte ich doch auch für sie gemacht! Um ihr zu beweisen, dass ich mir die Sache mit dem Wolf nicht bloß einbildete. Dass er dort oben wirklich und leibhaftig durch die Wälder lief.
„Wölfe? Der letzte wurde im Harz doch 1898 abgeknallt!", sagte sie. Doch nicht für den Wolf lachte sie mich aus. Eher dafür, dass ich felsenfest überzeugt davon war, dieser Wolf sei anders als andere. Dafür hatte ich triftige Gründe. Er war deutlich größer als normale Wölfe, sein Fell schwärzer, seine Augen seltsam trüb. Ganz so als hätte er sein Leben an einem Ort ohne Tageslicht verbracht. So stand es jedenfalls in der Crypto, Ausgabe November 1980.
Die Pfotenabdrücke am Ufer des ausgetrockneten Waldsees, den alle nur das Loch nannten, waren angeblich riesig gewesen.
„Du brauchst eine Story für deine verrückte Zeitschrift, das ist alles! Und wenn du nichts findest, dann denkst du dir einfach was aus!"
„Na und!", hatte ich entgegnet. „Andere machen für Geld noch ganz andere Dinge!"
Ich hatte versucht, es mir nicht anmerken zu lassen. Doch ihre Worte trafen mich. Bis ins Mark. Und noch viel tiefer. Tiefer als sie sich vorstellen konnte. Denn eigentlich mochte sie mich. Ja doch, sie mochte mich. Den verschrobenen Typen, mit seinen komischen Geschichten, seinen Monsterfotos und diesem merkwürdigen Drang tagelang in einem gammeligen Zelt herumzuliegen und auf das Foto seines Lebens zu warten.
Achtundzwanzig war ich jetzt und noch immer Welten von einem Beruf entfernt, den andere als anständig bezeichnen würden, mit einem regelmäßigen Einkommen und so weiter und so fort. Ich schlug mich mit Gelegenheitsarbeiten durch. Zur Zeit schuftete ich in einem Kopierladen in der Bahnhofstraße.
Ich hatte das Gymnasium besucht. Seit der siebten Klasse war allen außer mir klar, dass ich mal was mit Kunst machen würde. Im Unterricht interessierte ich mich mehr für meine Skizzenbücher als für das was vorn an der Tafel geschah. Wie ich letztendlich das Abitur bestand, war mir bis heute vollkommen schleierhaft.
Ich verweigerte den Dienst an der Waffe, absolvierte meinen Zivildienst in einer heruntergekommenen Jugendherberge auf Norderney und zog anschließend nach Braunschweig, bewarb mich an der Kunsthochschule und wurde spontan angenommen. Ich fühlte mich gut. So mies konnten meine Zeichnungen und Fotos also gar nicht gewesen sein!
Anfangs lief es noch ganz gut. Nette Mitstudenten, gute Partys, aufgeschlossene Professoren, gute Rückmeldungen auf meine Arbeiten.
Dann, nach zwei Semestern, trennten sich meine Eltern, ohne dass ich von dem Vorbeben, das zu Hause getobt haben musste, auch nur im Ansatz etwas mitbekommen hatte.
Mein Vater zog nach Hannover, meine Mutter blieb im gemeinsamen Haus. Nie hätte ich für möglich gehalten, dass mich eine solche Geschichte so dermaßen aus der Bahn werfen würde. Ich war erwachsen, wusste durchaus um die beschissenen Seiten, die das Leben einem so zumuten konnte.
Aber das war mir dann doch eine ganze Schippe zu viel!
Ich brach das Studium ab und zog zurück zu meiner Mutter.
Aus Sorge. Aus Mitleid. Sie wehrte sich nicht.
Der größte Fehler, den ich je begangen habe! Nicht weil ich sie nicht liebte. Nicht weil sie mich nicht liebte. Sondern weil ich von einem Tag auf den anderen meine Selbstständigkeit, meine Würde, ohne jede Not fort geschmissen hatte, zahm und willenlos wieder dorthin zurück gekrochen war woher ich einst gekommen war.
Meine Mutter schien nicht traurig über den Fortgang meines Vaters. Nur ein einziges Mal, am Tag meiner Rückkehr, erzählte sie mir mit feuchten Augen von dieser anderen Frau. Dunkelhaarig, ein paar Jahre jünger, sportlich. Ich bot spontan an, ihr und meinem Vater etwas Böses anzutun. Meine Mutter lehnte jedoch ab. Danach kam sie nie wieder darauf zu sprechen. Das Thema schien für sie erledigt.
Mein Vater kam nie zurück, um seine Sachen zu holen. Den Computer, die vielen Bücher, seine Werkzeuge, den Hometrainer. All das lag eines Morgens am Straßenrand und wartete auf die Müllabfuhr. Als meine Mutter nicht hinsah, nahm ich den Werkzeugkoffer und diejenigen Bücher, welche mir rettungswürdig erschienen und versteckte sie im Fahrradkeller.
Auch ich hatte seitdem nichts mehr von meinem Vater gehört. Ich schien ihm egal zu sein. Und auch in mir verblasste mehr und mehr der Wunsch ihn wiederzusehen.
Schon als ich die Negative gegen das Licht hielt war mir klar, dass die nächtliche Aktion für die Katz gewesen war. Die Abzüge der Bilder, auf denen außer Fichtenstämmen, trockenen Ästen und Brombeerranken nichts zu erkennen war, konnte ich mir getrost sparen. Verdammt, ich war mir so sicher gewesen! War ich auf Hundespuren hereingefallen? Ich wusste, dass diese sich vergrößerten wenn es regnete, der Waldboden nass wurde und nachgab. Es gab eine Menge Hundebesitzer, die mit ihren Vierbeinern durch den Wald liefen. Nicht zuletzt der dürre Revierförster Krome, der mit seinem Jagdhund dort oben ständig entlang lief. Ich versuchte mich an seinen Namen zu erinnern. Er fiel mir jedoch nicht ein.
Außerdem hatte doch dieser Andreas in der letzten Ausgabe von Crypto von eben jenen Tieren berichtet. Er hatte auch einen Ort im Harz genannt, wo sie angeblich gesichtet worden waren. Nur Fotos hatte er nicht beigebracht. Verdammt, diese Knalltüten hatten mich doch tatsächlich infiziert! Wie konnte ich nur ...? Wie krank war ich?
Ich zerknüllte die Negative und schmiss sie in den Mülleimer.
Hatte Mara vielleicht doch Recht? War ich jetzt auch zu einem dieser Spinner geworden, verliebt in schräge Ideen, unfähig die Wirklichkeit als das zu sehen was sie war, ein mythenbefreiter Raum?
Ich löschte das Licht der Dunkelkammer und stapfte zurück in die Küche. Sollte ich mir einen frischen Kaffee machen, oder ein Bier öffnen? Allein zu trinken konnte sehr deprimierend sein. Ich sah noch einmal durchs Fenster hinunter auf den Hof. Frau Scheck war nirgends zu sehen. Mein Blick wanderte über die Schuppentüren im Innenhof. Bis auf eine waren alle geschlossen und mit einem Metallriegel gesichert.
Ich entschied mich für den Kaffee und gegen das Bier.
Auf meinem Schreibtisch lag das zusammengeklebte Layout für die erste Ausgabe meiner eigenen Zeitschrift. Silva Mystica. Ich fand den Titel einfach genial. Er klang gelehrt, aber auch geheimnisvoll und bedeutete so viel wie „Mystischer Wald". Angekündigt hatte ich meinen wenigen Abonnenten, die ich über Kleinanzeigen geködert hatte, die Ausgabe schon zum ersten des Monats, doch da ich der einzige Autor des Blattes war, war ich etwas in Verzug. Den Artikel über den Riesenwolf hatte ich schon geschrieben und ins Layout eingefügt. Dazwischen leuchtete schmerzlich das weiße Papier. Es fehlten die Bilder. Verdammt! Meine Idee war es gewesen der Öffentlichkeit zum ersten Mal echte, nicht gefälschte Kryptotiere zu präsentieren. Auch das Titelblatt war bis auf den Titel und die Aufmacherthemen noch weiß wie die Unschuld.
Viel fehlte nicht mehr und ich fegte die vierzig Doppelseiten vom Tisch, um sie nie wieder anzurühren. Dann aber dachte ich an die Bildersammlung in der Dunkelkammer. Gab es da nicht ein paar Motive, die ich verwenden konnte? Vor Jahren hatte ich in der Gegend irgendwelche verwahrlosten Köter fotografiert und die Bilder so manipuliert, dass sie am Ende wie leibhaftige Höllenhunde aussahen. Nur zwei oder drei der Bilder hatte ich damals verkauft, die übrigen schimmelten vergessen in irgend einem Karton vor sich hin.
Nicht mal zwei Minuten brauchte ich, um sie zu finden. Dabei fielen mir noch etliche andere Aufnahmen in die Hand, die ich in den vergangenen Jahren zusammengepfuscht hatte, und für die mich die Krypto-Nerds liebten.
Der Riesensalamander aus Holz, Ton und Knete, groß wie ein Baby. Der Schädel eines Einhorns, aus Gips. Knochen eines Waldmenschen, in Wirklichkeit aus Pappmaché. Die mumifizierte Leiche eines Zwerges, aus Holz, Tapetenkleister und Lack. Das Loch eines Riesenwurms, in stundenlanger, schweißtreibender Handarbeit ausgehoben. Schließlich die Monster-Zecke aus einem mit Wasser gefüllten Ballon, Kunstfell, Holzbeinen und viel Farbe.
Wenn das die Bilder waren, welche Frau Scheck gesehen hatte, dann Prost Mahlzeit! Dann war ich bei ihr endgültig unten durch und brauchte mich in Zukunft weder bei ihr noch den Nachbarn blicken zu lassen.
Die Höllenhundfotos musste ich bloß ein wenig zurecht schneiden, so dass sie ins Seitenlayout und auf das Titelblatt passten. Dann brauchte ich heute Nacht nur noch ein letztes Mal Korrektur zu lesen und konnte die Seiten morgen im Copyshop vervielfältigen. Ich hatte Hieronymus schon vor einer Woche angekündigt, dass ich den Schwarzweiß-Kopierer Nummer 3 für eine Stunde in Beschlag nehmen würde. Er hatte nicht protestiert. Nur die Kosten musste ich selbst tragen. Aber ich hatte von meinem Chef, ehrlich gesagt, nichts anderes erwartet. Bei diesem üppigen Stundenlohn von drei Mark fünfzig.
Der Gedanke an die dreiundzwanzig Briefumschläge, die ich in den kommenden Tagen anlecken, beschriften und frankieren würde, an die verschrobenen, leichtgläubigen Kryptomonsterjäger, die meine Zeitung vorbestellt hatten, und nicht zuletzt die hübsche Summe Geld auf meinem Konto, ließen mein Herz höher schlagen.
Auch wenn Mara nichts mehr von mir wissen wollte und ich zwei Tage umsonst im Schlamm herumgekrochen war. Irgendwie war mir das in diesem Moment egal.
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