26. Schnäpschen, Beichte, Bandsalat

In meinem ehemaligen Kinderzimmer hatte Mama Beauty sich einen lauschigen Rückzugsort eingerichtet, ihren Weltenraum, wie sie ihn nannte. Hier roch es nach Räucherkerzen, Duftlampenöl und manchmal auch nach Gras. Auf einem alten Holztisch mit zerkratzter Platte legte sie ihre Karten-Labyrinthe. Das sehr komplexe, äußerst unübersichtliche System, nach dem die bunten Bilder mit ihren jeweiligen Bedeutungen angeordnet waren, forderte mich geradezu heraus, selbst ein wenig Schicksal zu spielen. Ich griff nach einer Karte, auf der ein alter Mann mit Rauschebart und rotem Mantel abgebildet war, der Magier, und ließ sie unter den Schreibtisch fallen.

Ich empfand diebische Freude, gleichzeitig empfand ich mich einmal mehr als furchtbar undankbar und heimtückisch. Als ich die Karte aufheben und an ihren Platz zurück legen wollte, hörte ich meine Mutter von unten rufen: „Lupo, kommst du! Essen!"

Die Vorsuppe war wirklich gut. Ich schmeckte Koriander, Curry, Knoblauch, meine Zunge brannte wie Zunder. Mama Beauty und Horst grinsten mich über den Tisch hinweg an, als wollten sie mir zurufen: mit gutem Essen ist noch jeder verlorene Sohn zurück nach Hause gelockt worden.

Auch das Hühnerfrikassee war erstaunlich lecker. Ein dicker Pluspunkt für Horst. Bisher der erste! Das Hühnchen war fest, aber nicht zäh, das Gemüse in der Soße frisch wie gerade geerntet. Von der schleimigen Pampe, mit dem ich das Wort Frikassee immer verbunden hatte, war dieses Essen hier weit entfernt.

Zum Nachtisch gab es Vanilleeis mit heißen Himbeeren. Sollte das die Überraschung sein? Noch während ich darüber nachdachte kam Horst mit einer Flasche Rum aus der Küche und übergoss damit die Eiskreationen. Dann zog er ein Feuerzeug aus der Hosentasche und entzündete das Gemisch.

„Voilà! Heiße Liebe!"

Damit war alles gesagt. Stumm warteten wir bis die Flammen erloschen waren und löffelten unsere Eispokale leer. Anschließend holte Beauty weitere Flaschen mit Kräuterlikör, Marillenschnaps und anderem Fusel aus dem Wohnzimmerschrank, dazu kleine Gläschen und Untersetzer. Damit wurde die offizielle Verdauungsschnapsrunde eingeläutet, die bei meinen Eltern schon früher regelmäßig in kleine Gelage ausgeartet war.

Wir begannen mit Chantré, machten weiter mit Asbach Uralt, probierten Schierker Feuerstein und schleckerten Küstennebel.

Horst entspannte sich sichtlich, sein Scheitelhaar wurde unordentlich und fiel ihm in die Stirn, seine Augen wurden glasig. Auch ich spürte den leichten Schwindel, den der Alkohol verursachte und schob das noch halbvolle Glas zur Seite. Für heute hatte ich genug, und war schon dabei mich bei Horst für das gute Essen zu bedanken und mich zu verabschieden, als meine Mutter mich am Arm zurückhielt.

„Die Karten, Lupo!"

Mama Beauty legte ihren Arm um meine Schulter, wie sie es schon ewig nicht mehr getan hatte. Mit ihren grellrot geschminkten Lippen war sie ganz nah an meinem Ohr.

„Die Karten haben zu mir gesprochen!"

Sie lallte und hatte Mühe in ganzen Sätzen zu sprechen.

„Die Karten sagen, es ist Zeit, ich soll Wahrheit sprechen. Verstehst du! Endlich Wahrheit sprechen ...!"

Ich jedoch wollte jetzt nicht mit Beauty über Tarotkarten, die Zukunft und irgendwelche Wahrheiten debattieren, schon gar nicht wenn sie in diesem Zustand war. Was sollte bei einem solchen Gespräch auch herauskommen als oberflächliches Gesäusel? Mama Beauty jedoch sprach einfach weiter, während sie mich in den Flur hinaus schob, heraus aus Horsts Hörweite.

Ich zog mir währenddessen die Schuhe an und streifte meine Kapuzenjacke über.

„Dein Vater, dein langhaariger, verlotterter Vater, er ist vielleicht gar nicht dein Vater! Weißt du, kurz bevor ich ihn kennengelernt habe, habe ich einen anderen ..."

Ich wollte das nicht hören, und sagte es Beauty auch. Sie hatte kein Recht, dermaßen abfällig über ihren Ex-Mann, meinen Vater zu sprechen. Ja, er hatte uns sitzenlassen wegen einer anderen Frau, sicherlich hatte er meiner Mutter großes Leid damit angetan, aber das war noch lange kein Grund sich dermaßen abwertend über ihn zu äußern! Was ich über meinen Vater dachte musste sie schon mir selbst überlassen.

War ihr klar was sie mir antat, wenn sie so leichtfertig daher redete? Weshalb kam sie gerade heute mit so einem Mist? Etwa wegen der Tarot-Karten? Das war doch nicht ihr Ernst! Nicht alles konnte man mit Alkohol entschuldigen.

„Hast du noch deinen Bernstein ...?"

Ich ging an meiner Mutter vorbei und hinüber zur Küche, wo Horst an der Spüle stand und gerade mit dem Spülen der Trinkgläser begann. So langsam beschlich mich der Verdacht, dass Horst in diesem Haus der einzige war mit dem man noch ansatzweise vernünftig reden konnte.

„Deine Mutter übertreibt es mit den Karten. Manchmal kommt sie den ganzen Tag nicht aus ihrem Zimmer."

Ich lächelte gequält, bedankte mich noch einmal für das Mahl und verließ das Haus durch die offen stehende Tür des Wintergartens.

Wieder zu Hause hörte ich den Anrufbeantworter ab. Die einzige Nachricht stammte von meiner Mutter.

„Habe mir gerade noch mal dein Kartenbild angesehen, und du glaubst es nicht! Eine Karte fehlte. Muss wohl beim Lüften ... naja, auf jeden Fall musste ich eine neue Karte ... solche Botschaften soll man ja nicht am Telefon überbringen, aber ich habe die Karte mit dem kleinen, hockenden Skelett, dem mit den weit aufgerissenen Augenhöhlen gezogen. In der Kombination mit den anderen Karten bedeutet das leider, dass ..."

Mama Beautys Stimme wurde schleppender, immer tiefer, es knirschte und kraspelte im Gerät. Dann ein reißendes Geräusch, und danach Stille. Ich sah nach der Kassette, wollte sie herausnehmen, doch es war schon zu spät. Das Magnetband hatte sich um sämtliche Rollen und Spulen gewickelt, sich dabei hundertfach verdreht, war dabei verknickt, hatte sich verknotet und war an mindestens einer Stelle gerissen.

Wie beruhigend war es doch manchmal, wenn das Schicksal einem Entscheidungen abnahm! Niemals hätte ich es gewagt, einfach so die Stopptaste zu drücken.


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