24 Rückschau mit Himmelsblick
Der Tag war für mich gelaufen noch bevor er richtig begonnen hatte. Zwar erledigte ich meine Arbeiten, reparierte den Kopierer, schleppte Kartons und füllte Papier nach, gab Bestellungen auf und erfüllte Kundenwünsche, aber meine Gedanken waren die ganze Zeit über bei dem Brief, der Vorladung bei Pastor Lauenstein und der Frage was genau mich dort erwartete. Kurzzeitig dachte ich daran, einfach nicht hinzugehen. Dummerweise kannte ich jedoch jene Geschichten von Grubenhagener Bürgern, die sich einer Vorladung widersetzt hatten. Spätestens drei Tage später erhielten sie Besuch der drei schwarz gewandeten Brüder, und jeder wusste dass sie ihre „heiligen Zaunlatten" bei sich führten, elegante Gehstöcke mit silbernen Griffen und dem eingravierten Spruch „Der Herr sei mit dir!".
Kurz vor Feierabend rief Lauensteins Sekretärin an und teilte Hieronymus mit, dass Rebecca ihr Praktikum aus gesundheitlichen Gründen abbrechen müsse.
Zu Hause erwartete mich ein vollgequasselter Anrufbeantworter. Frau Scheck hatte zweimal angerufen, Pastor Lauenstein hatte durch die Leitung gedroht, meine Mutter lud mich erneut zum Essen ein, nun jedoch schon für Samstag, nicht erst für Sonntag! Das Allerschönste war jedoch Maras Stimme wieder einmal zu hören: „Scheiße, verwählt! Bild' dir bloß nichts ein!"
Selbst das Knallen des Hörers klang in meinen Ohren wie der sanfte Hauch eines warmen Sommerwindes. Der Anruf war der Beweis. Mara hatte mich noch nicht völlig vergessen.
Ich fand es nur fair, Frau Scheck endlich Entwarnung zu geben, da ich ja wusste wie sehr sie sich nach ihrer gewohnten Umgebung sehnte. Ob sie merkte, dass die Hirschtasse nicht mehr an ihrem Platz stand? Sie freute sich hörbar über meinen Anruf und kündigte ihre Rückkehr für den kommenden Morgen an. Auch eine Belohnung stellte sie mir in Aussicht.
Während ich mir eine Flasche Sinalco aus der Speisekammer holte, den Kronkorken abschnippte und einen kräftigen Schluck nahm, dachte ich an den Krypto-Club und wie Silva Mystica bei ihnen ankommen würde. Ich hatte es mir nicht verkneifen können, ihnen fünf kostenlose Ausgaben in die Clubzentrale zu schicken.
Entweder würden sie die Existenz eines Konkurrenzblattes ignorieren und so tun als wäre nichts geschehen, oder sie würden mir einen Sturm der Entrüstung und des Abscheus über den Harz schicken, mir den Anrufbeantworter mit Hassbotschaften füllen, mir bitterböse Briefe schreiben, oder, was noch viel schlimmer wäre, persönlich vorbeikommen und um ein klärendes Gespräch bitten. So waren die Zeiten, jeder diskutierte mit jedem über alles und jeden, auch wenn es eigentlich gar nichts zu diskutieren gab.
Ich fütterte Amanda, goss frisches Wasser in ihren Napf und öffnete anschließend das Küchenfenster. Dann zog ich mir einen Stuhl heran und blickte in den Abendhimmel, der sich im Westen in einem betörenden Orange zeigte, während im Osten, über den Bergen, schwere Wolken hingen. Die Luft roch nach Sommergewitter.
Die Ereignisse der letzten Tage schwirrten mir durch den Kopf. Maras Ansage, mich nicht mehr blicken zu lassen, die misslungene Wolfsexpedition, die erste Ausgabe meiner Zeitung, meine erste Begegnung mit einem leibhaftigen Spuk, dessen Vertreibung, die Offenbarung der Rebecca Lauenstein, ihr rachsüchtiger Vater, und nicht zuletzt Amanda, die mir von wer weiß wo zugelaufen war, und ganz offensichtlich über erstaunliche Fähigkeiten verfügte.
Die Themen für die zweite Silva Mystica lagen auf der Hand: Wunderkatze Amanda, Feuer-Scheck (wobei Rebeccas Bilder aus dem Inneren des Geistes spektakulär waren), und auch mit dem Riesenwolf sollte ich es vielleicht noch einmal versuchen, denn so weit ich wusste hatte ihn bisher noch niemand vor die Linse bekommen. Hatte ich noch vor wenigen Wochen noch darüber gelacht, hielt ich die Existenz eines solchen Geschöpfes inzwischen für durchaus möglich. Wenn Menschen nach ihrem Ableben zu ruhelosen Nachtgespenstern mutieren konnten, dann konnte es genau so gut den unbekannten Rotkäppchen-Monsterwolf geben.
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